BT-Drucksache 17/7889

Teilhabesicherungsgesetz vorlegen

Vom 24. November 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7889
17. Wahlperiode 24. 11. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Agnes Alpers,
Dr. Dietmar Bartsch, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Annette Groth,
Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Thomas Lutze,
Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer,
Kersten Steinke, Dr. Kirsten Tackmann, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Katrin Werner, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Teilhabesicherungsgesetz vorlegen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Menschen mit Behinderungen sind fester Bestandteil der Gesellschaft. Sie
haben die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen auch. Im realen Leben
zeigen sich aber vielfältige Formen struktureller Diskriminierung: Menschen
mit Behinderungen und/oder chronischen Erkrankungen werden an der gleich-
berechtigten Teilhabe – den gleichen Wahlmöglichkeiten – gehindert. Sie stehen
beispielsweise vor für sie unüberwindbaren Barrieren unterschiedlichster Art,
unterliegen einem ungleich höheren Armutsrisiko, sind häufiger erwerbslos
oder können häufig ihren Wohnort nicht frei bestimmen.

Oft werden Bedarfe nicht anerkannt, Leistungen nicht gewährt und Heimunter-
bringungen gegen den Willen der Betroffenen angeordnet beziehungsweise auf-
rechterhalten. Probleme sind einerseits die auf verschiedene Sozialgesetzbücher
verteilten Ansprüche und die damit verbundenen „Verschiebebahnhöfe“ in der
Leistungserbringung. Andererseits unterliegen die meisten Leistungen insbe-
sondere dem Prinzip der Nachrangigkeit und sind somit an Bedürftigkeitsprü-
fungen gekoppelt. Bevor Leistungen gewährt werden, werden Einkommen und
Vermögen der Antragstellerinnen und Antragsteller sowie ihrer Angehörigen bis
auf festgelegte Grenzbeträge herangezogen. Damit wird eine Behinderung zum
Armutsrisiko bzw. führt dauerhaft zu einem Leben am Rande des Existenzmini-
mums. Diese Problematik ist den Mitgliedern des Deutschen Bundestages auch
durch zahlreiche Petitionen, Briefe und Anfragen von Betroffenen bestens be-
kannt.

Die umfassende und wirksame Einbeziehung in alle wesentlichen gesellschaft-
lichen Aktivitäten wird Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Er-
krankungen noch viel zu oft verwehrt. Es geht dabei sowohl um die Zugangsteil-

habe als auch um die Mitwirkungsteilhabe. Letztere verlangt auch die Stärkung
von Empowerment (Selbstbefähigung) der Menschen.

Die seit dem 26. März 2009 für die Bundesrepublik Deutschland rechtsverbind-
liche UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK)
ist eine Selbstverpflichtung von Bund, Ländern und der gesamten Gesellschaft,
das Leben von Menschen mit und ohne Behinderungen positiv zu verändern:
mehr Teilhabe und freie Persönlichkeitsentfaltung durch Schaffung barriere-

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und diskriminierungsfreier Verhältnisse sowie das Verständnis von Vielfalt als
Bereicherung. Es geht dabei nicht um Minderheitenschutz, sondern um die
Humanisierung der Gesamtgesellschaft. Diese Konvention verlangt einen Wan-
del des Bewusstseins (Artikel 8 BRK) und des Handelns der gesamten Gesell-
schaft, insbesondere der politisch Verantwortlichen und der öffentlichen Verwal-
tungen. Sie nimmt wiederholt Bezug auf die Garantie der Menschenwürde und
leitet daraus Forderungen nach sozialer Inklusion und voller Teilhabe ab. So
erkennt sie das Recht aller Menschen mit Behinderungen auf volle Einbe-
ziehung in die Gemeinschaft und die Teilhabe an der Gemeinschaft (Artikel 3,
19 und 28 BRK) sowie den Anspruch auf persönliche Assistenz an.

Benachteiligungen und Diskriminierungen von Menschen mit Beeinträchtigun-
gen sind unvereinbar mit der Konvention. Für den Sozialstaat bedeutet das, dass
die Sozialgesetzgebung auf die sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher
Regelungskomplexe ergebenden (mittelbar) diskriminierenden Wirkungen hin-
terfragt werden muss. Insofern besteht für die Sozialgesetzgebung dringender
Handlungsbedarf, sowohl normativ in der Auseinandersetzung um einen ange-
messenen Teilhabebegriff als auch legislativ hinsichtlich der Überprüfung ge-
setzlicher Vorgaben.

