BT-Drucksache 17/8605

Kundenfreundliche Bahn für alle

Vom 8. Februar 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8605
17. Wahlperiode 08. 02. 2012

Antrag
der Abgeordneten Caren Lay, Sabine Leidig, Katja Kipping, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen
Bockhahn, Roland Claus, Katrin Kunert, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch,
Thomas Lutze, Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert,
Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der Fraktion DIE LINKE.

Kundenfreundliche Bahn für alle

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Qualität der Dienstleistungsangebote der Deutschen Bahn AG (DB AG) für
Fahrgäste ist stark gesunken. Die einseitige und kurzfristige betriebswirtschaft-
liche Ausrichtung der DB AG hat notwendige Investitionen blockiert. Seit der
Bahnreform 1993/1994, dem Einstieg in die Privatisierung, wurde das Schie-
nennetz um 7 000 km gekappt, wurden Tausende Bahnhöfe und Schalter ge-
schlossen und die Zahl der Beschäftigten im Schienenverkehrssektor halbiert.
Vor allem ostdeutsche Städte sind häufig schlecht angebunden. Viele Ziele im
ländlichen Raum sind heute nicht mehr mit der Bahn erreichbar, während Mil-
liarden Euro in Prestigeprojekte wie Stuttgart 21 fließen. Nur rund 3 700 von
5 700 Bahnhöfen sind barrierefrei und auch bei den Zügen gibt es erhebliche
Defizite hinsichtlich der Barrierefreiheit. Schlechte Sicherheits- und Service-
standards sind die Folgen eines Fahrens auf Verschleiß. Belegschaftsabbau, Ar-
beitsintensivierung und ein schlechtes Betriebsklima wirken sich auf Beschäf-
tige und Fahrgäste gleichermaßen negativ aus. Unabgestimmte Fahrpläne und
unterschiedliche Tarifsysteme sind weitere Ergebnisse der Privatisierungspoli-
tik im Eisenbahnverkehr, die den Fahrgästen zu schaffen machen. Zugleich sind
die Preise in die Höhe geschnellt. Für viele Menschen ist Bahnfahren unbezahl-
bar geworden. Obwohl ein Börsengang – zumindest bis auf Weiteres – abgesagt
wurde, räumt die DB AG weiterhin der Gewinnmaximierung Vorrang vor der
Kundenfreundlichkeit ein. Aktuell plant die DB AG unter anderem einen weite-
ren Abbau von rund 700 Stellen im Servicebereich der Reisezentren bis 2016
(Frankfurter Rundschau, 7. November 2011).

Mobilität ist eine wichtige Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben. Das Ziel muss eine kundenfreundliche Bahn für alle sein. Auch ökolo-
gisch ist die Verlagerung von Verkehr auf die Schiene dringend geboten. Doch
Ansätze für eine solche Wende hin zur Schiene sind lediglich in Teilen des

Schienenpersonennahverkehrs erkennbar. Im Schienenpersonenfernverkehr gibt
es sogar die entgegengesetzte Tendenz: Allein von 1995 bis 2009 ist die Zahl der
Fahrgäste im Fernverkehr um 15 Prozent zurückgegangen (Verkehr in Zahlen
2010/2011). Es besteht somit ein besonderer Handlungsbedarf, die Bahn wieder
am Gemeinwohl zu orientieren und störungsfreies Bahnfahren für alle zu er-
möglichen. Dazu muss die Bundesregierung ihrem Auftrag nach Artikel 87e des
Grundgesetzes nachkommen: Der Bund ist danach verpflichtet, beim Ausbau

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und Erhalt des Schienennetzes sowie bei den Bahnverkehrsangeboten dem Wohl
der Allgemeinheit Rechnung zu tragen. Außerdem hat die Bundesregierung
durch ihre Stellung im Aufsichtsrat des – noch – privaten, aber sich zu 100 Pro-
zent in Bundeseigentum befindlichen Unternehmens mannigfaltige Einfluss-
möglichkeiten auf die kundenfreundliche Ausgestaltung des Bahnverkehrs.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Konzept für eine kundenfreundliche Bahn vorzulegen und dabei Folgendes
zu berücksichtigen:

