BT-Drucksache 17/6389

Armuts- und Reichtumsbericht zum Ausgangspunkt für Politikwechsel zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit machen

Vom 30. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6389
17. Wahlperiode 30. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Dr. Petra Sitte,
Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich,
Klaus Ernst, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, Harald Koch, Jutta Krellmann,
Cornelia Möhring, Yvonne Ploetz, Michael Schlecht, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Dr. Axel Troost, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Armuts- und Reichtumsbericht zum Ausgangspunkt für Politikwechsel
zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit machen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist im Grundsatz ein wichtiges
Instrument der Analyse der sozialen Wirklichkeit in Deutschland. Sie muss
daher fortgeführt und verbessert werden.

2. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht ist ein vernichtendes Zeugnis für die
Ergebnisse langjähriger rot-grüner Regierungspolitik. Der 4. Armuts- und
Reichtumsbericht wird absehbar ein vernichtendes Zeugnis für die Koalition
der CDU/CSU und SPD ausstellen. So weist das Statistische Bundesamt auf
der Grundlage der EU-Silc-Daten einen Anstieg der Einkommensarmut von
12,7 Prozent (2005) auf 15,5 Prozent (2008) aus. Einen Anstieg der Armut in
längerer Perspektive hat auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung
e. V. (DIW) auf der Grundlage des Sozio-oekonomischen Panels ermittelt: So
lag das Risiko von Einkommensarmut nach dieser Quelle Anfang der 90er-
Jahre bei rund 12 Prozent; die Einkommensarmut stieg seitdem bis 2008 auf
14 Prozent an – dies entspricht etwa 11,5 Millionen Personen (DIW Wochen-
bericht 7/2010).

3. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung wird bislang nicht genutzt, um
konkrete politische Instrumente und Maßnahmen in Hinblick auf ihren Bei-
trag zur Entwicklung von Armut und sozialer Ausgrenzung zu untersuchen.
Der Einfluss konkreter Politiken auf die Entwicklung der sozialen Lage
bleibt daher außen vor bei der Analyse – eine wissenschaftliche und unabhän-
gige Bewertung der Regierungspolitiken findet faktisch nicht statt. In den
bisherigen Berichten verkommen die entsprechenden Ausführungen zu rei-
ner Propaganda für die jeweilige Bundesregierung.

4. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung analysiert bislang ebenso wenig

die sozialen Kosten und Verwerfungen, die durch Armut und soziale Ungleich-
heit produziert werden. Es ist angebracht, die wissenschaftlichen Erkenntnisse
von Kate Pickett und Richard Wilkinson zu den sozialen Folgekosten von so-
zialer Ungleichheit zur Kenntnis zu nehmen und im Rahmen der Armuts- und
Reichtumsberichterstattung auf die sozialen Verhältnisse in Deutschland zu
beziehen (vgl. Pickett/Wilkinson, „Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Ge-
sellschaften für alle besser sind“, Tolkemitt Verlag 2009).

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5. Die Tatsache, dass so viele Menschen in Deutschland in Armut leben müssen
oder von Armut bedroht sind, ist für die reiche Bundesrepublik Deutschland
ein Skandal. Die Einführung einer nationalen Armuts- und Reichtumsbe-
richterstattung hat den Prozess der sozialen Spaltung dokumentiert, aber
nicht aufhalten können. Insofern besteht weniger ein Erkenntnis- als ein Um-
setzungsdefizit: Es fehlt an dem politischen Willen zu einem grundlegenden
sozialpolitischen Kurswechsel, die die Umverteilung der materiellen Res-
sourcen von unten nach oben umkehrt und soziale Sicherheit und Teilhabe
am gesellschaftlich geschaffenen Reichtums für alle realisiert.

6. Die schwarz-gelbe Bundesregierung setzt in ihrer Regierungspraxis die Poli-
tik der sozialen Spaltung ihrer Vorgängerregierungen fort. Die Durchführung
des Europäischen Jahres gegen Armut und soziale Ausgrenzung (2010) oder
das regierungsamtliche Kleinrechnen des menschenwürdigen Existenzmini-
mums zeigen aktuell die Ignoranz der amtierenden Bundesregierung gegen-
über den Problemen von Armut und sozialer Ausgrenzung. Die praktische
Politik der Haushaltskonsolidierung wirkt im Gegenteil armutsfördernd und
ausgrenzend. Mit den Maßnahmen des Haushaltsbegleitgesetzes 2011 wird
massiv bei den Ärmsten – insbesondere bei Hartz-IV-Leistungsberechtigten –
gekürzt, während Vermögende, Banken und Unternehmen geschont werden.
Um den Sozialabbau zu verschleiern werden für Kinder und Jugendliche im
Rahmen des sog. Bildungspakets ein paar Gutscheine verteilt. Die Bundes-
regierung spaltet die Gesellschaft.