Die Schaffung diskriminierungsfreier Verhältnisse und die Ermöglichung und Si-
cherung der vollen Teilhabe von allen Menschen mit Beeinträchtigungen bedeu-
tet, sie in die Lage zu versetzen, ihr Leben so zu gestalten, wie es Menschen ohne
Behinderungen mit ähnlichen Lebensumständen können. Dafür müssen neue
Barrieren vermieden, bestehende Barrieren beseitigt, eine sowohl sozial als auch
inklusiv ausgestaltete Infrastruktur aufgebaut (zum Beispiel Kindertagesstätten,
Bildungseinrichtungen oder Assistenzgenossenschaften) und die dann noch be-
stehenden behinderungsbedingten Benachteiligungen ausgeglichen werden.

Für die Ermöglichung voller Teilhabe sind einkommens- und vermögensunab-
hängig ausgestaltete Leistungen erforderlich. Im Zentrum dieser Leistungen
sollte bedarfsgerechte persönliche Assistenz in allen Lebenslagen, -phasen und
gesellschaftlichen Bereichen stehen.

Seit dem 4. Mai 2011 liegt ein Entwurf für ein Gesetz zur Sozialen Teilhabe
(GST) des Forums behinderter Juristinnen und Juristen (FbJJ) vor, der lange Zeit
innerhalb der Behindertenbewegung beraten wurde und auch weiter diskutiert
werden soll. Dieser Vorschlag wird vom Deutschen Bundestag begrüßt und im
Sinne der Forderung der selbstbestimmten Behindertenbewegung „nichts über
uns ohne uns“ in die Debatte um die Verwirklichung voller Teilhabe von Men-
schen mit Behinderungen einbezogen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bis spätestens Ende des Jahres 2012 einen Gesetzentwurf für ein Teilhabesiche-
rungsgesetz (ThSG) vorzulegen, welches die folgenden wesentlichen Eckpunkte
umfasst:

1. Ziel und Inhalt

Ziel dieses Gesetzes muss – entsprechend den Vorgaben der BRK – die Gewähr-
leistung der vollen und wirksamen Teilhabe für Menschen mit Behinderungen
durch die Errichtung einer flächendeckenden, sozialen, inklusiv ausgestalteten
Infrastruktur und durch die bedarfsgerechten Ausgleiche behinderungsbedingter
Nachteile sein. Parallel dazu hat die Schaffung umfassender Barrierefreiheit in
allen gesellschaftlichen Bereichen zu erfolgen.

2. Gesetzliche Verankerung und neuer Behinderungsbegriff
Der Behinderungsbegriff ist im Neunten Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX)
sowie im Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) gemäß den Kriterien der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7889

Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Ge-
sundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Artikel 1 Satz 2 der
UN-BRK zu fassen: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen,
die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen
haben, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren ihre volle und
wirksame Teilhabe gleichberechtigt mit anderen an der Gesellschaft behindern
können.“ Dies schließt pflegebedürftige Menschen (im Sinne des SGB XI) so-
wie einen großen Teil der Menschen mit chronischen Erkrankungen (entspre-
chend den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses) ein.

Die gesetzliche Verankerung der Regelungen des Teilhabesicherungsgesetzes
sollte im SGB IX erfolgen. Die Normen zur Eingliederungshilfe sind dazu aus
dem SGB XII herauszulösen, den modernen Anforderungen der BRK anzupas-
sen und ins SGB IX zu überführen.

Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist inklusiv auszurichten. Die Verant-
wortlichkeit für die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen ist bei der Kin-
der- und Jugendhilfe im SGB VIII anzusiedeln (große Lösung).

Die Schnittstellenprobleme zu anderen Teilen des Sozialgesetzbuches, zum Bei-
spiel zum SGB V, SGB VII und SGB XI, sind im Sinne der Leistungsberechtig-
ten praktikabel zu lösen. Dafür muss unter anderem das SGB V sicherstellen,
dass die notwendigen Leistungen sowie Hilfsmittel umfassend bereitgestellt
werden und das SGB XI teilhabesichernd ausgebaut wird. Leistungen zur Teil-
habe und Leistungen zur Pflege sind gleichrangig und ergänzen sich gegenseitig.