1. Kundenfreundliches Angebot von Bahnverbindungen und gute Erreichbar-
keit der Bahn für alle:

● systematischer Netzausbau in Hinblick auf Kundennähe, dabei insbeson-
dere Erschließung in der Fläche;

● Entwicklung eines integralen Taktfahrplans (ITF) für den gesamten
Schienenbereich und Organisation des gesamten Schienenpersonenver-
kehrs auf Basis eines solchen ITF, womit alle Städte im Schienenfernver-
kehr regelmäßig im Grundtakt von mindestens einer Stunde angefahren
werden und Umsteigemöglichkeiten optimal verknüpft sind;

● Erarbeitung eines entsprechenden gemeinsamen Konzepts mit den Bun-
desländern.

2. Erschwingliche Preise und ein übersichtliches Tarifsystem:

● deutliche Absenkung des Bahnpreisniveaus und ein erschwingliches An-
gebot bei den regulären Preisen statt nur bei befristeten und kontingen-
tierten Sonderangeboten;

● Einführung eines Sozialtickets (= BahnCard 50 für 20 Euro);

● ermäßigte Mehrwertsteuer im Schienenpersonenfernverkehr;

● ausreichende und transparente Verfügbarkeit von Sparpreisen gewähr-
leisten;

● Verzicht auf überhöhte Zusatzkosten für Reservierungen, Ticketzustel-
lungen und Umbuchungen.

3. Orientierung auf Kundenbindung:

● Senkung der Preise für die beiden Mobilitätskarten BahnCard 50 und
BahnCard 100 auf ein Niveau, bei dem eine massive Steigerung der Zahl
derjenigen, die diese Karten nutzen, erreicht wird;

● familien- und kinderfreundliche Rabatte bei diesen Mobilitätskarten;

● kostenlose Fahrten für Kinder bis 6 Jahre und kostenlose Mitnahme
durch Erwachsene für Kinder bis 14 Jahre erhalten, Reservierungsmög-
lichkeiten für Kinderabteile per Internet beibehalten.

4. Pünktlichkeit und Anschlusssicherheit:

● als Zielvorgaben formulieren: Pünktlichkeit bei 95 Prozent aller Fahrten
und vermittelte Anschlüsse bei 97 Prozent;

● die Mindestentschädigung für Fahrgäste bei Verspätungen von 30 bis
59 Minuten auf 25 Prozent und bei Verspätungen ab 60 Minuten auf
50 Prozent des vollen Fahrpreises gesetzlich festlegen;

● bei der Regelung der Entschädigungszahlungen die durchgehende Rei-
sekette vom tatsächlichen Abfahrtsort bis zum tatsächlichen Zielort

der Fahrgäste berücksichtigen und Schadensersatz für entstandene (Fol-
ge-)Schäden gewähren;

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● bei Baumaßnahmen Streckensperrungen und Schienenersatzverkehr so
gering wie möglich halten.

5. Kundengerechter Fahrkartenverkauf:

● Ticketverkauf am Schalter ausbauen, statt Schalter zu schließen und
Schalterkundschaft durch teurere Tickets zu benachteiligen;

● Aufschläge wie beispielsweise für einen ICE müssen jederzeit problem-
los und ohne Zusatzkosten im Zug nachgelöst werden können;

● Fahrkartenautomaten müssen bedienungsfreundlich sein.

6. Sicherheit, Service und Barrierefreiheit für alle:

● regelmäßige Wartung der strategischen Bauteile auf höchstem Sicher-
heitsniveau;

● optimale Wartung der Heizungen und Klimaanlagen;

● Sicherung der Bahnsteige;

● Herstellung vollständiger Barrierefreiheit innerhalb von zehn Jahren im
Schienenverkehr unter anderem durch Servicepersonal, Aufzüge, Ram-
pen, Gleisübergänge, Breite von Bahnsteigen, taktile Rillen, Lautspre-
cheransagen, Einsatz und Entwicklung von fahrzeuggebundenen und von
den Betroffenen weitgehend autonom zu bedienenden Einstiegshilfen;

● Einführung einer Sitzplatzgarantie, bei möglicher Überfüllung wahlweise
Einsatz von Ausgleichszügen oder ein Sitzplatz in der freien 1. Klasse
zum Preis der 2. Klasse;

● deutlich mehr Kinderabteile und mehr Platz für Rollstuhlfahrende, Fahr-
räder und Gepäck;

● Fahrradmitnahme auch im ICE;

● barrierefreie sanitäre Anlagen auf den Bahnhöfen und in Zügen in hygie-
nischem und gepflegtem Zustand.

