BT-Drucksache 17/7541

Rechtsstaatlichkeit in Russland

Vom 26. Oktober 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7541
17. Wahlperiode 26. 10. 2011

Große Anfrage
der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Sylvia Kotting-Uhl, Viola von Cramon-Taubadel, Harald Ebner, Hans-Josef Fell,
Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy,
Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz,
Omid Nouripour, Dr. Hermann E. Ott, Lisa Paus, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rechtsstaatlichkeit in Russland

Die Europäische Union ist vor einem Jahr mit Russland eine Modernisierungs-
partnerschaft eingegangen. Sie dient „einem Europa, das auf einer breit ange-
legten Zusammenarbeit gründet ohne Trennlinien, einer Gemeinschaft demo-
kratischer, rechtsstaatlicher Gesellschaftsordnungen“, wie die Außenminister
Russlands und Deutschlands in einem gemeinsamen Artikel schrieben (FAZ,
30. Mai 2010). Ein Erfolg dieser Bemühungen ist im beiderseitigen Interesse.
Denn die EU und Russland sind Nachbarn mit engen Verflechtungen. Intensive
Kooperation auf vielen Gebieten ist unerlässlich für beide Seiten.

Derzeit wird zwischen den beiden Partnern über genaue Inhalte und einen Zeit-
rahmen für die Modernisierungspartnerschaft diskutiert. Dabei kann es nicht
allein um die wirtschaftliche Entwicklung gehen. Ohne eine Modernisierung
und Demokratisierung der Gesellschaft wird auch der Aufbau einer modernen,
global wettbewerbsfähigen Ökonomie nicht gelingen. Eine wichtige Vorausset-
zung hierzu hat Russland mit dem Beitritt zum Europarat geschaffen. Das Land
hat sich damit den rechtsstaatlichen Standards der Europäischen Menschen-
rechtskonvention (EMRK) verpflichtet und ist an die Entscheidungen des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gebunden.

Unverzichtbarer Teil einer Modernisierung ist die Herstellung von Rechtsstaat-
lichkeit. Darüber herrscht Konsens zwischen der EU und Russland, aber auch
in Russland selbst. Dieser Konsens besteht auch bei der Beurteilung gravieren-
der Defizite in diesem Bereich. Nach Ansicht des russischen Präsidenten
Dmitri Medwedew herrscht in Russland „Rechtsnihilismus“. Zwar gibt es
positive Ansätze wie die Strafprozessordnung von 2001 oder die Ratifizierung
des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK. Wiederholt angekündigte und teilweise
durchgeführte Reformen im Justizwesen haben jedoch bisher keine durchgrei-

fenden Erfolge gebracht. Die Missachtung allgemeiner Rechtsgrundsätze wie
des Bestimmtheitsgrundsatzes, der Verhältnismäßigkeit, der Güterabwägung,
das Fehlen einer einheitlichen Rechtsprechung und die oft ausbleibende Umset-
zung rechtskräftiger Urteile machen die Reformansätze regelmäßig zunichte.

Diese Reformversuche mögen auf wachsendes Problembewusstsein zumindest
in Teilen der Regierung hindeuten, ihr Scheitern jedoch weist auf tiefer

Drucksache 17/7541 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

liegende Probleme der Transformation vom Totalitarismus zum Rechtsstaat
hin. Angefangen von spektakulären Fällen wie dem Tod des Anwalts Sergej
Magnitski in Untersuchungshaft, den Prozessen gegen Michail Chodorkowski
und Platon Lebedew, den noch immer nicht befriedigenden Ermittlungen und
fehlende Verurteilungen wegen der Morde an Anna Politkowskaja und Natalia
Estemirowa über öffentliche Vorverurteilungen Michail Chodorkowskis durch
den Ministerpräsidenten Wladimir Putin bis hin zur aggressiven Zurückwei-
sung von Urteilen des EGMR durch den russischen Verfassungsgerichtspräsi-
denten gibt es vielfältige offensichtliche Symptome für eine problematische
Haltung von Justizorganen, Verwaltung und Regierung zum Rechtsstaat.

Zu diesen Symptomen, wenn auch öffentlich weniger wahrgenommen, gehört
neben Mängeln im Normensystem auch die mangelhafte Anwendung bestehen-
der Regeln und Umsetzung von Gerichtsurteilen z. B. bei der Polizei, im Ge-
richtswesen und im Strafvollzug. Skandalöse Ausmaße nehmen diese Zustände
im Nordkaukasus an, wo unter dem Vorwand der Bekämpfung des Terrorismus
regelmäßig schwerste Menschenrechtsverletzungen durch Behörden gesche-
hen. Nicht nur Verdächtige und ihre Familien, sondern auch Anwälte und kriti-
sche Journalisten sind dort ständigen schweren Bedrohungen ausgesetzt. An
dem so entstandenen Klima der Angst hat sich auch nach zahlreichen einschlä-
gigen Urteilen des EGMR nichts geändert.

Es fehlen gesellschaftliche Debatten über die Entwicklung des Rechtsstaates.
Auch von dem von der Regierung und ihrer Partei dominierten Parlament wer-
den diese Debatten nicht geführt. Regierungsamtliche Versuche, zivilgesell-
schaftliches Monitoring der Gerichte und ihrer Urteile zu etablieren, werden
von diesen abgewehrt oder führen eher zum Anschwellen bürokratischer
Abläufe als zu einer effektiven Kontrolle.

Es deutet einiges darauf hin, dass der Versuch einer Reform von oben durch den
autoritären Staat erfolglos bleibt. Das Selbstverständnis des Staates und dessen
Akzeptanz durch die Mehrheit der Bevölkerung scheinen rechtsstaatliches
Handeln, Transparenz der Verfahren, effektives Bekämpfen von Korruption
und staatlicher Willkür zu erschweren. Dem allmächtigen Staat kann nur ausge-
wichen, ihm kann nicht erfolgreich mit rechtlichen Mitteln begegnet werden –
so scheint die Haltung großer Teile der Gesellschaft nach wie vor zu sein.

