BT-Drucksache 17/7197

Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren

Vom 28. September 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/7197
17. Wahlperiode 28. 09. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Kathrin Senger-Schäfer, Harald Weinberg,
Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst,
Katja Kipping, Jutta Krellmann, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler
und der Fraktion DIE LINKE.

Gesundheit und Pflege solidarisch finanzieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Kostenexplosion im Pflege- und Gesundheitssystem ist ebenso ein Mythos
wie der drohende finanzielle Kollaps. Eine zuzahlungsfreie, hochwertige Ge-
sundheitsversorgung bei weitgehend konstanten Beiträgen ist möglich, wenn
sich alle nach ihren Möglichkeiten an der Finanzierung des Gesundheitssys-
tems beteiligen.

Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen sind in den letzten 30 Jahren
nicht wesentlich stärker gestiegen als das Brutto-Inlandsprodukt. Wären in die-
ser Zeit alle Einkommen gleichermaßen für die Finanzierung der Krankenversi-
cherung herangezogen worden, wären Praxisgebühr, Zusatzbeiträge, Beitrags-
erhöhungen und Leistungskürzungen auch finanziell überflüssig gewesen.
Stattdessen steht seit Mitte der 70er-Jahre die Kostendämpfung im Mittelpunkt
der Gesundheitsreformen. Diese ist aber nichts anderes als eine Umverteilung.
Gedämpft werden die Kosten vor allem für Arbeitgeber und Gutverdienende.
Die Mehrzahl der Versicherten sowie Patientinnen und Patienten muss mehr
zahlen oder verzichten. Die Folgen: Die Finanzierung des Gesundheitssystems
wird immer ungerechter und die Versorgungsqualität nimmt ab.

Die Pflegeversicherung wurde 1995 formal mit gleichen Beiträgen von Arbeit-
gebern und Arbeitnehmern eingerichtet, aber de facto wird sie seit Beginn von
den Beschäftigten fast allein finanziert. Zur Entlastung der Arbeitgeber schaff-
ten CDU, CSU und FDP einen bundesweiten Feiertag ab. Nur in Sachsen be-
stand der Feiertag weiter und hier sieht man das Ergebnis deutlich: Die Ver-
sicherten zahlen mehr als das Dreifache des Arbeitgeberbeitrags. Daneben
wurde für Mitglieder ohne Kinder der Beitragssatz zum 1. Januar 2005 bundes-
weit um weitere 0,25 Prozentpunkte erhöht. Die schwarz-gelbe Koalition dis-
kutiert derzeit veränderte Finanzierungsvorschläge der Pflegeversicherung, die
alle eine einseitige Mehrbelastung der Versicherten vorsehen. Die Idee, heute
für spätere Leistungen Geld zurückzulegen, führt in die Irre und hat nichts mit

Generationengerechtigkeit zu tun. Spätere Generationen müssen mit ihrer Wirt-
schaftskraft dafür sorgen, dass ausreichend Waren und Dienstleistungen zur
Verfügung stehen. Spätestens die Finanz- und Wirtschaftskrise hat klar gezeigt,
dass Kapitalrückstellungen nicht sicher sind.

Die Einnahmen der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung bleiben
durch Veränderungen in der Erwerbstätigkeit, wie zunehmende Teilzeitarbeit,

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den Ausbau des Niedriglohnsektors und durch ausbleibende Lohnzuwächse
hinter den Ausgaben und auch hinter der Entwicklung der Volkswirtschaft zu-
rück. Zugleich verändert sich die Einkommensstruktur. Die Bedeutung anderer
Einkommensarten, vor allem Kapitalerträge wie Zinsen und Aktiengewinne,
wächst. Aber nur auf die wenigsten dieser Einkommen werden Beiträge ge-
zahlt. Das ist ungerecht und wird den veränderten volkswirtschaftlichen Rah-
menbedingungen nicht gerecht. Unabhängig davon sind gute Arbeit, gute
Löhne und gute Renten für eine gerechtere Verteilung des gesellschaftlichen
Reichtums unabdingbar.

Von einer guten Gesundheits- und Pflegeversorgung profitieren alle: die Patien-
tinnen und Patienten, von Pflege Betroffene und deren Angehörige, die Arbeit-
geber, die Versichertengemeinschaft, der Staat. Daher muss Solidarität in der
Kranken- und Pflegeversicherung im Vordergrund stehen und alle sollten ihren
Beitrag dazu leisten. Die Beitragsbemessungsgrenze führt dazu, dass für Ver-
sicherte über der Grenze die prozentuale Beitragsbelastung mit steigendem
Einkommen stetig sinkt. Dass sich gerade die Gutverdienenden und Selbstän-
digen über die private Krankenversicherung (PKV) und die private Pflegever-
sicherung (PPV) aus dem Solidarsystem verabschieden können, ist europaweit
einzigartig und widerspricht dem Solidargedanken. Die PKV entzieht der GKV
die tendenziell besserverdienenden und gesünderen Versicherten. Im GKV-Sys-
tem verbleiben vermehrt Menschen mit niedrigerem Einkommen und höheren
gesundheitlichen Risiken. Dadurch schwächt die PKV nicht nur die Solidarität,
sondern gefährdet die finanzielle Stabilität der GKV. Die bevorzugte Behand-
lung von Privatversicherten führt zudem zu einer Zweiklassenmedizin.