7. Demokratische Interessenvertretung und Aufsicht:

● Fahrgäste und Umwelt- sowie Behindertenorganisationen über Verbände
und Beiräte in alle die Kunden betreffenden Entscheidungen einbeziehen;

● Zusammensetzung des Aufsichtsrats der Deutsche Bahn AG verändern,
so dass Fahrgastverbände und Umweltorganisationen vertreten sind.

Berlin, den 8. Februar 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Frühere Bundesregierungen und auch die aktuelle dokumentierten mehrfach,
dass sie aufgrund des 100-prozentigen Eigentums des Bundes bei der DB AG
durchaus bereit und in der Lage sind, direkten Einfluss auf die Geschäftstätig-
keit des Unternehmens zu nehmen. So war es eine explizite Entscheidung der
damaligen Bundesregierung, Hartmut Mehdorn im Jahr 1999 als neuen Bahn-
chef zu benennen. 2009 war es wiederum eine Entscheidung der Bundesregie-
rung, Hartmut Mehdorn zum Rücktritt zu bewegen und Dr. Rüdiger Grube als

dessen Nachfolger zu bestimmen. Doch die Einflussmöglichkeiten beschränken

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sich nicht nur auf die Personalpolitik. So hatte die wiedergewählte Bundes-
regierung im Herbst 2002 sogar im Koalitionsvertrag zwischen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausdrücklich das neue Bahnpreissystem PEP
unterstützt, das dann jedoch ein halbes Jahr später spektakulär zurückgenom-
men werden musste.

Die Bahnpreise sind seit 2003 einschließlich der am 11. Dezember 2011 in
Kraft getretenen Erhöhungen laut Angaben der DB AG um über 31 Prozent
gestiegen. Das ist bereits mehr als das Doppelte der Inflationsrate im selben
Zeitraum. Bereinigt um die Inflation sind es auch nach offiziellen Angaben real
gut 15 Prozent. Da die Preissteigerungen nicht allein über direkte Erhöhungen,
sondern beispielsweise auch durch den Zwang zum Umsteigen auf teurere
Züge erfolgten, dürfte das Zugfahren in diesen acht Jahren real um gut 20 Pro-
zent teurer geworden sein. Bahnfahren muss auch ohne zeitliche Bindung an
Spezialangebote für alle Menschen erschwinglich sein. Im Sinne des Gemein-
wohls muss die Bundesregierung daher ein kundenverträgliches Preisniveau
sicherstellen, zum Beispiel durch Preisobergrenzen oder Kilometerpreise.

Um finanziell benachteiligten Menschen die Teilnahme am überregionalen
Fernverkehr zu eröffnen, ist ein Sozialticket der DB AG einzuführen. Es ist un-
bürokratisch gegen Vorlage eines Transferleistungsbescheids auszustellen.

Vielfahrerinnen und Vielfahrer brauchen geeignete Angebote. In der Schweiz
haben attraktive Preise für die beiden Mobilitätskarten Halbtaxticket (entspricht
weitgehend der BahnCard 50) und Generalabonnement (entspricht der Bahn-
Card 100) zu einer weiten Verbreitung geführt. Bei der Berücksichtigung der
unterschiedlichen Bevölkerungszahl werden die Mobilitätskarten in der Schweiz
gut zehn Mal mehr gekauft als die vergleichbaren Produkte der DB AG.