3. Anspruchsberechtigte

Grundsätzlich sind vor dem Hintergrund der BRK den Menschen, die unter die
Definition des Artikels 1 Satz 2 BRK fallen, das Recht auf volle und wirksame
Teilhabe und somit der Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile im erforder-
lichen Umfang zu garantieren.

Die Leistungen sind personen- und nicht ortsgebunden. Die Teilhabeansprüche
von Menschen mit Behinderung haben das Geschlecht, den Migrationshinter-
grund und die sexuelle Vielfalt der Betroffenen ohne Benachteiligung zu berück-
sichtigen.

Das Finalitätsprinzip ist konsequent anzuwenden: Der Status ist entscheidend,
nicht Art und Ursache einer Behinderung.

4. Bundeseinheitliche Anspruchsfeststellung und Kriterien der Bedarfsermitt-
lung

Das Teilhabesicherungsgesetz sollte durch die Versorgungsämter oder neu zu
schaffende Teilhabeämter ausgeführt werden. Diese sollten die Ansprüche und
Bedarfe nach bundesweit einheitlichen Kriterien feststellen sowie die Teilhabe-
leistungen gewähren.

Für Streitfälle ist in den zuständigen Ämtern eine neutrale und unabhängige
Ombudsstelle einzurichten, die zunächst bei Verstößen gegen das Teilhabesiche-
rungsgesetz auch in eigener Befassung tätig werden kann. Die Ombudsstelle soll
fachübergreifend und kompetent besetzt werden, Behindertenvertretungen sind
in die Ombudsstelle zu integrieren. Mitglieder der Ombudsstelle dürfen in
keinem Beschäftigungsverhältnis zu dem Amt stehen, das Partei des Schieds-
verfahrens ist. Entscheidungen sollten einmütig getroffen werden.

Bei der Bedarfsermittlung sind die Kriterien der Internationalen Klassifikation
der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit als länder- und fachüber-
greifende einheitliche Sprache zur Beschreibung des funktionalen Gesundheits-

zustandes, der Behinderung, der sozialen Beeinträchtigung und der relevanten
Umgebungsfaktoren einer Person zu Grunde zu legen.

Drucksache 17/7889 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Diese nach gleichen Kriterien festgestellten Ansprüche werden fiskalisch in
Teilhabekonten dokumentiert und die Leistungserbringung nach dem jeweiligen
Sozialgesetzbuch organisiert.

5. Leistungserbringung

Für eine reibungslose und personenorientierte Leistungserbringung ist eine flä-
chendeckende, sozial und inklusiv ausgestaltete Infrastruktur vonnöten. Beste-
hende Strukturen und Leistungen werden in diesem Sinne weiter ausgebaut.

Öffentliche wie gemeinnützige Träger oder die zuständige Behörde verwalten
die einzurichtenden Teilhabekonten und entscheiden über die Erbringung der
Leistungen. Die Kontoverwaltung, Lohnabrechnung und Beratung müssen Teil
des Anspruchs sein.

6. Umfang der Leistungen

a) Im Zentrum der Teilhabeleistungen steht die bedarfsgerechte persönliche
Assistenz in jeder Lebenslage und -phase sowie in jedem gesellschaftlichen
Bereich.
Soweit notwendig, muss Rund-um-die-Uhr-Assistenz ermöglicht werden.

b) Die Teilhabeleistungen sind so zu bemessen, dass die Assistenzkräfte faire,
gute und gesunde Arbeitsbedingungen vorfinden und tarifliche Entlohnung
und Eingruppierung garantiert wird.
Um Lohndumping zu verhindern, ist als Untergrenze ein Mindestlohn festzu-
setzen. Ein Berufsbild Assistenz ist zu entwickeln und es sind Weiter- bezie-
hungsweise Fortbildungen nach bundesweit einheitlichen Standards zu er-
möglichen.

c) Teilhabeleistungen können sich zusammensetzen aus einer Pauschale und/
oder aus Personal- und Sachkosten. Die beiden letzteren müssen detailliert
nachgewiesen werden.