7. Mit der Vorlage des sog. Nationalen Reformprogramms im April 2011 hat die
Bundesregierung schließlich eine intellektuelle Kapitulationsurkunde vor-
gelegt. In Reaktion auf die EU-Vereinbarung, die Anzahl der Menschen in
Armut bis 2020 um 25 Prozent zu reduzieren (EU-2020-Strategie), definiert
die Bundesregierung Armut in Langzeiterwerbslosigkeit um und ignoriert
damit sämtliche, spätestens seit dem Gipfel des Europäischen Rats von
Laeken (2001) etablierten, europäischen Konventionen zur Definition von
Armut. Die Bundesregierung dokumentiert damit ausdrücklich ihren fehlen-
den politischen Willen zu einer strategischen Kurskorrektur hin zu einer
Politik der sozialen Umverteilung und des sozialen Ausgleichs.

8. Der Deutsche Bundestag betont, dass ein grundlegender politischer Kurs-
wechsel notwendig ist, um Armut und soziale Ausgrenzung effektiv und
nachhaltig zu bekämpfen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den 4. und die weiteren Armuts- und Reichtumsberichte dahingehend quali-
tativ zu verbessern, dass

a) repräsentative, aussagekräftige und vergleichbare Daten verwendet und in
den Mittelpunkt der politischen Schlussfolgerungen gestellt werden;

b) die Berichterstattung über den Bestand und die Entwicklung von Armut
explizit auf den etablierten Konventionen der Europäischen Union aufbaut
(Laeken-Indikatoren);

c) die Berichterstattung über den Bestand und die Entwicklung des Reich-
tums erheblich verbessert wird und zusätzliche Indikatoren und Befunde
zu diesen Themen präsentiert werden;

d) Analysen zum Ausmaß und zu Ursachen verdeckter Armut in allen Grund-
sicherungssystemen und zur Nichtinanspruchnahme von anderen Sozial-
leistungen (z. B. Kinderzuschlag, Wohngeld) unternommen werden;

e) in einem eigenständigen Kapitel des Berichts der Zusammenhang zwischen
Einkommens- und Vermögensverteilung und sozialer Integration analysiert

wird; hier sind insbesondere die Ausführungen und Erkenntnisse zu den
Kosten der Ungleichheit von Kate Pickett und Richard Wilkinson für die

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sozialen Verhältnisse in Deutschland zu prüfen und zu konkretisieren; ein
Konzept für die Ermittlung der mittel- und langfristigen Kosten von so-
zialer Ungleichheit und fehlender Teilhabegerechtigkeit ist zu erarbeiten;

f) in einem eigenständigen Kapitel eine ausführliche Analyse von Kinder-
und Jugendarmut vorgelegt wird;

g) Studien und Gutachten an regierungsunabhängige Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler vergeben werden, die die verteilungs- und armuts-
politischen Effekte zentraler politischer Entscheidungen untersuchen und
dokumentieren. Zunächst sind folgende politische Entscheidungen zu
untersuchen:
1. die kumulierten Wirkungen der Steuerreformen der vergangenen zehn

Jahre,
2. die Auswirkungen der sog. Agenda 2010 – insbesondere der Einfüh-

rung von Hartz IV,
3. die (Teil-)Privatisierung der Alterssicherung und
4. die Haushaltsbegleitgesetze 2010 und 2011 der konservativ-liberalen

Regierungskoalition;

h) künftig in den Berichten Handlungsanleitungen und -konzepte für kon-
krete Politiken zur Vermeidung von Armut und sozialer Ausgrenzung so-
wie die Herstellung einer gerechten Gesellschaft ausgeführt werden;

2. den 4. Armuts- und Reichtumsbericht zum Anlass zu nehmen, ein umfassen-
des Programm zur Beseitigung von Armut und sozialer Ausgrenzung und der
gesundheitlichen Folgen auszuarbeiten und vorzulegen. Bei der Ausarbei-
tung des Programms werden relevante Akteure – insbesondere auch Gewerk-
schaften, Sozialverbände, Behindertenverbände sowie Vereinigungen von
Betroffenen – einbezogen;