In der sozialen Pflegeversicherung (SPV) ist der Anteil der Rentnerinnen und
Rentner nicht nur höher, die Versicherten weisen auch in jedem Alter ein höhe-
res Pflegerisiko auf als in der PPV. Die Ausgaben pro Versicherten sind in der
SPV mindestens doppelt so hoch wie in der PPV. Dass in der PPV tendenziell
Besserverdienende abgesichert sind, verstärkt die Ungerechtigkeit. Denn beide
Pflegeversicherungssysteme sind als Teilkaskoversicherung konzipiert, decken
also nur einen Teil des tatsächlichen Pflegebedarfs ab. Während gut verdie-
nende PPV-Versicherte im Pflegefall den Eigenanteil für Pflegeleistungen meist
zahlen können, sind Versicherte der SPV immer häufiger auf Sozialhilfe (Hilfe
zur Pflege) und selbsterbrachte Pflegeleistung ihrer Angehörigen angewiesen.

Die PKV ist ebenso wie die PPV als eigenständiges Versicherungssystem lang-
fristig nicht überlebensfähig. Eine versicherungsökonomische Analyse der
IGES-Institut GmbH kommt zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der PKV
zur Verhinderung übermäßiger Beitragssteigerungen im Alter nicht ausreichen.
Für die betroffenen Versicherten ist ein Wechsel in die GKV nicht und zu einem
anderen PKV-Anbieter nur mit finanziellen Nachteilen möglich. Einmal durch
Billigtarife in die PKV gelockt, sind sie den steigenden Beiträgen ausgesetzt.

Wenn sich alle nach ihren Möglichkeiten gemeinsam an der Kranken- wie Pfle-
geversicherung beteiligen, kann nicht nur eine hochwertige Versorgung für alle
gesichert, sondern auch der Beitrag gesenkt werden. Mit der solidarischen Bür-
gerinnen- und Bürgerversicherung fällt der Beitragssatz um ca. ein Drittel auf
10,5 Prozent und bleibt auf Jahre hinaus weitgehend stabil. Dieses Ergebnis
wird erreicht trotz des demographischen Wandels und bei Einbeziehung des zu
erwartenden medizinischen Fortschritts. Insbesondere Menschen mit niedrigem
und mittlerem Einkommen werden durch die solidarische Bürgerinnen- und
Bürgerversicherung entlastet. Auch die Arbeitgeber bezahlen für fast alle ihrer
Beschäftigten weniger Beiträge. In der Pflegeversicherung kann der Beitrags-
satz bei eingerechnetem Ausgleich des Realwertverlusts und einer sofortigen
Erhöhung der Sachleistungen um 25 Prozent dauerhaft unter 2 Prozent gehalten

werden. Das schafft finanzielle Sicherheit und Spielraum für eine grundlegende
Pflegereform. Gerade die unteren Einkommensgruppen setzen ihre höhere

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Kaufkraft in Konsum um. Insbesondere in Dienstleistungsunternehmen können
dadurch innerhalb der ersten Jahre bis zu 950 000 Menschen und langfristig
ca. 500 000 Menschen zusätzlich in Arbeit kommen (Bartsch, Klaus (2011):
Eine Simulationsstudie zu den kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungen
der Beitragssätze zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nach dem
Konzept einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung der Fraktion
DIE LINKE im Bundestag. Gutachten im Auftrag der Fraktion DIE LINKE. im
Bundestag, Neuendorf).

Nur ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem kann zukunftssicher sein.
Der solidarische Ausgleich zwischen Armen und Reichen sowie zwischen
Gesunden und Kranken trifft auch in der Bevölkerung auf breite Zustimmung.
Der massive Widerstand von Gewerkschaften, Sozialverbänden und Patienten-
organisationen gegen die schwarz-gelbe Kopfpauschale und die vielfältigen
Initiativen für eine Bürgerinnen- und Bürgerversicherung verdeutlichen: Es
wird Zeit, das Rad der Entsolidarisierung zurückzudrehen. Wir brauchen die
solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, die eine dauerhaft stabile
und gerechte Finanzierungsgrundlage für die Kranken- und Pflegeversicherung
schafft.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

umgehend einen Gesetzentwurf für die Einführung einer solidarischen Bürge-
rinnen- und Bürgerversicherung in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversi-
cherung vorzulegen, der nachfolgende Leitlinien umsetzt:

