BT-Drucksache 17/6467

Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern

Vom 6. Juli 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6467
17. Wahlperiode 06. 07. 2011

Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Viola von Cramon-Taubadel, Ingrid Hönlinger, Dr. Valerie Wilms, Josef Philip
Winkler, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul, Ute Koczy, Agnes Malczak,
Kerstin Müller (Köln), Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Seenotrettung im Mittelmeer konsequent durchsetzen und verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit Beginn der Revolutionen und Umstürze in der arabischen Welt überquerten
etwa 42 000 Menschen das Mittelmeer, um nach Europa zu gelangen. Zwischen
Mitte Januar 2011 und Mai 2011 erreichten nach Angaben des Hohen Flücht-
lingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) 34 500 Personen die italie-
nische Insel Lampedusa über das Mittelmeer. 11 000 von ihnen sind Flüchtlinge
oder Asylsuchende, die unter anderem vor dem bewaffneten Konflikt in Libyen
geflohen sind. 1 550 Flüchtlinge aus Libyen erreichten den Inselstaat Malta über
die Mittelmeerroute.

Da es kaum noch Möglichkeiten gibt, Europa auf legalem und sicherem Weg zu
erreichen, gehen Flüchtlinge lebensgefährliche Risiken ein, um Schutz in der
EU zu finden. In den letzten vier Monaten ertranken im Mittelmeer 1 650 Men-
schen auf ihrer Flucht vor Menschenrechtsverletzungen, Gewalt und Armut.
Diese dramatische Situation ist humanitär und rechtlich unhaltbar. Um Men-
schenleben zu retten und weitere Schiffsunglücke auf Hoher See und in den
Küstengewässern zu verhindern, muss die Seenotrettung im Mittelmeer konse-
quent durchgesetzt und verbessert werden.

Die gravierenden Defizite in der Seenotrettung sind vor allem auf die man-
gelnde Durchsetzung der seerechtlichen Verpflichtungen zurückzuführen. Zu
den Mängeln gehören insbesondere die unzureichende Überwachung der See-
notrettungszonen, das Unterlassen der Seenotrettung durch private und staat-
liche Schiffe, die Gefährdung der Sicherheit von kleinen Flüchtlingsbooten
durch große Schiffe von EU-Grenzschutzpatrouillen, die Verweigerung der Ge-
nehmigung zum Einlaufen in einen sicheren Hafen durch Küstenstaaten und
das Abdrängen von Schutzsuchenden auf die Hohe See oder in die Küstenge-

wässer von Staaten mit prekärer Menschenrechtslage. Zwischen Ende März
2011 und dem 10. April 2011 sind 61 Menschen, darunter auch Kleinkinder,
auf dem Mittelmeer verdurstet, obwohl sie nach Aussagen der Überlebenden
von europäischen Streitkräften und NATO-Einsatzkräften gesichtet wurden.
Diese schwerwiegenden Vorwürfe der unterlassenen Hilfeleistung müssen drin-
gend untersucht und die Verantwortlichen gegebenenfalls zur Rechenschaft ge-
zogen werden. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat dies-

Drucksache 17/6467 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

bezüglich Untersuchungen eingeleitet und sollte hierin von der Bundesregie-
rung unterstützt werden.

Nach den einschlägigen völkerrechtlichen Konventionen, wie beispielsweise
dem UN-Seerechtsübereinkommen (SRÜ), dem Internationalen Übereinkom-
men zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) und dem Interna-
tionalen Übereinkommen über den Such- und Rettungsdienst auf See (SAR), ist
jeder Person, die sich auf See in Gefahr befindet oder in Seenot gerät, Hilfe zu
leisten. Die Pflicht zur Seenotrettung beinhaltet ebenfalls das Verbringen der in
Seenot geratenen Personen an einen sicheren Ort. Folglich müssen sich umlie-
gende Küstenstaaten schnellstmöglich darauf einigen, in welchen Hafen die
betreffenden Schiffe einlaufen dürfen.

Staaten haben die Pflicht, Notfallortungs- und Rettungseinrichtungen in den
dafür festgelegten Gebieten zu errichten und zu unterhalten, um die Sicherheit
auf See zu gewährleisten (Artikel 98 Absatz 2 SRÜ). Ebenso sind sie durch das
Internationale Seerecht verpflichtet, notwendige Überwachungs-, Kommunika-
tions- und Operationsmaßnahmen zu ergreifen und Vereinbarungen zu treffen,
um die Seenotrettung entlang ihrer Küsten zu gewährleisten. Diese Pflicht
beschränkt sich nicht auf das Küstenmeer der Staaten, sondern geht darüber
hinaus.