Unter diesen Bedingungen wirken sich die Defizite der rechtsstaatlichen Ent-
wicklung auf alle Sphären der Gesellschaft aus. Mangelndes Vertrauen in
Justiz, Polizei und Armee, systematische Behinderung der Entwicklung von
Parteien- und Medienlandschaft, eine chronisch schwache unabhängige Zivil-
gesellschaft – all das sind Anzeichen von Defiziten der rechtsstaatlichen Kultur
und von mangelnder Rechtssicherheit. Betroffen davon sind sowohl russische
als auch in Russland investierende ausländische Unternehmen. Trotz anschei-
nend gewachsenen Vertrauens privater Unternehmen in gerichtliche Entschei-
dungen stagniert die Entwicklung des Mittelstands. Zugleich führen fabrizierte
Prozesse zu Übernahmen mittelständischer Unternehmen. Dieses Phänomen
der „Raiderstwo“ wurde von Präsident Dmitri Medwedjew bereits als essentiel-
les Problem identifiziert. Chronischer Kapitalabfluss aus Russland ist die
Folge, vor allem hinreichend finanzstarke internationale Konzerne mit langem
Atem und der Fähigkeit zum Arrangement mit nicht rechtsstaatlichen Verhält-
nissen können sich in Russland etablieren.

Ein Bereich mit besonders deutlichen Auswirkungen der rechtsstaatlichen
Mängel ist die Umweltgesetzgebung bzw. ihre Anwendung. Am Beispiel der
Auswirkungen der Atomkatastrophe Majak 1957 im südlichen Ural zeigt sich
das exemplarisch. Nach wie vor werden straflos radioaktive Abfälle in Flüsse
geleitet, Entschädigungszahlungen behindert und notwendige Schutzmaßnah-

men unterlassen.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/7541

Die Modernisierungspartnerschaft mit Russland sieht Rechtsstaatlichkeit als
zentrales Element der Kooperation an.

Wir fragen die Bundesregierung:

I. Unabhängigkeit der Justiz

1. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des russischen Präsidenten, dass
die Richterschaft in Russland derzeit dermaßen korrupt ist, dass eine
„Selbstreinigung“ nicht möglich ist (siehe Transskript des Treffens mit der
Zivilgesellschaftskammer am 20. Januar 2011 auf www.kremlin.ru)?

2. Hält die Bundesregierung es für sinnvoll, die Strafverfolgung von Richtern
zu erleichtern, die derzeit nur unter sehr hohen Auflagen möglich ist, wie es
Präsident Dmitri Medwedew in seiner Ansprache aufgrund der hohen Be-
stechlichkeit innerhalb der Richterschaft ankündigte?

3. Sieht die Bundesregierung die größere Gefahr in der Einmischung der Exe-
kutive in richterliche Angelegenheiten oder im Berufsethos und der Rechts-
praxis der Richterschaft?

4. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Fonds „Information für die
Demokratie“ (INDEM) in seiner Studie „Transformation der russischen
Rechtsgewalt – Auswertung einer komplexen Analyse“ (Verlag Norma,
2010, S. 124), dass die vierfache Änderung seit 2001 der Mandatslänge und
des Rentenalters der Verfassungsrichter dafür benutzt wurde, die Amtsdauer
einzelner Richter zu verlängern oder zu verkürzen und somit die Unabhän-
gigkeit der Verfassungsrichter anzugreifen?

5. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Abberu-
fung des Verfassungsrichters Wladimir Jaroslawzew aus dem Richterrat, die
seine Kollegen im Verfassungsgericht beschlossen, nachdem Wladimir
Jaroslawzew sich kritisch zum Zustand des russischen Rechtsstaates und der
Unabhängigkeit der Richter gegenüber einer spanischen Tageszeitung
(EL PAIS vom 31. August 2009) geäußert hat?

6. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache,
dass der Verfassungsrichter Wassili Kononow, der für seine abweichenden
Meinungen bei Verfassungsgerichtsurteilen bekannt war, sein Amt als Ver-
fassungsrichter im Januar 2011 niederlegte, nachdem ihn der Verfassungsge-
richtspräsident Waleri Sorkin in einer Rede (Rossiskaja Gaseta,
11. Dezember 2009) aufgrund kritischer Äußerungen zur Rechtsstaatlichkeit
in Russland und bestimmten Gerichtsentscheidungen des Verfassungsge-
richts persönlich angegriffen, einer schmutzigen PR-Kampagne bezichtigt
und indirekt zum Rücktritt aufgefordert hatte?

7. Teilt die Bundesregierung die Auffassung der Verfassungsrichterin a. D.
Tamara Morschtschakowa, dass die ausgeprägte administrative Vertikale im
russischen Gerichtswesen zu einer verheerenden Hörigkeit niedriggestellter
Richter gegenüber ihren Vorsitzenden und den Vorsitzenden höherer Ge-
richte führt (Kommersant, 14. Oktober 2009, „Die Ausrichtung nach den
höheren Instanzen zerstört die Rechtspflege“)?

8. Hält die Bundesregierung die Aussagen der Gerichtshelferin Natalja
Wassiljewa (Interview Gaseta.ru, 14. Februar 2011) für glaubhaft, dass Richter
Wiktor Danilkin das Urteil im zweiten Prozess gegen Michail Chodorkowski
und Platon Lebedew von einem höheren Gericht, in diesem Falle von der
Gerichtsvorsitzenden des Moskauer Stadtgerichts, an den entscheidenden
Stellen diktiert bekommen hat?

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9. Hat die Bundesregierung Kenntnis über Ermittlungen verschiedener Be-
hörden, die nach dem Interview von Natalja Wassiljewa ihr Umfeld durch-
leuchtet haben sollen?

10. Teilt die Bundesregierung die Befürchtung, dass die Praxis der sogenann-
ten Telefonjustiz, wie sie auch von der jetzigen Bundesministerin der Justiz,
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, als Berichterstatterin eines einschlä-
gigen Berichts des Europarates (Report vom 7. August 2009 „Allegations
of politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of
Europe member states“) erwähnt wird, eine weit verbreitete Praxis in Russ-
land ist?