1. Umfassende, qualitativ hochwertige Gesundheits- und Pflegeversorgung

Die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung garantiert für alle Men-
schen eine umfassende, zuzahlungsfreie Gesundheits- und Pflegeversorgung
unabhängig vom Wohnort, Einkommen, Alter, Geschlecht oder Aufenthalts-
status. Alle erforderlichen Leistungen werden zur Verfügung gestellt und der
medizinische Fortschritt wird einbezogen. Die Patientinnen und Patienten er-
halten die Leistungen unmittelbar, sie müssen nicht im Voraus für ihre Behand-
lung bezahlen (Sachleistungsprinzip). Für alle Krankenkassen gilt ein einheit-
licher Leistungskatalog.

In der Pflege/Assistenz gewährleistet die solidarische Bürgerinnen- und Bür-
gerversicherung eine qualitativ hochwertige individuelle Versorgung, die best-
mögliche Teilhabe und Selbstbestimmung sichert.

2. Solidarische Finanzierung

Alle Versicherten zahlen nach ihrer individuellen finanziellen Leistungsfähig-
keit in die solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung ein. Grundsätz-
lich werden alle Einkommen aus unselbständiger und selbständiger Arbeit so-
wie alle sonstigen Einkommensarten wie Kapital-, Miet- und Pachterträge bei
der Bemessung des Beitrags zugrunde gelegt. Kapitalerträge und Zinsen bis
zum Sparerpauschbetrag bleiben beitragsfrei. Die Beitragsbemessungsgrenze
ist perspektivisch abzuschaffen.

3. Ausweitung des Versichertenkreises

Alle Menschen, die in Deutschland leben, werden Mitglied der solidarischen
Bürgerinnen- und Bürgerversicherung. Die private Krankenversicherung und
die private Pflegeversicherung werden auf Zusatzleistungen beschränkt. Die
Zweiklassenversorgung wird damit abgeschafft. Den Beschäftigten der Ver-
sicherungsunternehmen ist ein sozial verträglicher Übergang in die gesetz-
lichen Krankenkassen zu ermöglichen.

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4. Herstellung paritätischer Finanzierung

Die Arbeitgeber tragen die Hälfte der Krankenversicherungsbeiträge auf Löhne
und Gehälter ihrer Beschäftigten. Praxisgebühr und andere Zuzahlungen sowie
Zusatz- und Sonderbeiträge werden abgeschafft. Für Beamtinnen und Beamte
wird die Beihilfe durch eine paritätische Beteiligung des Dienstherrn ersetzt.
Zur Herstellung der paritätischen Finanzierung in der Pflegeversicherung wird
der zur Entlastung der Arbeitgeber abgeschaffte Feiertag wieder eingeführt
oder eine andere Maßnahme ergriffen, welche die Parität zwischen Beschäftig-
ten und Arbeitgebern herstellt. Für Sachsen ist aufgrund der Beibehaltung des
Buß- und Bettages eine Sonderregelung vorzusehen. Rentnerinnen und Rentner
zahlen in der Pflegeversicherung künftig nur den halben Beitragssatz, die an-
dere Hälfte wird von der Rentenversicherung getragen.

5. Allgemeiner Beitragssatz

Für alle gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen gilt jeweils ein bundesweit
einheitlicher Beitragssatz. Personen ohne eigene Einkünfte sind in der solidari-
schen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung beitragsfrei versichert. In der Pfle-
geversicherung wird der höhere Pflegebeitrag von Mitgliedern ohne Kinder ab-
geschafft.

6. Beibehaltung des Umlageverfahrens

Die eingezahlten Beiträge werden unmittelbar für die Finanzierung der Leis-
tungen herangezogen. Rücklagenbildung zur Finanzierung zukünftiger Ge-
sundheits- und Pflegeversorgung (Kapitaldeckung) ist zu untersagen.

7. Stärkung des Finanzausgleichs zwischen den Krankenkassen

Der morbiditätsorientierte Risikostrukturausgleich (morbi-RSA) ist so weiter-
zuentwickeln, dass die unterschiedlichen Gesundheitsausgaben für die Mit-
glieder der verschiedenen Krankenkassen aufgrund der unterschiedlichen Ver-
sichertenstruktur passgenauer abgebildet werden.

8. Eigenständiger Versicherungsanspruch

Jede und jeder erhält ab Geburt einen eigenständigen Kranken- und Pflege-
versicherungsanspruch, so dass niemand mehr bei der Kranken- und Pflegever-
sicherung in Abhängigkeit zu anderen steht.

Berlin, den 28. September 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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