BT-Drucksache 17/825

Geplante Härtefallregelung für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch

Vom 25. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/825
17. Wahlperiode 25. 02. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, Diana Golze, Jutta Krellmann, Kornelia Möller, Ingrid Remmers, Dr. Ilja
Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Geplante Härtefallregelung für das Zweite Buch Sozialgesetzbuch

Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung mit seinem Urteil zu
den Hartz-IV-Regelsätzen (Urteil des Ersten Senats vom 9. Februar 2010, BvL
1/09, BvL 3/09, BvL 4/09) aufgegeben, für unabweisbare, laufende, nicht nur
einmalige, besondere Bedarfe über den Pauschalbetrag des Regelsatzes hinaus
einen zusätzlichen Leistungsanspruch zu schaffen. Bis zur Schaffung dieses
Leistungsanspruchs hat der Gesetzgeber im Wege einer Härtefallregelung die
Lücke zur Deckung des lebensnotwendigen Existenzminimums in Form eines
Anspruchs auf Hilfeleistungen zur Deckung dieser besonderen Bedarfe zu
schließen. Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat sich
mit der Bundesagentur für Arbeit (BA) bereits auf eine Liste der Fälle ver-
ständigt, in denen Hartz-IV-Betroffene ab sofort bei den Jobcentern Sonderleis-
tungen geltend machen können. Die BA hat eine entsprechende Geschäftsan-
weisung erlassen (Geschäftsanweisung Nr. 08/10 vom 17. Februar 2010). Der
Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble, hat gleichzeitig ange-
kündigt, dass die Öffnungsklausel für besondere Bedarfe im Zweiten Buch
Sozialgesetzbuch (SGB II) bereits bis zum Sommer 2010 gesetzlich verankert
werden soll.

Die nun getroffene Härtefallregelung fasst den Katalog der besonderen Bedarfe
sehr eng, so dass viele Fälle ausgeschlossen werden. Auch wenn das BMAS den
Katalog öffentlich als „nicht abschließend“ bezeichnet hat, steht zu befürchten,
dass die zu schaffende gesetzliche Regelung ähnlich restriktiv ausfallen wird
und viele Menschen ihre vorhandenen unabweisbaren, laufenden, nicht nur ein-
maligen, besonderen Bedarfe nach wie vor aus dem Regelsatz bestreiten und
mit einer Unterdeckung des Existenzminimums leben müssen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was gilt nach Auffassung des BMAS als Härtefall im Sinne des Urteils des
Bundesverfassungsgerichts, und welche Kriterien bzw. Erwägungen lagen

der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme bestimmter Fälle in den mit der BA ab-
gestimmten Katalog der Härtefälle zugrunde?

2. Nach welchen Erwägungen wurden laufende und wiederkehrende medizi-
nische Kosten bzw. Bedarfe wie die Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medika-
menten, die unterhalb der Höchstbelastungsgrenze bleiben, Fahrten zum
Arzt und medizinische Fußpflege nicht in den Katalog aufgenommen?

Drucksache 17/825 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Inwiefern kann die Bestreitung der genannten Posten aus dem Regelsatz
aus Sicht der Bundesregierung zur Unterdeckung des vom Bundesverfas-
sungsgericht als Grundrecht statuierten menschenwürdigen Existenzmini-
mums führen, und müssten diese folgerichtig über die Härtefallregelung
abgedeckt werden, bzw. wie sieht die Bundesregierung diese Bedarfe ge-
deckt?

4. Mit welcher Begründung wurde im Katalog der BA die Gewährung von
Unterstützung für Putz- und Haushaltshilfen auf Rollstuhlfahrer be-
schränkt, wo dieser besondere Bedarf doch auch bei anderen Personen-
gruppen aus dem Kreis der SGB-II-Beziehenden mit Behinderungen gege-
ben ist?

5. Ergeben sich nach Auffassung der Bundesregierung aus der Gewährung
von Unterstützung für Putz- und Haushaltshilfen für Rollstuhlfahrer und
möglicherweise auch aus anderen nach der Härtefallregelung zu gewähren-
den besonderen Bedarfen, Kollisionen mit dem § 21 Absatz 6 SGB II, nach
dem die Summe des insgesamt gezahlten Mehrbedarfs die Höhe der Regel-
leistung nicht übersteigen darf, und wie gedenkt die Bundesregierung
sicherzustellen, dass auch bei kostenträchtigen Sonderbedarfen das Exis-
tenzminimum nicht durch diese Deckelung gefährdet wird?