11. Wenn ja, wer übt laut Meinung der Bundesregierung konkret Einfluss auf
die Entscheidungen der Richter aus, und aus welchen Motiven?

12. Wie beurteilt die Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt einer effek-
tiven Gewaltenteilung den Umstand, dass die Vorsitzenden höherer Ge-
richte sowie der Präsident des Verfassungsgerichts auf Vorschlag des russi-
schen Präsidenten vom Föderationsrat ernannt werden, der wiederum zur
Hälfte aus Mitgliedern besteht, die von den ihrerseits vom Präsidenten er-
nannten Gouverneuren ernannt werden?

13. Sieht die Bundesregierung in der hohen Zahl der Entlassungen, Versetzun-
gen und anderer Disziplinarmaßnahmen gegenüber Richtern einen Beleg
für die indirekte Einmischung der Gerichtsvorsitzenden in die Entschei-
dungen der ihnen untergeordneten Richter (siehe oben genannten Bericht
des Europarates vom 7. August 2009)?

14. Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die bisherige
Arbeit der im Jahr 2009 neu eingerichteten richterlichen Disziplinarkom-
mission, die u. a. entlassenen Richtern eine Beschwerdemöglichkeit bietet?

15. Wie bewertet die Bundesregierung die Entscheidung der russischen Ge-
richte, das Urteil des EGMR Olga Kudeschkina vs. Russische Föderation
vom 26. Februar 2009, das in der Entlassung der Richterin Olga Kudeschkina
einen Verstoß gegen die EKMR sah, da ihre Entlassung lediglich aufgrund
berechtigter Kritik am derzeitigen Zustand des Rechtsstaates in Russland
und der Praxis der Einflussnahme durch Gerichtsvorsitzende geschah, nicht
umzusetzen?

16. Hält die Bundesregierung die Praxis, dass ein Großteil der Richter aus dem
Staatsdienst bzw. den Rechtsschutzbehörden wie Staatsanwaltschaft, Steu-
erfahndung, Zollbehörden rekrutiert wird, für angemessen zur Stärkung der
Unabhängigkeit der Justiz?

II. Strafverfolgung und Strafvollzug

17. Wie beurteilt die Bundesregierung die Umsetzung der am 18. Dezember
2001 verabschiedeten neuen Strafprozessordnung, die u. a. eine effektivere
Trennung von Ermittlungsorganen und Richtern vorsieht und den Richtern
eine bessere Kontrolle über Verstöße während der Ermittlungen ermög-
lichen soll (z. B. Untersuchungshaft, Rechtmäßigkeit von Verhaftungen)?

18. Für wie aussichtsreich hält die Bundesregierung die von Präsident Dmitri
Medwedew angekündigte „Humanisierung des Strafsystems“, und welche
konkreten Schritte sind der Bundesregierung in Hinblick auf diese
Humanisierung bekannt (siehe z. B. „Medwedewa Popraw“, Kommersant,
14. Juni 2010)?

19. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Ausschusses für Recht und

Menschenrechte der Parlamentarischen Versammlung des Europarates,
dass es in den Untersuchungsgefängnissen der Russischen Föderation kei-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/7541

nen nennenswerten Fortschritt in der Verbesserung der Haftbedingungen
gibt, obwohl der EGMR die Bedingungen wiederholt – wie bereits 2002 im
Urteil Michail Kalaschnikow vs. Russland – als einen Verstoß gegen die
EMRK gewertet hat (siehe Doc. 12455 Europarat „Implementation of
judgements of the ECHR“ vom 20. Dezember 2010)?

20. Wie beurteilt die Bundesregierung den Erfolg des 2007 eingerichteten und
2011 umorganisierten Ermittlungskomitees, was u. a. die Einschränkung
der sehr mächtigen Stellung der Staatsanwaltschaft als Ziel verfolgte, und
welchen Hintergrund haben nach ihrer Einschätzung die Umorganisation
und veränderte Kompetenzzuweisung dieses Untersuchungskomitees vom
Januar 2011?

21. Teilt die Bundesregierung die Meinung des Experten für russisches Recht,
Prof. Dr. Alexander Blankenagel (Humboldt-Universität zu Berlin), dass
der russische Grundrechtsschutz nicht an einem unzureichenden Grund-
rechtekatalog leide, sondern an unverhältnismäßig stark einschränkenden
Maßnahmen durch den Gesetzgeber, die regelmäßig vom Verfassungsge-
richt für verfassungskonform erklärt würden, ohne eine hinreichende Ab-
wägung der Rechtsgüter vorzunehmen (Audioaufzeichnung Fachgespräch
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 11. Februar 2011 – abruf-
bar unter: www.gruene-videos.de/repository/podcast/audio/fachgespraech_
rechtsstaatlichkeit.mp3)?

22. Wie bewertet die Bundesregierung die Umsetzung der Initiative des rus-
sischen Präsidenten Dmitri Medwedew zur Abschaffung der Untersu-
chungshaft für Unternehmer bei Wirtschaftsdelikten (Kommersant, „Med-
wedewa Popraw“ vom 14. Juni 2010)?

23. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Tatsache,
dass es trotz des Einsetzens spezieller Sonderkommissionen und vielfacher
Beteuerungen konsequenten Engagements nach wie vor keine Verurtei-
lungen der Mörder von Anna Politkowskaja und Natalja Estemirowa und
ihrer Auftraggeber gibt?

III. Zivilgesellschaftliche Kontrolle – Rolle von Nichtregierungsorganisationen
(NGO)

24. Teilt die Bundesregierung die Kritik der Bemühungen, einen Mechanismus
zur zivilgesellschaftlichen Kontrolle u. a. der richterlichen Tätigkeit in
einem Gesetz festzulegen, durch die Hohe Wirtschaftsschule – Nationale
Forschungsuniversität –, wonach darin nur eine weitere Inflationierung von
Rechtsakten zu sehen sei und die Ineffektivität bereits bestehender Rege-
lungen nur vergrößert würde (siehe Schlussfolgerungen auf www.pre-
sident-sovet.ru)?