d) Behinderungsbedingte Sachkosten sind zu übernehmen. Diese können zum
Beispiel für technische Ausstattung, Heil- und Hilfsmittel, Fahrt- und Reise-
kosten, barrierefreien Wohnraum, behinderungsadäquate Ausstattung von
Personenkraftwagen etc. anfallen. Die Entscheidung darüber, ob einzelne Tä-
tigkeiten oder Verrichtungen mittels Assistenz oder mithilfe technischer Aus-
stattung ausgeführt werden sollen, obliegt grundsätzlich den Anspruchsbe-
rechtigten.

e) Die Teilhabeleistungen sollen in der Regel über einen Zeitraum von fünf Jah-
ren bewilligt werden.

f) Falls sich der behinderungsbedingte Bedarf vor dem Ablauf dieser Frist er-
höhen sollte, muss eine Anpassung der Leistungen zu Gunsten der An-
spruchsberechtigten erfolgen. Sinkt der behinderungsbedingte Bedarf, sind
die Leistungsberechtigten verpflichtet, dies unverzüglich anzugeben.

g) Es sind Übergangs- und Bestandsschutzregelungen zu treffen.

h) Es besteht ein Anspruch auf eine beitragsfreie, unabhängige und wohnort-
nahe Beratung.

7. Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit

Die Teilhabeleistungen sind einkommens- und vermögensunabhängig auszuge-
stalten und damit die Bedürftigkeitsprüfungen abzuschaffen. Die Nachteilsaus-
gleiche dürfen somit steuerrechtlich nicht als Einkommen der Leistungsberech-
tigten bewertet werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7889

8. Finanzierung

Die bisherigen Leistungen nach den verschiedenen Sozialgesetzbüchern und die
zivilrechtlichen Ansprüche bleiben bestehen. Darüber hinausgehende Mittel zur
Teilhabesicherung werden aus Steuereinnahmen des Bundes finanziert. Unab-
hängig davon sind die Sozialversicherungen weiterzuentwickeln.

Beispielsweise sind das SGB V und das SGB XI zwecks zukunftsfähiger Finan-
zierung der bedarfsdeckenden Leistungen in eine solidarische Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung zu überführen.

9. Aktive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen

An der Ausarbeitung des ThSG, dem Gesetzesverfahren sowie der Umsetzung
und Kontrolle sind Menschen mit Behinderungen und/oder chronischen Erkran-
kungen und ihre Interessenverbände aktiv zu beteiligen.

Berlin, den 24. November 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Gemäß Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr
1948 sind alle Menschen „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“. Die
BRK konkretisiert diese allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Be-
einträchtigungen. Diese Konvention erkennt das Recht aller Menschen mit
Behinderungen auf volle Teilhabe, Selbstbestimmung, Chancengleichheit und
freie Persönlichkeitsentfaltung an. Daher ist Behindertenpolitik in erster Linie
als Menschenrechtspolitik aufzufassen.

Die in der Konvention geregelten Menschenrechtsbestimmungen sind Bestand-
teil der deutschen Rechtsordnung, da ihnen der Bundesgesetzgeber und die Län-
der in Form eines Bundesgesetzes zustimmten (Artikel 59 Absatz 2 des Grund-
gesetzes – GG). Daher müssen Bund und Länder die in der BRK verankerten
Rechte und Ansprüche garantieren. Die Konvention geht den allgemeinen Ge-
setzen, somit auch den Sozialgesetzen, vor, soweit sie Menschenrechtsnormen
enthält, die allgemeine Regeln des Völkerrechts sind (Artikel 25 GG).

In der Konvention finden sich Normen, „die nach dem Völkerrecht sofort an-
wendbar sind“ (Artikel 4 Absatz 2 BRK). In Artikel 2 BRK wird der Diskrimi-
nierungsbegriff des Artikel 3 Absatz 3 GG spezifiziert: Eine Diskriminierung
kann bereits dann vorliegen, wenn „angemessene Vorkehrungen“ zu ihrer Ver-
meidung nicht getroffen werden, obwohl dies nicht unbillig wäre. Jede „Diskri-
minierung aufgrund von Behinderung“ (Artikel 2 Absatz 3 BRK) ist zu verbie-
ten.