2006 traten Änderungen des SOLAS sowie des SAR-Übereinkommens in
Kraft, die die „Internationale Maritime Organization“ (IMO) der Vereinten Na-
tionen 2004 beschlossen hatte (Resolutions MSC 153 (78) und MSC 155 (78)).
Danach sind die Unterzeichnerstaaten nunmehr zu einer Kooperation verpflich-
tet, die die Ausschiffung von Schiffbrüchigen so schnell wie möglich und bei
möglichst geringer Abweichung von der geplanten Route privater Schiffe
sicherstellt. Eine nationale bzw. gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur
Umsetzung dieser Beschlüsse wurde jedoch seitens der Bundesregierung ver-
neint (Antwort auf die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 16/2723, S. 4 f.).

Durch diese völkerrechtlichen Verpflichtungen und die europarechtliche Pflicht
zum Schutz der EU-Außengrenze nach Schengen-Standards sind EU-Mitglied-
staaten an den südlichen Seeaußengrenzen überproportional belastet. Die
gleichzeitig fehlende solidarische Aufnahme und Verteilung von Flüchtlingen
innerhalb der EU führt zu einer faktischen Überforderung der Mitgliedstaaten
an den Südgrenzen. Um die politische Bereitschaft zur Überwachung der See-
notrettungszonen durch Küstenstaaten zu erhöhen und eine konsequente
Durchsetzung von Seenotrettungen zu gewährleisten, müssen betroffene Staa-
ten hierbei finanziell unterstützt werden. Langfristig bedarf es einer gemeinsa-
men europäischen Asylpolitik mit einer solidarischen Aufnahme von Schutz-
suchenden, unter Berücksichtigung familiärer Bindungen, innerhalb der EU.
Somit würden sich Küstenstaaten auch eher dazu bereit erklären, Schiffbrü-
chige an Land gehen zu lassen.

Handels- und Kreuzfahrtschiffe, Fähren, Fischereifahrzeuge und andere private
Schiffe sind ebenfalls verpflichtet, in Seenot geratene Personen zu retten
(Artikel 98 SRÜ). In der Praxis mangelt es an einer konsequenten Durchset-
zung der Seenotrettung, vor allem auch bei privaten Handelsschiffen. Die feh-
lende Bereitschaft liegt zum einen an Strafverfahren, die gegen Schiffsbesat-
zungen aufgrund des Vorwurfs der Schlepperei eingeleitet wurden, nachdem
Kapitäne gemäß ihrer internationalen Pflicht schiffbrüchige Personen auch
ohne Einreisepapiere an Land gebracht hatten. Auf legislativer Ebene ist es
daher notwendig, Seenotrettende vor Strafverfolgung wegen des Vorwurfs der
Schlepperei zu schützen. Zum anderen entstehen Reedern durch Seenotrettun-
gen Kosten. Um die Rettungsbereitschaft der privaten Handelsschifffahrt zu

erhöhen, sollte daher auf europäischer Ebene diesbezüglich ein Entschädi-
gungssystem für Reeder angestrebt werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6467

Neben Verpflichtungen, die sich aus dem Internationalen Seerecht ergeben,
sind auf Hoher See und in Küstengewässern auch die Normen des internationa-
len Menschenrechts- und Flüchtlingsschutzes gültig. Das völkergewohnheits-
rechtliche Prinzip des Refoulement-Verbots gilt auch auf Hoher See. Nach
Artikel 33 der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) sowie den Artikeln 3
und 13 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) dürfen Perso-
nen nicht in Staaten ausgewiesen oder zurückgewiesen werden, in denen ihr
Leben bedroht ist oder sie der Gefahr ausgesetzt wären, schwerwiegende Men-
schenrechtsverletzungen zu erleiden. Aus der EMRK ergibt sich auch ein Recht
auf ein rechtsstaatliches Verfahren zur Prüfung der Schutzbedürftigkeit mit ef-
fektivem gerichtlichem Rechtsschutz. Demnach ist das Zurückweisen und Ab-
drängen von Flüchtlingsbooten ohne vorherige Durchführung eines rechtsstaat-
lichen Prüfverfahrens in der EU völkerrechtlich, europarechtlich und men-
schenrechtlich verboten.