25. Wie erklärt sich die Bundesregierung das Ausbleiben von konsequenten
Ermittlungen gegenüber Mitarbeitern des Innenministeriums, der Richter-
und der Staatsanwaltschaft, die u. a. in einem vom Präsidenten in Auftrag
gegebenen unabhängigen Gutachten des Zivilgesellschaftsrats zu den Um-
ständen des Todes von Sergei Magnitski namentlich belastet wurden?

26. Teilt die Bundesregierung die Analyse der Helsinki-Gruppe, dass die Pra-
xis der Einbeziehung von Vertretern der Zivilgesellschaft in die Besetzung
der richterlichen Qualifizierungskollegien nicht zu dem erwünschten Er-
folg geführt hat, Entscheidungen des Kollegiums durch diese Vertreter mit-
zugestalten?

27. Wie beurteilt die Bundesregierung die Auswirkungen der NGO-Gesetzge-

bung von 2005 auf die Arbeit von NGO in Russland?

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28. Wie bewertet die Bundesregierung die Nichtzulassung der NGO „Society
of Harvey Milk“, „Sport without homophobia“, „Article 282“ und „Inter-
national Day against homophobia and transphobia Committee“ durch das
Justizministerium am 26. September 2011?

29. Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Festnahme von
Nikolai Aleksejew am Moskauer Flughafen Domodedowo im September
2010 sowie seine darauffolgende Inhaftierung und Verbringung an andere
Orte?

IV. Einzelne Beispiele der Gesetzgebung

a) Atomare Sicherheit am Beispiel Majak

30. Hält die Bundesregierung die Gesetzgebung zu Schutz und Entschädigung
der Opfer der zahlreichen Störfälle, insbesondere der als „Kyschtymunfall“
bekannten Explosion in einem Lagertank 1957 im Atomkomplex Majak,
für ausreichend, um einen effektiven Schutz und eine angemessene Ent-
schädigung der Betroffenen zu gewährleisten?

31. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Bürgerrechtlerin Nadeshda
Kutepowa, dass die Gesetzgebung zur Entschädigung so kompliziert und
verwirrend ist, dass die meist mittellosen Opfer keine Möglichkeit haben,
ihre Forderungen vor den Gerichten durchzusetzen, und wenn ja, welche
Schlussfolgerungen zieht sie daraus?

32. Ist der Bundesregierung bekannt, dass auch nach 2000 noch radioaktive
Abfälle in den Fluss Tetscha geleitet worden sind, worüber die Bevölke-
rung nur unzureichend informiert wurde, und die verseuchten Gebiete nur
sehr spärlich gekennzeichnet sind?

33. Welche Schlussfolgerung zieht die Bundesregierung aus dem Umstand,
dass die im Gesetz vorgesehene jährliche Erhöhung der Entschädigungs-
zahlung in den Jahren 2000 bis 2004 nicht stattfand und Betroffene – nach-
dem bereits individuelle Klagen zugunsten der Kläger entschieden worden
waren – aufgrund der steigenden Klageeinreichungen bei genau gleichem
Sachverhalt ihre Prozesse verloren?

34. Liegen der Bundesregierung Zahlen über die Strahlenopfer des Atom-
komplexes Majak vor (ggf. bitte mit Angabe von Quelle/Autor/Autorin
und Datum)?

35. Wie viele Opfer dieser Katastrophe haben nach Kenntnis der Bundesregie-
rung eine Entschädigung erhalten, und wurde der Kreis der entschädi-
gungsberechtigten Personen nach transparenten und nachvollziehbaren
Kriterien definiert?

36. Hat die Bundesregierung Kenntnis von der Anklage gegen den ehemaligen
Vizegeneraldirektor der Atomagentur RosAtom im Juli 2011, dem Ver-
untreuung von 3,9 Mio. US-Dollar vorgeworfen wird, die u. a. für die Ent-
schädigung der Opfer von Majak bestimmt waren (siehe The Moscow
Times, 21. Juli 2011)?

37. Welche Kenntnis hat die Bundesregierung von der Forderung der Um-
weltorganisation „Planet der Hoffnungen“ gegenüber der Atomagentur
RosAtom, wonach der Fluss Tetscha aufgrund der radioaktiven Verunreini-
gung vollständig abzusperren bzw. er mit einem Sarkophag zu verschließen
sei, die im Dezember 2010 als Klage von einem Gericht in Moskau zur Be-
ratung angenommen wurde, und hält sie diese Forderung für angemessen?

38. Welche Zahlungen hat der Bund auf welcher Grundlage bzw. im Rahmen

welcher Verträge, Abkommen etc. in welchen Jahren für welche internatio-
nal finanzierten Sicherungsmaßnahmen am Atomkomplex Majak geleistet?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/7541

b) Wahlgesetzgebung

39. Teilt die Bundesregierung die Meinung der Hohen Vertreterin der EU,
Catherine Ashton (Statement vom 22. Juni 2011), und des EGMR (Urteil
vom 12. April 2011 zur Auflösung der Republikanischen Partei), dass die
hohen Hürden im russischen Wahlgesetz, insbesondere die Zulassungs-
kriterien und ihre Anwendung, die Entwicklung von politischem Pluralis-
mus in Russland verhindern?

40. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass der politische Wille der
russischen Regierung zur Stärkung des Rechtsstaates dadurch geschwächt
ist, dass die Möglichkeit eines demokratischen Machtwechsels aufgrund
von die Opposition benachteiligender Wahlgesetzgebung und Einschüchte-
rung der Opposition so gut wie unmöglich erscheint?

41. Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Ableh-
nung der Registrierung der „Partei der Volksfreiheit“ von Boris Nemzow
und Wladimir Ryschkow vom 21. Juni 2011 durch das Justizministerium?

42. Teilt die Bundesregierung die Meinung von Catherine Ashton (Statement
vom 22. Juni 2011) und des EGMR (Urteil vom 12. April 2011 zur Re-
publikanischen Partei), dass die hohen Hürden im russischen Wahlgesetz
politischen Pluralismus in Russland verhindern, und sieht die Bundesregie-
rung die Gefahr, dass „große Bevölkerungsgruppen“ (siehe Antwort zu
Frage 49 der Großen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/6241) nicht
mehr im Parlament vertreten sein würden?

c) Polizeigesetz, FSB-Gesetz (FSB – russischer Geheimdienst)

43. Wie beurteilt die Bundesregierung den Umstand, dass nach dem neuen
FSB-Gesetz von 2010 der Geheimdienst Verwarnungen an einzelne Per-
sonen aussprechen kann, noch bevor die Staatsanwaltschaft hinreichende
Hinweise für die Aufnahme von Ermittlungen hat?