Das in Artikel 19 BRK formulierte „Recht aller Menschen mit Behinderungen,
mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu
leben“, sowie „ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft“ als Wahl-, Ent-
scheidungs- und Verweigerungsrecht sind nach der Völkerrechtsdogmatik nicht
nur eine subjektive (individualschützende) Rechtsposition, sondern unmittelbar
anwendbar. Dieses Recht auf gleiche Wahlmöglichkeiten können Menschen mit
Behinderungen nur dann wahrnehmen, wenn ihnen die volle Teilhabe an der Ge-
sellschaft ermöglicht und gesichert wird.

Drucksache 17/7889 – 6 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Menschen mit Behinderungen werden in der Bundesrepublik Deutschland trotz
der Konvention immer noch benachteiligt und diskriminiert. Merkmale struk-
tureller Diskriminierung dieser Menschen finden sich unter anderem im Behin-
dertenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2009 (Bundestagsdrucksache
16/13829): So sank zwischen 2005 und 2008 die Zahl aller Arbeitslosen um fast
33 Prozent, die der schwerbehinderten Menschen lediglich um etwa 14 Prozent.
Diese ungleiche Entwicklung dauert weiter an. Die Zahl der Menschen, die in
Werkstätten für Menschen mit Behinderungen beschäftigt sind, steigt kontinu-
ierlich und lag 2007 bei rund 275 000; ihr durchschnittliches Einkommen betrug
158 Euro im Monat. Im Bildungssystem wird ähnlich aussortiert: 84,3 Prozent
der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen lernen isoliert in Sonderein-
richtungen.

Die Forderung nach einem einheitlichen Leistungsgesetz, welches Menschen mit
Behinderungen die volle Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht und sichert, ist
nicht neu: Sie wird bereits seit Jahrzehnten von der Behindertenbewegung er-
hoben und aktuell durch das GST des FbJJ bekräftigt sowie von Vertreterinnen
und Vertretern aus Wissenschaft und Politik unterstützt. Die Fraktion der CDU/
CSU forderte bereits am 3. April 2001 (Bundestagsdrucksache 14/5804) eine
„umfassende Lösung mit Verbesserungen für behinderte Menschen“. „Diese
kann“, so die Antragsteller, „nur in einem eigenständigen und einheitlichen
Leistungsgesetz für Behinderte erreicht werden, das vom Bund zu finanzieren
ist. Dieses Gesetz müsste vermögens- und einkommensunabhängig ausgestaltet
sein und die Leistungen, die derzeit in der Eingliederungshilfe […] enthalten
sind, zusammenfassen […]“. Demnach müssen Menschen mit Beeinträchtigun-
gen und ihre Angehörigen „vor wesentlichen Sonderbelastungen und vor einer
Stigmatisierung als Sozialhilfeempfänger geschützt werden“. Die damalige
Fraktion der PDS erhob ähnliche Forderungen mit einem Antrag für ein Teil-
habesicherungsgesetz vom 23. April 1999 (Bundestagsdrucksache 14/827) und
die Fraktion DIE LINKE. folgte mit einem Antrag für ein Nachteilsausgleichs-
gesetz am 30. November 2006 (Bundestagsdrucksache 16/3698).

Zu Nummer 1 – Ziel und Inhalt

Die BRK, die seit dem 26. März 2009 innerstaatlich geltendes Recht ist, bildet
den Ausgangspunkt und die Grundlage für das ThSG. Es muss Teilhabemöglich-
keiten für Menschen mit Behinderungen verbessern durch die Errichtung einer
flächendeckenden, sozialen wie inklusiv ausgestalteten Infrastruktur und die
wohnortnahe Erbringung von individuellen Leistungsansprüchen als Nachteils-
ausgleich gewährleisten. Dazu gehört die Schaffung umfassender Barrierefrei-
heit in allen Bereichen der Gesellschaft. Mit der Beseitigung baulicher, kom-
munikativer, kognitiver und von Barrieren in den Köpfen sinkt der Bedarf an
individuellen Nachteilsausgleichen zur Ermöglichung voller Teilhabe. Maßnah-
men zur Beseitigung dieser Barrieren sind nicht Bestandteil dieses Gesetzes. Sie
müssen sich in anderen Gesetzen, Verordnungen und Aktivitäten widerspiegeln.