In dem Beschluss des Rates zur Überwachung der Seeaußengrenzen der Euro-
päischen Union bekennt sich die EU nicht nur zur uneingeschränkten Gültig-
keit des SRÜ, des SOLAS, des SAR-Übereinkommens sowie der GFK und der
EMRK auch auf Hoher See (ABl. L 111/20 vom 4.5.2010 – Erwägungs-
grund 6). In den im ersten Anhang zu diesem Beschluss enthaltenen „Vorschrif-
ten für die von der Agentur koordinierten Maßnahmen an den Seegrenzen“
wird darüber hinaus explizit darauf hingewiesen, dass „keine Person unter Ver-
stoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung ausgeschifft oder auf andere
Weise den Behörden eines Landes überstellt werden darf, in dem die Gefahr der
Ausweisung oder Rückführung in ein anderes Land unter Verstoß gegen diesen
Grundsatz besteht“ (vgl. hierzu u. a. Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 16/3541 – hier: S. 4 f. – sowie die Kleine
Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/8974 und die Antworten der Bundes-
regierung auf Bundestagsdrucksachen 16/9204 und 17/368). Die praktische
Anwendung dieses Beschlusses ist Gegenstand einer Evaluierung der EU-
Kommission, denn die Rettung Schiffbrüchiger (insbesondere im Mittelmeer)
hat sich trotz der Beschlüsse der IMO bzw. der EU nicht grundlegend verbessert.

Daher sind – neben derartigen Beschlüssen – wirksame operative Mechanis-
men zur Seenotrettung im Mittelmeer dringend notwendig, um kleine Schiffe
im offenen Meer und in den Küstengewässern leichter entdecken und den Ein-
satz von Such- und Rettungsaktivitäten sowie deren Erfolgsaussichten erhöhen
zu können. Noch mangelt es in der Praxis an der erforderlichen Koordination
zwischen EU-Staaten, die für die zügige Rettung Schiffbrüchiger und die
schnelle Identifizierung eines sicheren Hafens, in dem die Flüchtlinge aufge-
nommen werden können, notwendig wäre. Die aus der Radar- und Satelliten-
überwachung zur Verfügung stehenden Informationen sollten für die Seenot-
rettung genutzt werden, nicht aber für das Zurückdrängen von Flüchtlings-
booten. Dies sollte europarechtlich ebenso sichergestellt werden wie die An-
wendung der Leitlinien des UNHCR und der Internationalen Organisation für
Migration (IOM) zur Seenotrettung aus dem Jahr 2006.

II. Der Deutsche Bundestag fordert daher die Bundesregierung auf,

1. dafür einzutreten, dass die völkerrechtliche Pflicht zur Seenotrettung im
Mittelmeerraum innerhalb der Europäischen Union konsequent durchge-
setzt, umfassend beachtet und eingehalten wird;

2. sich dafür einzusetzen, dass das völkergewohnheitsrechtliche Prinzip des
Non-Refoulements auch auf Hoher See von allen EU-Mitgliedstaaten und
auch im Rahmen von FRONTEX-Missionen (FRONTEX = Europäische
Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) gewissen-

haft beachtet und seine Gewährleistung durch wirksame Maßnahmen sicher-
gestellt werden;

Drucksache 17/6467 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
3. die Koordination zwischen EU-Staaten bei der Seenotrettung zu verbes-
sern, um die zügige Rettung Schiffbrüchiger durch staatliche Schiffe des
Grenzschutzes und die schnelle Einigung auf einen sicheren Hafen für die
Aufnahme der Flüchtlinge zu gewährleisten;

4. bei der Koordination zwischen den EU-Staaten auf die Instrumente der
Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) und des
gemeinsamen Informationsraumes SafeSeaNet zurückzugreifen;

5. EU-Mitgliedstaaten an den Seegrenzen der EU bei maritimen Überwa-
chungs-, Kommunikations- und Operationsmaßnahmen sowie bei Seenot-
rettungen finanziell zu unterstützen;

6. darauf hinzuwirken, dass die Anwendung der Leitlinien von UNHCR und
IOM zur Seenotrettung europarechtlich garantiert wird;

7. sich bei den EU-Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, dass bei der Seenotret-
tung von Schutzsuchenden und Flüchtlingen umgehend der UNHCR kon-
taktiert wird;

8. sich für eine europarechtliche Regelung zum Schutz von Seenotrettenden
vor Strafverfolgung wegen Schlepperei einzusetzen;

9. die Untersuchung der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
über die Vorwürfe der unterlassenen Hilfeleistung von maritimen euro-
päischen Streitkräften und NATO-Einsatzkräften zu unterstützen und auf
Anfrage zu kooperieren;

10. darauf hinzuwirken, dass Handels- und Kreuzfahrtschiffe, Fähren und
Fischereifahrzeuge auf europäischer Ebene einen finanziellen Ausgleich
für Seenotrettungen erhalten;

11. dafür einzutreten, dass Informationen der Radar- und Satellitenüber-
wachung des Mittelmeers für Seenotrettungen genutzt werden;

12. zur Vermeidung von Seenotfällen nordafrikanische Staaten bei der Notver-
sorgung von Flüchtlingen und der Schaffung eines Asylsystems zu unter-
stützen;

13. sich für eine gemeinsame europäische Asylpolitik einzusetzen und eine
solidarische und menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen in der EU
zu ermöglichen.

Berlin, den 5. Juli 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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