6. Warum wurden Brillen, Zahnersatz und orthopädische Schuhe nicht in den
Härtefallkatalog aufgenommen?

Rechtfertigt hier aus Sicht der Bundesregierung allein die nur periodische
Notwendigkeit der Neu- bzw. Wiederbeschaffung dieser medizinischen
Hilfsmittel eine Nichtaufnahme in den Katalog der Härtefälle?

7. Wie begründet sich, dass Lernmittel wie Schulbücher, Hefte und Geld für
Kopien sowie für schulische Aktivitäten und Schulspeisung nicht in dem
Katalog enthalten sind, und wie verträgt sich dies mit den Ankündigungen
der Koalition der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, mehr für Bildung
und Chancengleichheit von Kindern und Jugendlichen zu tun?

8. Wie verträgt sich die Beschränkung der Übernahme von Nachhilfekosten
auf eng begrenzte Einzelfälle mit diesem Versprechen?

Liegen der Entscheidung für eine solche restriktive Regelung Überlegun-
gen zugrunde, wie die Förderung bedürftiger Kinder an staatlichen Schulen
zeitnah und wirkungsvoll verbessert werden kann, und wie sehen diese
aus?

9. Welche Krankheiten fallen nach Auffassung der Bundesregierung unter
den § 21 Absatz 5 SGB II (Mehrbedarfszuschlag für krankheitsbedingte
kostenaufwändige Ernährung)?

Gehört Diabetes dazu, und wenn nein, warum nicht?

10. Können nach diesem Paragrafen auch Bedarfe nach besonderer Ernährung
bei Unverträglichkeiten bestimmter Lebensmittel, wie Laktose oder Fruk-
tose, die mit deutlich höheren Kosten für spezielle Nahrungsmittel einher-
gehen, geltend gemacht werden, und wenn nein, warum wurden solche
Fälle nicht in den Härtefallkatalog aufgenommen?

11. Warum wurden entgegen des ursprünglichen Plans der BA die Kosten für
Besuchsfahrten eines in Haft sitzenden Ehepartners wieder aus dem Kata-
log gestrichen?

12. Wer befindet nach welchen Kriterien darüber, ob in Umfang und Ausmaß
vergleichbare Fälle vorliegen, die ebenfalls unter die Härtefallklausel fal-
len, da der in der Geschäftsanweisung der BA enthaltene Katalog ebendort

als nicht abschließend bezeichnet wird?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/825

13. Rechnet die Bundesregierung wie die Präsidentin des Sozialgerichtstages,
Monika Paulat, mit einer Klagewelle, weil Hartz-IV-Beziehende einen ver-
meintlich berechtigten Anspruch, der nicht im Katalog von BMAS und BA
enthalten ist, vor Gericht einklagen?

Wenn nein, warum nicht?

Wenn ja, was will sie tun, um der auf die Gerichte zurollenden Klagewelle
Herr zu werden, ohne dabei die Rechtsmittel und Möglichkeiten zu ihrer
Ergreifung für Hartz-IV-Beziehende einzuschränken?

14. Bis wann will die Bundesregierung die Härtefallregelung auf eine gesetz-
liche Grundlage stellen, und wie will sie auf dem Wege dorthin die vom
BMAS als nicht abschließend bezeichnete Aufzählung der Härtefälle ver-
vollständigen?

Welche praktischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und/oder gericht-
lichen Entscheidungen werden in diese Weiterentwicklung einfließen?

15. Erwägt die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass es immer beson-
dere Fälle geben wird, die nicht gesetzlich kategorisiert worden sind, eine
offene gesetzliche Härtefallregelung zu schaffen, die zuvor nicht spezifi-
zierte besondere Bedarfe als Ermessensleistung ermöglicht?

Wenn nein, warum nicht?

16. Wird die Bundesregierung im Zuge der Schaffung einer gesetzlichen Här-
tefallregelung auch prüfen, ob bestimmte einmalige Bedarfe wie die Wie-
derbeschaffung großer Haushaltsgeräte oder der wiederkehrende Bedarf
nach Bekleidung, insbesondere bei Kindern, im Bedarfsfall wieder über zu-
sätzliche Leistungen gedeckt werden können?

Wenn nein, warum erachtet sie dies nicht für notwendig?

17. Wie charakterisiert die Bundesregierung die praktischen Erfahrungen von
Hilfebeziehenden und Behörden mit der bei der Einführung der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende erfolgten Integration der einmaligen Leistun-
gen als Pauschale in den Regelsatz, und welche politischen Schlussfolge-
rungen zieht sie daraus?

Berlin, den 25. Februar 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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