Selbst bedienungsfreundliche Fahrkartenautomaten oder das Internet können
den Verkauf am Schalter nicht ersetzen. Denn nicht für jede Zugverbindung
kann die Karte am Automaten erworben oder der Preis angezeigt werden. Viele
Menschen fühlen sich von der Automatentechnik überfordert. Nicht alle ver-
fügen über einen Internetzugang und viele, die einen Zugang haben, wünschen
nicht, auf diesem Weg Tickets zu buchen. Millionen Fahrgäste bevorzugen die
persönliche Beratung, was durch die demografische Entwicklung künftig noch
mehr der Fall sein wird. Aus all diesen Gründen muss der Verkauf am Schalter
personell gestärkt werden, statt Kapazitäten abzubauen.

Verspätungen und verpasste Anschlusszüge sind größtenteils hausgemacht und
vermeidbar. So sind Verspätungen durch Weichen- oder Signalstörungen oft
durch mangelnde technische Wartung bedingt. Die auf den Schienenstrecken
festgestellten Mängel müssen behoben und beispielsweise Langsamfahrstellen
beseitigt werden, statt Fahrzeiten zu verlängern und Langsamfahrstellen in den
Fahrplan einzuarbeiten. Letzteres wird bisher gelegentlich dazu genutzt, Neu-
bauprojekte mit einem Milliarden-Euro-Investitionsaufwand zu begründen. So
benötigte der ICE auf der Strecke Stuttgart–München im Herbst 2011 144 Mi-
nuten. Doch 1995 lag die Fahrtzeit bei nur 121 Minuten. Die derzeit im Bau
befindliche Neubaustrecke über die Schwäbische Alb wird mit einer Fahrzeit-
verkürzung zwischen Stuttgart und Ulm auf 109 Minuten begründet. Im Ver-
gleich zu 144 Minuten mag die Beschleunigung beeindrucken. Im Vergleich zu
121 Minuten wirkt der Aufwand von 4 bis real 7 Mrd. Euro Investitionskosten
jedoch völlig überzogen.

Mangelnde Sicherheit und unzureichender Service sind ebenfalls Folgen der
gefährlichen Sparpolitik der DB AG. Wartungsarbeiten wurden und werden
systematisch abgebaut. Die Entgleisung des ICE bei Eschede am 3. Juni 1998
war eine Folge unzureichend geprüfter, ungeeigneter Räder. Der Bruch einer
ICE-Achse am 8. Juli 2008 in Köln, der glücklicherweise in vollem Umfang

erst bei einer Langsamfahrt erfolgte, hätte laut Eisenbahn-Bundesamt unter

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anderen Bedingungen „eine Eisenbahnkatastrophe wie in Eschede“ zur Folge
haben können. Seit 2000 sind dem Eisenbahn-Bundesamt 24 Radsatzwellen-
brüche bekannt geworden (Bundestagsdrucksache 17/702, zu Frage 105).

Auch Barrierefreiheit ist immer noch die Ausnahme im Bahnverkehr. Sinnvoll
ist hier grundsätzlich der Einsatz einer Technik, die der Würde der Betroffenen
gerecht wird. Notwendig sind daher insbesondere fahrzeuggebundene und von
den Betroffenen weitgehend autonom zu bedienende Einstiegshilfen.

Selbst Fahrradstellplätze im ICE sind kein technisches Problem. Es sind politi-
sche Entscheidungen. Die DB AG hat entschieden, Kindersitze herauszureißen,
um Reinigungskosten zu sparen. Derzeit plant sie, die Grundreinigung von
sechs auf zehn Wochen zu strecken (Frankfurter Rundschau, 7. November
2011). Nötig ist ein Richtungswechsel hin zu Sicherheit und Service für alle.
Eine kundenfreundliche Bahn muss dabei zugleich eine beschäftigtenfreundli-
che Bahn sein.

Öffentliche Unternehmen unter demokratischer Kontrolle können den Bürger-
interessen grundsätzlich besser gerecht werden als einseitig auf Gewinnmaxi-
mierung ausgerichtete Privatunternehmen. In jedem Fall gilt: Fahrgastinteres-
sen müssen in wichtigen Gremien angemessen repräsentiert sein, um wirksam
in Unternehmensentscheidungen einzugehen.

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