Zu Nummer 2 – Gesetzliche Verankerung und neuer Behinderungsbegriff

Mit der Überführung der Eingliederungshilfe vom SGB XII in das SGB IX wer-
den diese Regelungen von den Bedürftigkeitsprüfungen gelöst sowie einkom-
mens- und vermögensunabhängig im SGB IX festgeschrieben. Dieses spiegelt
den Charakter der BRK und der ICF (Internationale Klassifikation der Funk-
tionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) am besten wider.

BRK und ICF betrachten Behinderung als dynamisches Wechselspiel zwischen
Beeinträchtigung und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren (baulicher,
kommunikativer, kognitiver oder in den Köpfen anderer). Je weniger Barrieren,
desto geringer auch die Behinderung und umgekehrt. Gleichzeitig erkennt die

Konvention den Beitrag an, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/7889

Wohl und zur Vielfalt ihrer Gemeinschaft leisten können (Präambel, Buchstabe m,
BRK). Demnach obliegt dem Staat nicht mehr die Fürsorge aufgrund von De-
fizitorientierung, sondern die Aufgabe der Befähigung, die Ermöglichung von
Selbstständigkeit mit dem Ziel umfassender Selbstbestimmung. Dies ist ein völ-
lig anderer Ansatz, der sich auch im BGG (Behindertengleichstellungsgesetz)
sowie im SGB IX wieder finden muss.

Hinsichtlich des SGB VIII soll – angelehnt an das GST des FbJJ – die sogenannte
große Lösung umgesetzt, sprich die Gesamtverantwortung für alle Kinder und
Jugendlichen mit Behinderungen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe
zusammengeführt werden. Die einkommens- und vermögensunabhängigen
Teilhabeleistungen des neu zu formierenden SGB IX gelten damit auch für alle
Kinder- und Jugendlichen mit Behinderungen, werden aber von der Kinder- und
Jugendhilfe erbracht. Zurzeit bestehen zwischen SGB VIII und SGB XII erheb-
liche Schnittstellenprobleme, die sich zu Lasten der Betroffenen und ihrer An-
gehörigen auswirken. Diese Probleme würden auch bei der Umsetzung des
ThSG zwischen SGB VIII und SGB IX bestehen. Daher ist hier eine eindeutige
Zuständigkeitsklärung notwendig. Diese Auffassung teilen viele Behinderten-
verbände und auch die Kinderkommission des Deutschen Bundestages.

Zwischen ThSG und Pflegeversicherung (SGB XI) besteht ein besonderes Ver-
hältnis. Beide sind gleichrangig zu behandeln und ergänzen sich gegenseitig.
Selbstbestimmung und Teilhabe müssen gemäß dem neuen Pflegebegriff auch
in der Pflegeversicherung (SGB XI) verankert werden.

Damit bedarfsorientierte Leistungsausweitungen im SGB V und im SGB XI zu-
künftig gerecht finanziert werden, muss eine solidarische Bürgerinnen- und Bür-
gerversicherung eingeführt werden.

Zu Nummer 3 – Anspruchsberechtigte

Die BRK schränkt den in ihr festgeschriebenen Anspruch auf volle und wirk-
same Teilhabe nicht ein. Demnach muss allen Menschen mit Behinderungen das
Recht auf erforderliche Assistenz- und Sachleistungen zum Ausgleich ihrer be-
hinderungsbedingten Nachteile garantiert werden. Wenn dies aus strukturellen
oder organisatorischen Gründen nicht sofort umsetzbar ist, könnten wöchentlich
benötigte Assistenzstunden oder neu zu entwickelnde Behinderungsgrade den
Anspruch zunächst begrenzen. Ein solcher schrittweise angelegter Weg muss
aber als Ergebnis den Anspruch auf Teilhabeleistungen für alle Menschen mit
Beeinträchtigungen verfolgen. Pauschalen könnten zusätzlich mit individuellen
Nachweisen bei Mehrbedarfen und Bagatellgrenzen kombiniert werden.

Die Konvention macht deutlich, dass es nicht entscheidend ist, warum ein
Mensch eine Beeinträchtigung hat, sondern allein die Tatsache, dass der Mensch
diese hat, ist entscheidend für den Rechtsanspruch auf volle Teilhabe und Dis-
kriminierungsschutz. Daher ist das Finalitätsprinzip konsequent umzusetzen.