44. Wie beurteilt die Bundesregierung die führende Rolle des russischen Ge-
heimdienstes FSB bei der Vergabe von Passier- und Wohnberechtigungs-
scheinen für die geschlossenen Städte im Umfeld der Anlage Majak und
die daraus resultierenden Verstöße gegen die EMRK (siehe Urteil
Karpachow u. Karpachowa vs. Russland vom 27. Januar 2011)?

45. Hält die Bundesregierung das am 1. März 2011 in Kraft getretene Polizei-
gesetz für ausreichend, die oft angeprangerte polizeiliche Willkür in Russ-
land einzudämmen?

46. Hat die Bundesregierung Kenntnis, ob die russische Seite sich bei der Aus-
arbeitung des Polizeigesetzes von ausländischen Experten beraten lassen
hat?

47. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass der Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit bei Eingriffstatbeständen auch im neuen Polizeigesetz
keinen ausreichenden Niederschlag fand und diese insgesamt „unstruk-
turiert und lückenhaft“ sind (Caroline von Gall in Russland-Analysen
Nr. 219 vom 6. Mai 2011)?

V. Probleme bei Anwendung, Durchsetzung und Rechtstreue (Rechtskultur)

48. Teilt die Bundesregierung die Auffassung vieler Experten, dass abgesehen
von Regelungslücken und qualitativen Regelungsdefiziten das größte Pro-
blem der Russischen Föderation die fehlende Rechtskultur ist?

49. Für wie hinderlich für einen Aufbau des Rechtsstaates in Russland hält die

Bundesregierung den Umstand, dass in Russland weitgehend Recht als

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„institutionalisierte Gewalt“ des strafenden Staates angesehen wird und
laut einer Umfrage viele Bürger das Gefühl haben, dass die „Gesetze nach
dem Belieben der Machthabenden“ angewandt werden (Lewada-Institut,
Umfrage vom 20. Januar 2011 „Wen beschützt das Gesetz?“, und Angelika
Nußberger in „Das System Putin“, S. 15, Beck, 2007)?

50. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung Prof. Dr. Alexander Blankenagels
(Humboldt-Universität zu Berlin), dass eine Reihe von russischen Rechts-
normen den Bestimmtheitsgrundsatz verletzen, da sie durch ihre komplizier-
ten und unpräzisen Formulierungen (siehe z. B. Gesetz zur demokratischen
Partizipation) und ihre ständigen Änderungen dem Normadressaten nicht als
vernünftig erscheinen können und somit der Anreiz zur Befolgung der
Rechtsnorm und das Vertrauen in sie erodiert werden (Audioaufzeichnung
Fachgespräch der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 11. Februar
2011, abrufbar unter: www.gruene-videos.de/repository/podcast/audio/
fachgespraech_rechtsstaatlichkeit.mp3)?

51. Stimmt die Bundesregierung der Analyse von Prof. Dr. Otto Luchterhand
zu, dass das Urteil im zweiten Chodorkowski-Prozess und seine Begrün-
dung eine Verhöhnung des russischen Rechts war und von „Rechtszynis-
mus“ geprägt war („Verhöhnung des Rechts“ in Osteuropa, April 2011)?

a) Teilt die Bundesregierung die Ansicht der jetzigen Bundesjustizministe-
rin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, dass bereits der Anklageschrift
in diesem Prozess das „Minimum von Logik“ fehlte, die überhaupt eine
Verteidigung ermöglichen könnte (PACE-Report, Doc. 11993,
7. August 2009)?

b) Wie genau hat die Bundesregierung diesen Prozess beobachtet, und
worauf stützt sie ihre Einschätzungen?

c) Hält die Bundesregierung im Licht der offenkundigen Inkohärenz
zwischen dem ersten und zweiten Chodorkowski-Urteil es für möglich,
dass gerade der zweite Chodorkowski-Prozess aus politischen Gründen
geführt wurde?

d) Hat die Bundesregierung Kenntnis von möglichen Vorbereitungen eines
dritten Prozesses gegen Michail Chodorkowski?

e) Hält die Bundesregierung die Anklage gegenüber Michail Chodor-
kowski und Platon Lebedew für ein Beispiel selektiver Strafverfolgung?

f) Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang das Urteil
des Amsterdamer Revisionsgerichts vom 14. Mai 2009, in dem einer
Schadensersatzklage im Zusammenhang mit der Zerschlagung des
Konzerns Jukos stattgegeben wurde mit dem Verweis darauf, dass die
russische Prozessführung rechtsstaatlichen Kriterien nicht genügte und
der Enteignung von Jukos Vorschub geleistet wurde?

g) Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des russischen Zivilgesell-
schaftsrats, dass auch die Ablehnung des Antrags auf vorzeitige Ent-
lassung auf Bewährung (UDO) von Platon Lebedew vom 27. Juli 2011
durch das Welski-Bezirksgericht eine Verhöhnung russischen Rechts
war (siehe www.president-sovet.ru, Verlautbarung des Zivilgesell-
schaftrats)?

h) Wenn ja, wie erklärt sie sich diese Ablehnung gerade auch unter
Berücksichtigung der Tatsache, dass verurteilte Gewaltstraftäter wie
z. B. Oberst Juri Budanow diese übliche Haftaussetzung auf Gewährung
nach fünf Jahren zugestanden bekommen haben?

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52. Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Tatsache,
dass der Richter, der die Untersuchungshaft gegen Sergei Magnitski rich-
terlich anordnete, nur die möglichen, im Gesetz festgeschriebenen Haft-
gründe aufzählte (Verdunklungsgefahr, Fluchtgefahr und Begehung weite-
rer Straftaten), ohne ihr Vorliegen im konkreten Fall zu prüfen?

