BT-Drucksache 17/674

Keine Zusatzbeiträge für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II

Vom 10. Februar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/674
17. Wahlperiode 10. 02. 2010

Antrag
der Abgeordneten Fritz Kuhn, Birgitt Bender, Markus Kurth, Alexander Bonde,
Kerstin Andreae, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Sven Kindler, Maria
Klein-Schmeink, Stephan Kühn, Beate Müller-Gemmeke, Lisa Paus, Brigitte
Pothmer, Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel, Dr. Gerhard Schick,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dr. Harald Terpe und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Keine Zusatzbeiträge für Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Aufgrund der von der Bundesregierung herbeigeführten Finanzierungslücke im
Gesundheitsfonds sieht sich eine wachsende Zahl von Krankenkassen gezwun-
gen, einen Zusatzbeitrag zu erheben. Dessen Auswirkungen sind aber höchst
unsozial. Arbeitnehmer, Arbeitslose und Rentner werden einseitig belastet, da
die Arbeitgeber und Sozialversicherungsträger an der Finanzierung des Zusatz-
beitrags nicht beteiligt sind. Zudem wird der Solidarausgleich zwischen den
Kassenmitgliedern geschwächt, da die weitaus meisten Kassen den Zusatzbei-
trag als Pauschalbeitrag erheben werden. Um diese Ungerechtigkeiten zu behe-
ben, sind mit der nächsten Gesundheitsreform die Zusatzbeiträge wieder abzu-
schaffen. Die für den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz notwendigen
Ausgaben müssen vollständig über einkommensabhängige Beiträge finanziert
werden.

Allerdings reicht eine solche mittelfristige Perspektive nicht aus, denn die Be-
zieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II (ALG II) sind jetzt mit den
Zusatzbeiträgen konfrontiert und durch die entstehenden Belastungen beson-
ders betroffen. Anders als den allgemeinen Krankenversicherungsbeitrag, den
die Bundesagentur für Arbeit übernimmt, müssen sie den Zusatzbeitrag aus
eigener Tasche finanzieren. Da spätestens im nächsten Jahr fast alle Kranken-
kassen Zusatzbeiträge werden nehmen müssen, ist für diese besonders bedürf-
tige Personengruppe das soziokulturelle Existenzminimum akut infrage ge-
stellt. Deshalb ist schnelles Handeln erforderlich.

II. Der Deutsche Bundestag fordert deshalb die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Übernahme der Zusatzbeiträge für die
Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld II durch den Bund vorsieht.

Berlin, den 10. Februar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Drucksache 17/674 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Begründung

Die große Koalition hat mit der Gesundheitsreform 2007 beschlossen, dass ab
dem Jahr 2010 ein Teil der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung
(GKV) durch zum Teil einkommensunabhängige Zusatzbeiträge der Versicher-
ten erfolgt bzw. erfolgen kann. Ab diesem Jahr muss die Bundesregierung den
allgemeinen Beitragssatz erst dann anheben, wenn die voraussichtlichen Ein-
nahmen des Gesundheitsfonds die Ausgaben der GKV zwei Jahre in Folge
nicht zu mindestens 95 Prozent abdecken. Die entstehende Deckungslücke
müssen die Kassen über die Zusatzbeiträge schließen. Damit wird der Solidar-
charakter der GKV erheblich geschwächt. Gleichzeitig wird das Tor zur Ein-
führung eines umfassenden Kopfpauschalensystems weit aufgestoßen. Durch
die An- oder Aufhebung der einprozentigen Überforderungsgrenze für die Zu-
satzbeiträge sowie der oben genannten 95-Prozent-Grenze lassen sich aus den
„kleinen Kopfpauschalen“ nach und nach große Kopfpauschalen machen.

Besonders benachteiligt von diesem schleichenden Systemwechsel sind Bezie-
herinnen und Bezieher von ALG II. Sie müssen den Zusatzbeitrag aus ihrem
Regelsatz begleichen, ohne dass diese zusätzliche Belastung bei der Berech-
nung der Regelsätze berücksichtigt worden wäre. Damit wird der Anspruch un-
terlaufen, mit der Grundsicherung für Arbeitslose das soziokulturelle Existenz-
minimum der Leistungsempfängerinnen und -empfänger zu gewährleisten.
Dem kann auch die einprozentige Überforderungsgrenze für die Zusatzbeiträge
nur unzureichend entgegenwirken. Denn diese gilt erst ab einem Zusatzbeitrag
von über 8 Euro. Deshalb müssen Bezieherinnen und Bezieher von ALG II
– wie auch Geringverdienende sowie Rentnerinnen und Rentner mit einem Ein-
kommen von weniger als 800 Euro – bei Zusatzbeiträgen von 8 Euro, wie sie
zahlreiche Kassen nun verlangen, mehr als 1 Prozent ihres Einkommens für den
Zusatzbeitrag aufbringen. Hinzu kommt, dass das System nicht symmetrisch
konstruiert ist: Während Bezieherinnen und Bezieher von ALG II einen Zusatz-
beitrag aus ihrem Regelsatz bestreiten müssen, wird ihnen eine Rückerstattung
(gleichsam das Gegenstück zum Zusatzbeitrag; drei Kassen haben dies bislang
für 2010 beschlossen) auf die Regelleistung angerechnet, d. h. der Regelsatz
wird um den entsprechenden Betrag gekürzt.

In ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 17/371) lässt die Bundesregierung erken-
nen, dass sie den Wechsel der betroffenen Personen in eine Krankenkasse, die
keinen Zusatzbeitrag nimmt, grundsätzlich für geboten hält. Offen lässt sie
aber, wie oft den Betroffenen ein Kassenwechsel zugemutet werden kann.
Doch angesichts der finanziellen Unterdeckung des Gesundheitsfonds werden
schon bald die weitaus meisten Kassen einen Zusatzbeitrag nehmen müssen;
allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten, so dass die betroffenen ALG-II-
Bezieher faktisch von Kasse zu Kasse getrieben würden. Keine Antwort gibt
die Bundesregierung auch auf die Frage, was eigentlich dann passieren soll,
wenn sich den Betroffenen keine „Fluchtmöglichkeiten“ mehr bieten, weil alle
Kassen Zusatzbeiträge verlangen.

Das politisch herbeigeführte Finanzierungsdefizit der GKV und die Tatenlosig-
keit der Bundesregierung machen Zusatzbeiträge unvermeidlich. Damit werden
sie faktisch zu einem Teil des Sozialversicherungsbeitrags. Die für die Bezie-
herinnen und Bezieher von ALG II vorgesehene Beitragsübernahme durch die
Bundesagentur für Arbeit muss deshalb auch den Zusatzbeitrag umfassen. Da-
bei sind die Zahlungen so zu bemessen, dass sie die Einnahmenausfälle der
Krankenkassen vollständig ausgleichen.

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