Dies bedeutet nicht, wie im Falle der Unfallversicherung, dass die Arbeitge-
berinnen und Arbeitgeber oder im Falle von Schadensverursachern, zum
Beispiel bei einem Autounfall Haftpflichtversicherer, ihrer Verantwortung ent-
bunden werden. Ihre Beiträge sind dann als Einnahmen zur Finanzierung von
Teilhabeleistungen umzuleiten.

Zu Nummer 4 – Bundeseinheitliche Anspruchsfeststellung und Kriterien der
Bedarfsermittlung

Die bundesweit sehr unterschiedlichen Methoden der Bedarfsermittlung sind zu
vereinheitlichen. Der Bedarf ist nach einheitlichen Kriterien zu ermitteln. Damit
die Anspruchsberechtigten getroffene Entscheidungen hinterfragen können,

sollten Ombudsstellen eingerichtet werden, welche zunächst in Streitfällen ver-

Drucksache 17/7889 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

mitteln. Die Besetzung muss nach zuvor festgelegten Kriterien erfolgen, um so
Unabhängigkeit und Kompetenz zu sichern.

Die Kontextfaktoren des Lebenshintergrundes der Menschen sind einzubezie-
hen. Das heißt die Instrumente und Verfahren der Bedarfsermittlung sollten an
der ICF der WHO ausgerichtet sein.

Viele Menschen mit Behinderungen haben das Problem bei auf verschiedene
Sozialgesetzbücher verteilten Ansprüchen, ihre behinderungsbedingten Leis-
tungen geltend zu machen. Oft werden sie von Behörde zu Behörde, von Kos-
tenträger zu Kostenträger usw. geschickt und es vergeht sehr viel Zeit, bis sie,
wenn überhaupt, ihre notwendigen Leistungen erhalten. Dies ist für die Betrof-
fenen sehr zeitaufwändig sowie körperlich und psychisch äußerst belastend. Da-
her sollte eine Behörde den Anspruch feststellen und die Teilhabeleistungen aus
einer Hand gewähren. Wenn der Anspruch und der Bedarf einmal festgestellt
wurden, dann muss dies nicht mehr von anderen Stellen erfolgen. Die Regelun-
gen der anderen Sozialgesetzbücher bleiben unberührt.

Eine statistische Bestimmung des durchschnittlichen Teilhabebedarfs aller
Menschen in der Bundesrepublik Deutschland könnte zur Ermittlung von Richt-
größen für teilhaberelevante Aktivitäten zum Beispiel in den Bereichen Freizeit
und Kultur (Anzahl von Reisen oder Kino-/Theaterbesuchen) dienen.

Zu Nummer 5 – Leistungserbringung

Die Leistungen können über vorhandene beziehungsweise eine zu entwickelnde
Infrastruktur erbracht werden.

Die Verwaltung der Mittel übernimmt die entsprechende Behörde. Auch die Be-
gleichung von Sachkosten wird dann von dieser Stelle erledigt.

Zu Nummer 6 – Umfang der Leistungen

In Artikel 19 BRK verpflichten sich die Vertragsstaaten, Menschen mit Behin-
derungen den „Zugang“ zur „persönlichen Assistenz“ zu gewährleisten. Daher
muss dieser Rechtsanspruch garantiert werden.

Den Vorschlag im GST für ein Teilhabegeld zugrundegelegt, sollten die Teil-
habeleistungen durch eine Pauschale ergänzt werden. Diese sollte sich an den neu
zu entwickelnden Beeinträchtigungsgraden orientieren und nicht messbare sowie
laufend anfallende behinderungsbedingte Mehraufwendungen ausgleichen.

Ein Berufsbild Assistenz wird gebraucht. Es sollte eine dreijährige Berufsaus-
bildung nach bundeseinheitlichen Standards erfolgen. Gleiches gilt auch für
Fort- und Weiterbildungsprogramme für persönliche Assistenzkräfte.

Menschen mit Behinderungen sollten ein Recht auf eine unabhängige und
wohnortnahe Beratung erhalten. Dies ist notwendig, da sich die Gemeinsamen
Servicestellen als unwirksam herausgestellt haben sowie die verschiedenen
Kostenträger oft unter Kostendruck stehen und somit keine neutrale Haltung
einnehmen können.

