BT-Drucksache 17/8148

Tarifsystem stabilisieren

Vom 13. Dezember 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/8148
17. Wahlperiode 13. 12. 2011

Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Werner Dreibus,
Klaus Ernst, Katja Kipping, Cornelia Möhring, Jens Petermann, Yvonne Ploetz,
Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Tarifsystem stabilisieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Niedriglohnsektor weitet sich aus und die Tarifbindung geht zurück. Immer
mehr Beschäftigte müssen sich mit einem niedrigen Lohn begnügen, immer
weniger werden tariflich entlohnt. In Westdeutschland fielen 1998 noch 76 Pro-
zent der Beschäftigten unter einen Tarifvertrag, in Ostdeutschland waren es
63 Prozent. Im Jahr 2010 dagegen wurden im Westen nur noch 63 Prozent der
Beschäftigten von einem Tarifvertrag erfasst und in Ostdeutschland 50 Prozent.
Noch schlechter sieht es bei der Bindung an einen Flächentarifvertrag aus: Sie
beträgt 56 Prozent im Westen und 37 Prozent im Osten. In Deutschland arbeitet
mittlerweile mehr als jeder fünfte Beschäftigte im Niedriglohnsektor. Es be-
steht dringender Handlungsbedarf.

Die Ursachen für die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Erosion des
Tarifvertragssystems sind vielfältig. Auf politischer und institutioneller Ebene
sind vor allen Dingen die in den vergangenen Jahren betriebene Deregulierung
des Arbeitsmarktes, die Ausweitung von prekären Beschäftigungsformen und
der Rückgang der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge zentral.
Weitere Gründe sind die zum Teil daraus resultierende Erosion der Organisa-
tions- und Verhandlungsmacht der Gewerkschaften sowie die Tarifflucht auf
Seiten der Arbeitgeber.

Es ist notwendig, als untere Haltelinie für das Entlohnungsgefüge einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen und darüber hinaus
das Tarifvertragssystem auf gesetzlichem Wege zu stabilisieren, indem die All-
gemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen erleichtert wird. Es muss ver-
hindert werden, dass die Löhne weiter sinken und das Lohnspektrum nach un-
ten ausfranst. Die Entlohnungsbedingungen der Beschäftigten müssen verbes-
sert werden. Dies ist auch erforderlich, um die Binnennachfrage zu stärken.

Deutschland darf nicht länger auf Lohndumping und niedrige Löhne setzen.
Angesichts der Eurokrise und der Gefahr einer Krise in der Realwirtschaft müs-
sen die Löhne steigen, um Kaufkraft und private Nachfrage zu ermöglichen.
Der Gesetzgeber muss hier einen Beitrag zur Stabilisierung leisten. Wie dies
gelingen kann, zeigen andere europäische Staaten. Nicht nur Mindestlöhne sind
üblich, sondern auch das Instrument der Allgemeinverbindlichkeit ist häufig
weit verbreitet.

Drucksache 17/8148 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Die Strategie der Bundesregierung, auf einzelne Branchenmindestlöhne zu set-
zen, ist demgegenüber völlig unzureichend. Dadurch entsteht lediglich ein un-
übersichtlicher Flickenteppich von verschiedenen Mindestlöhnen mit vielen
weißen Flecken. Stattdessen ist es erforderlich, einen einheitlichen Mindest-
lohn für alle Branchen einzuführen und gleichzeitig die gesetzlichen Regelun-
gen zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu verbessern, um
auch über den Mindestlohn hinaus das gesamte Tarifgefüge zu konsolidieren.
Hierzu ist es notwendig, das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) auf alle
Branchen auszuweiten, das Verfahren verbindlicher zu gestalten und eine Pra-
xis zu etablieren, nach der auch nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz kom-
plette Entgelttabellen für allgemeinverbindlich erklärt werden und nicht ledig-
lich die unteren Lohngruppen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich an folgenden Eckpunkten orien-
tiert:

a) Als untere Haltelinie für das Entlohnungsgefüge in Deutschland wird ein
flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn eingeführt.