53. Hat die Bundesregierung Kenntnis von Konsequenzen, die wegen der grob
fehlerhaften Anwendung russischen Rechts gegen diesen Untersuchungs-
richter gezogen wurden?

54. Worin sieht die Bundesregierung mögliche Gründe für die mutmaßliche
Rechtsbeugung in diesem Fall?

55. Hält die Bundesregierung die Ergebnisse der Recherchen von der damaligen
Berichterstatterin der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und
jetzigen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger für
glaubhaft, aufgrund derer sie den Verdacht äußert, dass hohe Beamte der
Rechtsschutzorgane auf kriminelle Weise die Schwächen des russischen
Strafrechtssystems ausnutzten, um sich gegen Anschuldigungen der An-
wälte des Hermitage Capital Funds mit fabrizierten Anklagen und Fest-
nahmen zu schützen, bei denen die durch die Anwälte belasteten Mitarbeiter
der Staatsorgane persönlich die Initiatoren der Ermittlungsverfahren (z. B.
gegen Sergei Magnitski) waren (siehe PACE Doc. 11993, Allegations of
politically motivated abuses of the criminal justice system in Council of
Europe member states)?

a) Hält die Bundesregierung die genannten Hinweise aus demselben Be-
richt für glaubhaft, dass ein mafiöses Netzwerk von Mitarbeitern aus
dem Innenministerium, den Ermittlungsbehörden, Gerichten und der
Steuerfahndung den russischen Staat um 230 Mio. US-Dollar betrogen
hat, indem sie eine Steuerrückzahlung innerhalb eines Tages durchsetz-
ten, die auf einem manipulierten Prozess beruhte?

b) Liegen der Bundesregierung Kenntnisse über eingeleitete Ermittlungs-
verfahren gegen Mitarbeiter der staatlichen Rechtsschutzbehörden in
diesem Zusammenhang vor?

56. Teilt die Bundesregierung die Einschätzung des Menschenrechtlers Sergei
Kowaljow, dass durch die exemplarischen Verfahren bzw. Prozesse gegen
Wladimir Gusinki, gegen Michail Chodorkowski sowie gegen Wissen-
schaftler in den sog. Spionagefällen den jeweiligen Berufsgruppen (Me-
dienmachern und Journalisten, Wissenschaftlern, Unternehmern) deutliche
Grenzen der Freiheit aufgezeigt werden sollen, wodurch ein einschüchtern-
der Effekt auf die jeweiligen Gruppen ausgeübt wird, der oft zu einem vo-
rauseilendem Gehorsam und besonderer Vorsicht in der Berufsausübung
führt (zitiert nach Doc. 11031, PACE „Fair trial in criminal cases concerning
espionage or divulging state secrets“ vom 25. September 2006)?

57. Welche Schlussfolgerungen bezüglich der Arbeitssituation von Rechts-
anwältinnen und Rechtsanwälten im Nordkaukasus zieht die Bundes-
regierung aus der Tatsache, dass nach Angaben der Menschenrechtsorgani-
sation „Memorial“ im Jahr 2010 fünf Anwältinnen in der nordkaukasischen
Teilrepublik Dagestan während ihrer beruflichen Tätigkeit von An-
gehörigen staatlicher Behörden geschlagen bzw. bedroht wurden und nie-
mand für diese Vorfälle zur Verantwortung gezogen worden ist (siehe
www.memo.ru/2011/07/05/p6.html)?

58. Hat die Bundesregierung Kenntnisse über zunehmende Fälle von krimi-
nellen feindlichen Übernahmen von Unternehmen (Raiderstvo), die meist
mit Hilfe von fabrizierten Strafprozessen und diesen vorausgehender Un-

tersuchungshaft organisiert werden, so auch angesprochen von Präsident

Drucksache 17/7541 – 10 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Dmitri Medwedew bei seinem Treffen mit Unternehmern am 26. Februar
2010 in Barvicha (Transskript einsehbar auf www.kremlin.ru)?

59. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Aussage des
russischen Präsidenten, dass er durch eine Erschwerung der (Unter-
suchungs-)Haftgründe für Wirtschaftsverbrechen hofft, „wenigstens teil-
weise die Möglichkeit für korrupte Mitarbeiter der Rechtsschutzorgane
durch das ,Einbuchten‘ von Unternehmern Schmiergelder zu kassieren und
Unternehmensübernahmen zu begünstigen“, blockieren kann (Transskript
vom Treffen des Präsidenten mit Unternehmern vom 26. Februar 2010 auf
www.kremlin.ru)?

60. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Zerschla-
gung des Konzerns Jukos und die zahlreichen Prozesse, die gegen ehema-
lige Mitarbeiter des Konzerns geführt werden?

61. Stehen nach Meinung der Bundesregierung die Maßnahmen gegen Jukos
und dessen Führungskräfte im Einklang mit den Anforderungen, die für die
angestrebte Vollmitgliedschaft in der Welthandelsorganisation von Russland
wie allen anderen Staaten zu erfüllen sind, und welche Schlussfolgerungen
zieht sie aus ihrer Einschätzung?

62. Wie beurteilt die Bundesregierung eventuelle Auswirkungen der oben ge-
nannten Prozesse auf das Investitionsklima in Russland?

63. Sieht die Bundesregierung Entwicklungen in Russland seit dem Piloturteil
Burdov 2 des EGMR vom 15. Januar 2009, in Hinblick auf das syste-
mische Problem der Nichtumsetzung von nationalen Gerichtsurteilen und
die Unmöglichkeit gegen diese Nichtumsetzung zu klagen angesichts des
Umstands, dass nach dem Stand von 2007 40 Prozent der zulässigen Kla-
gen am EGMR gegen Russland wegen solcher Fälle eingereicht wurden ?

64. Beobachtet die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Durch-
setzung rechtskräftiger russischer Urteile im Bereich von staatlichen Leis-
tungen wie z. B. Entschädigungszahlung für die Opfer der Atomkatastro-
phe Majak oder der Liquidatoren von Tschernobyl?

65. Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus dem Umstand,
dass auch acht Jahre nach dem EGMR-Urteil Rjabich vs. Russland, das das
russische Nadzor-Verfahren, das die Wiederaufnahme abgeschlossener
Gerichtsverfahren trotz rechtskräftiger Urteile ermöglicht, wegen seiner
negativen Wirkung für die Rechtssicherheit kritisierte, keine ausreichenden
Reformen zur Herstellung der Rechtssicherheit in diesem Bereich durch-
geführt wurden?

66. Für wie aussichtsreich hält die Bundesregierung in diesem Zusammenhang
die Einführung einer vollwertigen Berufungsinstanz zur Überprüfung von
nicht rechtskräftigen Gerichtsentscheidungen, die am 1. Januar 2012 in
Kraft treten soll?

67. Wie beurteilt die Bundesregierung die gesellschaftliche und menschen-
rechtliche Situation homosexueller Menschen in Russland, insbesondere
vor dem Hintergrund der in der russischen Verfassung und den von Russ-
land ratifizierten internationalen Verträgen und Abkommen garantierten
Rechte?

68. Wie beurteilt die Bundesregierung das diesjährige Verbot des „Moscow
Pride“ vom 17. Mai 2011 vor dem Hintergrund der Verurteilung Russlands
durch den EGMR (Aleksejew vs. Russia, Urteil vom 21. Oktober 2010)
aufgrund der Verbote in den Jahren 2006, 2007 und 2008, und erwägt sie,
zu künftigen Pride-Veranstaltungen in Russland Beobachterinnen oder Be-

obachter aus der deutschen Botschaft zu senden?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 11 – Drucksache 17/7541

VI. Kooperation mit Russland

69. Wo sollte man nach Ansicht der Bundesregierung beim Aufbau eines
Rechtsstaates in einem Land ansetzen, in dem laut Einschätzung sowohl
zivilgesellschaftlicher Gruppen als auch führender Politiker Richter kor-
rupt und obrigkeitshörig, Ermittler kriminell und rechtsnihilistisch sind und
Politikern ernsthafter politischer Wille zur Beendigung dieses Zustandes
fehlt?

70. Welche Schwerpunkte im Hinblick auf die Stärkung der Rechtskultur setzt
die Bundesregierung in der Kooperation mit Russland, und welche Stellen
in welchen Bundesministerien sind daran beteiligt?

71. Auf welchen Rechtsgebieten strebt die Bundesregierung die angekündigte
Rechtskooperation prioritär an?

72. Beriet oder finanzierte die Bundesregierung Beratungen der zuständigen
russischen Organe in den Jahren 2000 bis 2010 bei konkreten Gesetzes-
reformvorhaben im Rechtsstaatsbereich?

73. Wenn ja, welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über den Erfolg
dieser Beratungen und die Aufnahme von Anregungen in entsprechende
Gesetzestexte?

74. Sind der Bundesregierung andere, von ihr nicht geförderte deutsch-russi-
sche Projekte im Rahmen der Rechtskooperation bekannt?

75. Inwieweit unterstützt die Bundesregierung im Rahmen der Rechtskoopera-
tion den akademischen und beruflichen Austausch?

76. Welche konkreten Projekte gab es seit Beschluss der Modernisierungspart-
nerschaft mit Russland im Bereich der Rechtskooperation, und welche
Früchte hat die Vereinbarung über eine engere rechtliche Zusammenarbeit,
die am 27. Juli 2011 vom Parlamentarischen Staatssekretär bei der
Bundesministerin der Justiz Dr. Max Stadler und Justizminister Alexander
Konovalov unterzeichnet wurde, bisher getragen?

77. Wurden bei den halbjährlichen Treffen in der 2001 eingerichteten deutsch-
russischen Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Finanzen unter Federführung
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie die Defizite der
russischen Rechtsstaatlichkeit angesprochen, wie sie z. B. beim Prozess ge-
gen Michail Chodorkowski zu Tage traten?

a) Wenn ja, wie wurde der Prozess von der Arbeitsgruppe bewertet?

b) Wenn nein, hält die Bundesregierung eine solche Arbeitsgruppe für ein
geeignetes Forum, um Probleme der Rechtsstaatlichkeit gerade auch im
Wirtschaftsbereich anzusprechen und sie nicht durch persönliche Kon-
takte oder Geldleistungen zu beseitigen?

c) Wie beurteilt die Bundesregierung in diesem Zusammenhang die Ein-
richtung der Position eines Ombudsmans für internationale Investoren
im russischen Wirtschaftsministerium?

78. Teilt die Bundesregierung die Beobachtung von amnesty international,
dass Projekte, die einen persönlichen Austausch und Kontakt auf Arbeits-
ebene von Experten und Staatsbediensteten beinhalten, derzeit von russi-
scher Seite regelmäßig blockiert werden (Peter Franck, AI, Audioaufzeich-
nung Fachgespräch der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am
11. Februar 2011, abrufbar unter: www.gruene-videos.de/repository/podcast/
audio/fachgespraech_rechtsstaatlichkeit.mp3)?

a) Wenn ja, bei welchen konkreten Beispielen war dies der Fall?

b) Wenn nein, bei welchen konkreten Projekten kam es zu diesem persön-

lichen Kontakt auf Arbeitsebene, und auf welche Weise?

Drucksache 17/7541 – 12 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

79. Teilt die Bundesregierung die Analyse der Expertin der Stiftung Wissen-
schaft und Politik, Susan Stewart (29. Juli 2011, DER TAGESSPIEGEL),
dass Russland an einem genuinen zivilgesellschaftlichen Dialog zwischen
Deutschland und Russland wenig Interesse hat?

80. Unterstützt die Bundesregierung die Initiativen der USA, Großbritanniens
und der Niederlande und die Forderung des Europäischen Parlaments, Ein-
reiseverbote gegen die mutmaßlich in den Tod von Sergei Magnitski ver-
wickelten Mitarbeiter von russischen Rechtsschutzbehörden, u. a. des
Innenministeriums, der Steuerfahndung und der Staatsanwaltschaft, zu ver-
hängen?