Zu Nummer 7 – Einkommens- und Vermögensunabhängigkeit

Strukturelle Diskriminierungen sind nicht als individuelles Problem aufzufas-
sen. Gleichberechtigung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die es solida-
risch zu lösen gilt. Da es sich bei der Verwirklichung der Teilhabe von Menschen
mit Beeinträchtigungen gemäß der Konvention um die Gewährung von Men-
schenrechten handelt, dürfen diese Leistungen nicht abhängig vom Einkommen
oder Vermögen der Berechtigten sowie ihrer Angehörigen ausgestaltet werden.
Dies ist auch eine Kernforderung der Behindertenbewegung (siehe Forderung

nach Einführung eines Gesetzes zur „sozialen Teilhabe“, www.forsea.de). Auch
die Behindertenbeauftragten der Länder und des Bundes fordern in einer

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/7889

gemeinsamen Resolution einkommens- und vermögensunabhängige Teilhabe-
leistungen statt Sozialhilfeleistungen (vgl. Pressemitteilung vom 4. November
2010 der Beauftragten der bayerischen Staatsregierung für die Belange von
Menschen mit Behinderung): „Einkommens- und Vermögensgrenzen führen
allein als Folge der Behinderung nicht selten in Armut und sind leistungshem-
mend und bürokratisch.“

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es bereits einige einkommens- und
vermögensunabhängige Nachteilsausgleiche, zum Beispiel das Blinden-, Seh-
behinderten- und Gehörlosengeld. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass diese
Form des Nachteilsausgleiches allen Menschen mit Behinderungen zusteht, um
ihnen die volle und gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu
ermöglichen.

Menschen nur aufgrund von Behinderungen zu Sozialhilfefällen zu machen, ist
diskriminierend. Dies gilt auch für ihre Angehörigen. Notwendige Leistungen,
die behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen sollen, nur dann zu gewähren,
wenn Bedürftigkeit vorliegt, ist aus menschenrechtlicher Sicht gemäß der BRK
nicht akzeptabel.

Zu Nummer 8 – Finanzierung

Über die Herstellung von Steuergerechtigkeit (Erhöhung beziehungsweise Ein-
führung des Spitzensteuersatzes, der Millionärssteuer und Erbschaftssteuer)
könnten erhebliche finanzielle Mittel zusammengefasst werden. Damit kann der
Bund unter anderem die Teilhabeleistungen finanzieren. Auch sind Zahlungs-
verpflichtungen (unter anderem von Versicherungen, Berufsgenossenschaften,
Schadensverursachern) heranzuziehen.

Alle finanziellen Mittel der bereits bestehenden Nachteilsausgleiche für Men-
schen mit Behinderungen sollten über die zuständige Behörde den Anspruchs-
berechtigten in Form von Teilhabeleistungen zugutekommen. Dies betrifft zum
Beispiel das Blinden-, Sehbehinderten- und Gehörlosengeld der Länder, die Ein-
gliederungshilfe und den Pauschbetrag (Einkommensteuer).

Durch die Einführung einer Bürgerinnen- und Bürgerversicherung wird die Bei-
tragsbasis so erweitert, dass ohne Belastungen der Mehrheit der Bevölkerung die
Leistungserweiterungen im SGB V und SGB XI bereitgestellt werden können.

Je nach Ausgestaltung der Übergangsregelungen, der Tarifabschlüsse und Min-
destlohnregelungen für Assistenzkräfte, des zu Grunde gelegten durchschnitt-
lichen Teilhabebedarfs in der Bundesrepublik Deutschland sowie der Begren-
zung des Anspruches können bei der Umsetzung des Teilhabesicherungsgeset-
zes 5 bis 50 Mrd. Euro an Mehraufwendungen anfallen.

Zu Nummer 9 – Aktive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen

In Artikel 4 Absatz 3 BRK heißt es: „Bei der Ausarbeitung und Umsetzung von
Rechtsvorschriften und politischen Konzepten zur Durchführung dieses Über-
einkommens und bei anderen Entscheidungsprozessen in Fragen, die Menschen
mit Behinderungen betreffen, führen die Vertragsstaaten mit den Menschen mit
Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertre-
tenden Organisationen enge Konsultationen und beziehen sie aktiv ein.“

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