b) Der Anwendungsbereich des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes wird auf
alle Branchen ausgeweitet.

c) Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wird dergestalt reformiert, dass das
Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung von Entgelttarifverträgen
erleichtert wird. Zu diesem Zweck sind Tarifverträge vom Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales für allgemeinverbindlich zu erklären,
wenn sie das Kriterium der Repräsentativität erfüllen. Bei der Feststellung
der Repräsentativität werden die Kriterien herangezogen, die in § 7 Ab-
satz 2 AEntG definiert sind. Tarifverträge, die höhere Entgelte beinhalten,
bleiben weiterhin gültig.

d) Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz wird dahingehend geändert, dass auch
Tarifverträge mit lediglich regionaler Reichweite für allgemeinverbind-
lich für die jeweilige Region oder darüber hinaus erklärt werden können;

2. die Praxis bei den Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Arbeitneh-
mer-Entsendegesetz dahingehend zu ändern, dass in der Regel komplette
Entgelttabellen für allgemeinverbindlich erklärt werden. Entgeltgruppen,
deren Entgelthöhe unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns liegt, sind hin-
sichtlich des Entgeltes unwirksam. Als Branchenmindestlohn gilt das Ent-
gelt, das in den Entgelttabellen als erstes oberhalb des gesetzlichen Mindest-
lohns liegt.

Berlin, den 13. Dezember 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Da mittlerweile bereits 6,8 Millionen Menschen gezwungen sind, zu Löhnen
unterhalb der Niedriglohnschwelle zu arbeiten, muss endlich ein gesetzlicher
Mindestlohn eingeführt werden. Dadurch wird das Entlohnungsgefüge vor
einem weiteren Abrutschen geschützt.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/8148

Gleichzeitig müssen das Tarifsystem stabilisiert und eine weitere Erosion der
Tarifbindung gestoppt werden. Derzeit sind in Deutschland noch lediglich
1,5 Prozent der Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz für allgemeinver-
bindlich erklärt. Anfang der 90er-Jahre waren es noch über 5 Prozent. Nur vier
Branchen werden momentan auf regionaler Ebene von einem allgemeinver-
bindlichen Entgelttarifvertrag abgedeckt. Eine gewisse Gegenentwicklung ist
im Bereich der Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Arbeitnehmer-
Entsendegesetz zu erkennen. Auf diesem Wege sind mittlerweile zehn Bran-
chenmindestlöhne eingeführt worden. Hier werden bisher allerdings in der Re-
gel lediglich Mindestlöhne festgesetzt und nicht komplette Entgelttabellen für
allgemeinverbindlich erklärt.

Die niedrigen Anteile von Allgemeinverbindlicherklärungen sind vor allem auf
die sehr restriktive Haltung der Spitzenverbände der Arbeitgeber zurückzufüh-
ren. Da diese im für die Allgemeinverbindlicherklärungen zuständigen Tarif-
ausschuss ein Vetorecht innehaben, werden kaum mehr Tarifverträge nach dem
Tarifvertragsgesetz für allgemeinverbindlich erklärt. Diese Praxis richtet sich
zum Teil auch gegen die Wünsche der eigenen sektoralen Mitgliedsverbände.
In anderen Fällen verweigern aber auch die Branchenverbände eine Allgemein-
verbindlicherklärung ihrer Entgelttarifverträge. Als weiteres Hindernis ist das
zu hohe Quorum von 50 Prozent zu nennen, das derzeit für eine Allgemeinver-
bindlicherklärung nach dem Tarifvertragsgesetz vorgeschrieben ist und vom
Bundesministerium für Arbeit und Soziales auch auf das Arbeitnehmer-Entsen-
degesetz angewandt wird. Dieses Quorum besagt, dass die tarifgebundenen Ar-
beitgeber mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ei-
ner Branche beschäftigen müssen. Hinzu kommt als Problem, dass immer mehr
Arbeitgeber nur noch eine sogenannte OT-Mitgliedschaft (OT = ohne Tarifbin-
dung) bei ihrem Arbeitgeberverband haben.

