BT-Drucksache 17/6372

40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen

Vom 29. Juni 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/6372
17. Wahlperiode 29. 06. 2011

Antrag
der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Matthias W.
Birkwald, Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze,
Dr. Rosemarie Hein, Dr. Barbara Höll, Katja Kipping, Harald Koch, Jutta
Krellmann, Cornelia Möhring, Richard Pitterle, Yvonne Ploetz, Dr. Ilja Seifert,
Kathrin Senger-Schäfer, Kathrin Vogler, Harald Weinberg, Jörn Wunderlich,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

40-jähriges BAföG-Jubiläum für soziale Weiterentwicklung nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der individuelle Erfolg im Bildungssystem hängt in Deutschland in hohem
Maße vom Einkommen und der gesellschaftlichen Stellung des Elternhauses
ab. Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) spielt eine wichtige
Rolle dabei, soziale Ungleichheiten im Bildungssystem abzubauen. Die Geset-
zesbegründung formulierte den Anspruch, „soziale Unterschiede […] auszu-
gleichen“ und „durch Gewährung individueller Ausbildungsförderung auf eine
berufliche Chancengleichheit der jungen Menschen hinzuwirken“ (Bundestags-
drucksache VI/1975).

Unmittelbar nach seiner Einführung im Jahr 1971 wurden gut 44 Prozent der
Studierenden gefördert. In der Folge näherte sich die soziale Zusammensetzung
der Studierendenschaft der Struktur der Gesamtgesellschaft an. Allerdings
haben heute nur rund 20 Prozent der Studierenden einen Arbeiter als Vater und
8 Prozent eine Arbeiterin als Mutter (vgl. 19. Sozialerhebung des Deutschen
Studentenwerks, hrsg. 2010). Gemessen an ihrem Anteil in der altersspezifischen
Bevölkerung von 39 Prozent sind Arbeiterkinder an Hochschulen damit deutlich
unterrepräsentiert.

Inzwischen, zum 40. Jahrestag des Gesetzes, ist festzustellen, dass das Gesetz
den ursprünglichen Ansprüchen immer weniger gerecht wird. Der Anteil der ge-
förderten Studierenden betrug 2008 keine 18 Prozent mehr. Erschreckend niedrig
ist auch der Anteil der dem Grunde nach BAföG-berechtigten Studierenden mit
nur 71 Prozent. Rund zwei Drittel der Studierenden arbeiten neben dem
Studium. Das BAföG leistete 2009 mit nur 15 Prozent einen verhältnismäßig
geringen Beitrag zur Finanzierung von Studierenden (48 Prozent leisteten die
Eltern, 26 Prozent leistete der eigene Verdienst laut der 19. Sozialerhebung).

Nicht zuletzt deuten mehrere Indikatoren darauf hin, dass die soziale Ausgren-
zung an den Hochschulen nicht abnimmt sondern zunimmt.

Diese Zahlen belegen, dass die heutige Ausgestaltung des BAföG an den Bedürf-
nissen vieler Schülerinnen, Schüler und Studierenden vorbeigeht. Es ist deshalb
geboten, das Jubiläum zum Anlass zu nehmen, das Bundesausbildungsförde-
rungsgesetz zu reformieren.

Drucksache 17/6372 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf für eine Ausweitung der Ausbildungsförderung vorzule-
gen, der folgende Elemente enthält:

1. Die Bedarfssätze müssen den tatsächlichen Bedarf für Lebensunterhalt und
Ausbildung der Auszubildenden berücksichtigen. Sie sind zum 1. Oktober
2011 um zehn Prozent anzuheben. Zusätzlich ist zu regeln, dass jährlich
automatisch die Entwicklung der Lebenshaltungs- und Ausbildungskosten
mindestens ausgeglichen wird.

2. Die Ausbildungsförderung ist zukünftig nicht mehr mit Verschuldung ver-
bunden, sie wird wieder als Vollzuschuss gewährt.