81. Welche konkreten Projekte gab es in der Zusammenarbeit zur Justizreform,
wie sie in der „Wegekarte“ des Gemeinsamen Raums der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts festgeschrieben wurde (siehe Antwort zu
Frage 37 der Großen Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/6241)?

82. Wir beurteilt die Bundesregierung die Wirkung des Hinweises auf Rechts-
staatlichkeit im Partnerschafts- und Kooperationsabkommen (PKA) mit
Russland?

83. Welche Aussichten sieht die Bundesregierung, Rechtsstaatlichkeit zu ei-
nem zentralen Bestandteil des neuen PKA mit einem effektiven Evaluie-
rungsmechanismus zu machen?

84. Wie stellt sich die Bundesregierung einen solchen Mechanismus vor?

85. Wie beurteilt die Bundesregierung die anhaltende Ablehnung der russi-
schen Seite zu den Menschenrechtskonsultationen, im Rahmen des PKA
zuständige Vertreter aus Fachministerien zuzulassen?

a) Wird durch diese Ablehnung nach Ansicht der Bundesregierung die Ef-
fektivität der Menschenrechtskonsultationen beeinträchtigt?

b) Wenn ja, welche Überlegungen gibt es seitens der Bundesregierung, die
Ernsthaftigkeit des russischen Willens zu Dialog und Kooperation anzu-
mahnen?

86. Wie kommt die Bundesregierung der Forderung der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates an die Mitgliedstaaten des Europarates
nach, bei der Zusammenarbeit mit den russischen Behörden im Bereich
„Bekämpfung des Terrorismus“ „unter allen Umständen auf der Einhaltung
der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Gerichtsurteile [des
EGMR] zu bestehen“ (PACE Resolution 1738 (2010)), und wie ordnet sie
in diesem Zusammenhang den Empfang einer Delegation der Tschetsche-
nischen Regierung durch Berlins Innensenator Dr. Ehrhart Körting ein, bei
dem es Medienberichten zufolge um die Terrorismusbekämpfung ging
(siehe www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,745228,00.html)?

87. Ist die Bundesregierung weiterhin der Meinung, dass sich die Zusammen-
arbeit des EGMR und Russlands vergleichbar mit anderen Staaten gestal-
tet, obwohl aus Russland trotz einer schwach ausgeprägten Rechtsanwalt-
schaft mit 28 Prozent aller anhängigen Klagen die meisten Individual-
beschwerden eingereicht werden?

a) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Reaktion
des russischen Verfassungsgerichtspräsidenten Waleri Sorkin auf das Ur-
teil des EGMR Markin vs. Russland, in der er ankündigt, dass Russland
sich gegen Eingriffe in die staatliche Souveränität durch „inadäquate“
EGMR-Urteile schützen werde, wenn sie – wie im Falle von Markin vs.
Russland – nach seiner Einschätzung die Souveränität, die nationalen

Institutionen und die nationalen Interessen durch „eine Missachtung der

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 13 – Drucksache 17/7541

historischen, kulturellen und sozialen Situation“ in Russland gefährden
(Rossiskaja Gazeta, 29. Oktober 2010)?

b) Teilt die Bundesregierung die Ansicht, dass die Aussage des Verfas-
sungsgerichtspräsidenten, wonach die Zulassung von Gay-Pride-Pa-
raden in Russland zu Tumulten einer Mehrheit gegen die Demontage
des „kulturellen, moralischen und religiösen Codes“ führen würde (Ros-
siskaja Gaseta, 29. Oktober 2010), die Umsetzung des EGMR-Urteils
vom 21. Oktober 2010 infrage stellt, das das Verbot der Gay-Pride-
Parade in Moskau als Verstoß gegen die EMRK bewertet?

c) Welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung aus der Aussage
des Verfassungsgerichtspräsidenten, dass das russische Verfassungs-
gericht ein Mittler zwischen den Positionen des EGMR und den Realitä-
ten des heutigen Russlands sein muss, da die Urteile von den Rechts-
anwendern (Gerichten) in Russland nicht „einfach so direkt“ umgesetzt
werden könnten?

d) Setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass aufgrund der hohen An-
zahl von Gerichtsentscheidungen gegenüber der Russischen Föderation
diese in Zukunft auch offiziell in Russisch erscheinen, was nach Ansicht
des Verfassungsgerichtspräsidenten ihre Anwendung und Kenntnis von
russischen Gerichten begünstigen würde?

e) Wie beurteilt die Bundesregierung die Arbeit der russischen Sonderer-
mittlungseinheiten zur Verfolgung von Fällen, in denen Russland vom
EGMR wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen im Nordkau-
kasus, insbesondere in Tschetschenien, und wegen fehlender oder unbe-
friedigender Ermittlungen dieser Verbrechen verurteilt wurde?

f) Teilt die Bundesregierung die Einschätzung der Menschenrechtsorgani-
sation Human Rights Watch, dass die russische Justiz in den Fällen, in
denen der EGMR Russland wegen schwerwiegender Menschenrechts-
verletzungen in Tschetschenien verurteilte, die Täter bzw. Verantwort-
lichen nicht zur Verantwortung zog, und dies sogar dann nicht, wenn der
EGMR diese Personen als bekannt bezeichnete bzw. namentlich er-
wähnte (siehe www.hrw.org/node/93651)?

g) Wie beurteilt die Bundesregierung den am 20. Juni 2011 eingebrachten
Gesetzentwurf des Vorsitzenden des Föderationsrates, Alexander
Torshin, der vorsieht, dass die Urteile des EGMR erst nach einer zusätz-
lichen Prüfung durch das russische Verfassungsgericht voll angewendet
werden müssen?

h) Wie beurteilt die Bundesregierung die Tatsache, dass ein Großteil der
Urteile des EGMR gegen Russland zwar die Zahlung der verhängten
Geldbußen zur Folge hat, nicht aber die Änderung der Regelungen, die
zu einem Verstoß gegen die EMRK führten?

i) Inwiefern setzt sich die Bundesregierung dafür ein, dass Russland die
zahlreichen Urteile des EGMR auch inhaltlich umsetzt, und welche
Möglichkeiten sieht sie dafür im Rahmen des Europarates?

Berlin, den 25. Oktober 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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