Angesichts der Erosion der Tarifbindung ist es geboten, das Verfahren der
Allgemeinverbindlicherklärung zu erleichtern. Hierbei bietet sich vor allem das
Verfahren nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz an, da auf diesem Wege im
Gegensatz zum Tarifvertragsgesetz auch entsandte Beschäftigte erfasst werden.
In der Praxis werden derzeit allerdings lediglich nach dem Tarifvertragsgesetz
komplette Entgelttabellen für allgemeinverbindlich erklärt. Da dies hinsichtlich
des Ziels einer Stabilisierung des Tarifvertragssystems von Vorteil ist, muss
diese Praxis auf die Allgemeinverbindlicherklärung im Rahmen des Arbeitneh-
mer-Entsendegesetzes ausgedehnt und zur Regel werden.

Darüber hinaus müssen das Arbeitnehmer-Entsendegesetz auf alle Branchen
ausgeweitet und das Verfahren verbindlicher gestaltet werden. Um die Allge-
meinverbindlicherklärung unabhängig vom politischen Willen der jeweiligen
Arbeitsministerin oder des jeweiligen Arbeitsministers und auch unabhängig
von der Position der Spitzen- oder Fachverbände der Arbeitgeber zu erleich-
tern, wird das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verpflichtet, Tarif-
verträge automatisch für allgemeinverbindlich zu erklären, wenn gewisse Re-
präsentativitätsanforderungen erfüllt sind. Damit entfällt das bisherige Veto-
recht der Arbeitgeber aber auch das des Bundesarbeitsministeriums. Vorausset-
zung für die Allgemeinverbindlicherklärung ist dann lediglich, dass nur
Entgelte oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns für allgemeinverbindlich er-
klärt werden dürfen und der Tarifvertrag den Repräsentativitätsanforderungen
entspricht. Ein Tarifvertrag gilt als repräsentativ, wenn entsprechend der Rege-
lung in § 7 Absatz 2 AEntG im Vergleich zu anderen Tarifverträgen der Bran-
che unter seinen Geltungsbereich zum einen die höhere Zahl von Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern, die bei den jeweils tarifgebundenen Arbeitgebern
beschäftigt sind, fallen und zum anderen die größere Zahl von Mitgliedern der
Gewerkschaft, die den Tarifvertrag geschlossen hat. Lohndumping oder Miss-

brauch des Instruments der Allgemeinverbindlicherklärung wird dadurch ver-

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hindert, dass der gesetzliche Mindestlohn die untere Grenze bildet und Tarif-
verträge, die höhere Entgelte beinhalten, weiterhin ihre Gültigkeit behalten.

Andere europäische Staaten machen vor, wie durch eine hohe Verbreitung von
Allgemeinverbindlicherklärungen das Tarifvertragssystem stabilisiert werden
kann.

Auf diesem Wege ist auch ohne einen sehr hohen Organisationsgrad, wie in
Skandinavien, eine hohe Tarifbindung möglich. Dies zeigt das Beispiel Frank-
reichs, wo trotz eines vergleichsweise niedrigen Organisationsgrades von acht
Prozent mehr als 90 Prozent der Beschäftigten der Tarifbindung unterliegen.
Auch in Belgien, den Niederlanden, Finnland, Portugal und Spanien ist die All-
gemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen weit verbreitet. In Deutschland
dagegen nicht, weswegen die Tarifbindung hier im europäischen Vergleich
auch nur im Mittelfeld liegt. 20 Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben
zudem einen gesetzlichen Mindestlohn, während die deutsche Bundesregierung
sich dem immer noch verweigert.
Antrag
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, Dr. Marti...
Tarifsystem stabilisieren

Der Bundestag wolle beschließen:
I.Der Deutsche Bundestag stellt fest:
II.Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
1. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sich an folgenden Eckpunkten orientiert:
2. die Praxis bei den Allgemeinverbindlicherklärungen nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz dahing...

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