3. unmittelbar wirksame Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und zur Verbes-
serung der sozialen und gesundheitlichen Situation der Betroffenen zu ergrei-
fen und hierzu Gesetzentwürfe vorzulegen, die insbesondere folgende Punkte
beinhalten:

a) einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn einzuführen, der „Ar-
mut trotz Arbeit“ verhindert und bis 2013 eine Höhe von 10 Euro pro
Stunde erreicht haben muss;

b) ein öffentliches Investitionsprogramm zur Schaffung zusätzlicher Arbeits-
plätze im Rahmen eines sozialökologischen Umbaus der Wirtschaftsstruk-
turen aufzulegen sowie die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik auf
die Schaffung guter Arbeit und die Zurückdrängung prekärer Beschäfti-
gungsverhältnisse zu verpflichten;

c) die Leistungen der Grundsicherungssysteme (Zweites Buch Sozialgesetz-
buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende, „Hartz IV“, Zwölftes Buch
Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe) anzuheben und zwar unverzüglich auf
500 Euro;

d) den Bedarf für Kinder und Jugendliche unverzüglich eigenständig neu zu
ermitteln und die Regelsätze entsprechend anzuheben;

e) sofort das Kindergeld und den bedarfsorientierten Kinderzuschlag auf je
200 Euro zu erhöhen und zu einem eigenständigen Kindergrundsiche-
rungsanspruch für Kinder unter Berücksichtigung von eigenem Einkom-
men und Unterhaltsansprüchen weiterzuentwickeln;

f) das Wohngeld bedarfsgerecht zu erhöhen (Erweiterung, Familienkom-

ponente, Bruttowarmmiete als Grundlage der Wohngeldberechnung);

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g) eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung in Gesundheit und
Pflege einzuführen und die Praxisgebühren und Zuzahlungen abzuschaffen;

4. wirksame Maßnahmen zu ergreifen, die von Armut betroffenen oder bedroh-
ten Menschen langfristige Lebensperspektiven jenseits der Armut eröffnen
und hierzu

a) gemeinsam mit den Ländern eine sozial gerechte und demokratische Bil-
dungsreform durchzuführen, die dafür sorgt, dass bestehende soziale
Ungleichheiten nicht durch unzureichende individuelle Förderung, soziale
Auslese und Ausgrenzung verstärkt werden, sondern jedem Kind Ent-
wicklungsmöglichkeiten eröffnet;

b) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Kürzungen in der aktiven Ar-
beitsmarktpolitik rückgängig macht und durch die Förderung beruflicher
Aus- und Weiterbildung berufliche Perspektiven für Erwerbslose zu eröff-
nen sowie für Menschen, die auf dem privat organisierten Arbeitsmarkt
kaum Chancen haben, öffentlich geförderte sozialversicherungspflichtige
und existenzsichernde Beschäftigung bereitzustellen;

c) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der den bedarfsdeckenden Ausbau ge-
bührenfreier Kinderganztagsbetreuung finanziell absichert und durch fami-
lienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf – insbesondere auch für Alleinerziehende – gewährleistet;

d) einen Gesetzentwurf vorzulegen, welcher im Rahmen einer solidarischen
Erwerbstätigenversicherung die Lebensstandardsicherung der gesetzlichen
Rente wiederherstellt, indem die Absenkung des Sicherungsniveaus der
gesetzlichen Rente, die Rente erst ab 67 Jahre und die ungerechtfertigten
Abschläge in der Erwerbsminderungsrente zurückgenommen werden, so-
wie im Rahmen der Erwerbstätigenversicherung eine solidarische ein-
kommens- und vermögensgeprüfte Mindestrente in armutsfester Höhe
einzuführen;

e) einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die Teilhabe aller Menschen mit
Behinderung durch bedarfsgerechte, einkommens- und vermögensun-
abhängige Ausgleiche behinderungsbedingter Nachteile ermöglicht und
sichert;

f) einen Gesetzentwurf vorzulegen, um Gesundheitsförderung und nicht-
medizinische Primärprävention als wichtiges Instrument zur Verringerung
sozial bedingter gesundheitlicher Ungleichheit zentral zu verankern;

5. der zunehmenden Ungleichheit der Einkommen und Vermögen durch eine
sozial gerechte Steuerpolitik entgegenzuwirken. Einen Gesetzentwurf vorzu-
legen, der die Verursacherinnen und Verursacher der Finanzmarktkrise und
die Nutznießerinnen und Nutznießer der sozialen Spaltung durch die Einfüh-
rung einer wirkungsvollen Bankenabgabe, einer europaweiten Finanztrans-
aktionssteuer sowie erhöhter Steuern auf Unternehmen und Vermögen zu der
Wiederherstellung eines handlungsfähigen öffentlichen Haushalts zur Kasse
bittet.

Berlin, den 30. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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