3. Der Kreis der Berechtigten wird deutlich erweitert: In einem ersten Schritt
werden zum 1. Oktober 2011 die Förderung von Schülerinnen und Schülern
an weiterführenden allgemeinbildenden Schulen in der Oberstufe, Berufs-
fachschulen sowie Fach- und Fachoberschulklassen wiederhergestellt, die
Höchstaltersgrenze von 30 bzw. 35 Lebensjahren gestrichen, Beschränkun-
gen für die Förderung eines Masterstudiums aufgehoben, Fördermöglichkei-
ten für Schülerinnen, Schüler und Studierende in Teilzeit geschaffen und die
Einkommensfreibeträge um zehn Prozent angehoben.

4. Die Berufsausbildungsbeihilfe wird ausgebaut, so dass Lernende in betrieb-
lichen sowie außer- und überbetrieblichen Ausbildungen bei individuellem
Bedarf auch unterstützt werden können wenn sie einen eigenen Haushalt
gründen, bis durch geeignete Maßnahmen in diesen Bereichen der Berufs-
ausbildung eine Ausbildungsvergütung sichergestellt ist, die Auszubildende
grundsätzlich von weiterer staatlicher Unterstützung unabhängig macht.

5. Die Förderhöchstdauer bemisst sich nicht mehr nach administrativ festge-
setzten Regelstudienzeiten, sondern fachspezifisch nach der tatsächlichen
durchschnittlichen Studiendauer.

6. Für Studierende mit Behinderung wird auch über den ersten berufsqualifizie-
renden Abschluss hinaus eine bedarfsgerechte Assistenz beim Besuch der
Hochschule (Leistungen der Eingliederungshilfe nach § 54 Absatz 1 Num-
mer 2 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch) als Nachteilsausgleich ein-
kommens- und vermögensunabhängig gewährt.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

ein Konzept zu erarbeiten, wie die Ausbildungsförderung für alle Volljährigen,
die sich in Ausbildung befinden, bei jeweils individuellem Bedarf mittelfristig
zu einer elternunabhängigen Förderung ausgebaut werden kann, ohne neue
soziale Benachteiligungen entstehen zu lassen. Eine entsprechende Reform der
Ausbildungsförderung muss so ausgestaltet sein, dass sozial schlechter gestellte
Haushalte entlastet werden und finanzstarke Haushalte etwa über höhere Ein-
kommen-, Vermögen- und Erbschaftsteuern einen stärkeren Beitrag zur Ausbil-
dung junger Menschen leisten.

Berlin, den 29. Juni 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/6372

Begründung

Bildung ist ein Menschenrecht, dessen Verwirklichung Priorität haben muss.
Viele Studien belegen aber, dass das deutsche Bildungssystem noch mehr als
die Bildungssysteme anderer Industriestaaten Kinder und Jugendliche systema-
tisch benachteiligt, wenn sie aus Haushalten mit niedrigen Einkommen oder
aus Arbeiterhaushalten kommen oder einen Migrationshintergrund haben. Fak-
tisch können sie aufgrund ihrer sozioökonomischen Herkunft deutlich seltener
ihre gewünschten Ausbildungswege realisieren. Deutlich benachteiligt werden
auch Menschen mit Behinderung.

Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) war lange Zeit einer der
wichtigsten Bausteine zur Überwindung sozialer Benachteiligungen. Das Ziel
muss es sein, allen Menschen unabhängig vom Geldbeutel ihrer Eltern oder ih-
rer sozialen Herkunft eine freie Wahl ihrer Ausbildung und ihres Berufsweges
zu ermöglichen. Es ist nicht hinnehmbar, dass die Wahrscheinlichkeit von Bil-
dungsabschlüssen in hohem Maße von der sozialen Herkunft abhängt. Laut der
19. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks nehmen 73 Prozent aller
Akademikerkinder, aber nur 17 Prozent aller Arbeiterkinder ein Studium auf.

Eine wesentliche Ursache ist das mehrgliedrige Schulsystem, das die Schüle-
rinnen und Schüler zu einem frühen Zeitpunkt sortiert. Viele Bildungshürden
sind jedoch finanzieller Art. 76 Prozent der „Studienberechtigten ohne Studien-
absicht“ geben das Fehlen der finanziellen Voraussetzungen als Grund für ihren
Studienverzicht an; bei 69 Prozent dieser Gruppe würden Studiengebühren – die
noch in Hamburg, Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg zu entrich-
ten sind – die finanziellen Möglichkeiten übersteigen (vgl. Studienentscheidung
im Kontext der Studienfinanzierung, HIS: Forum Hochschule 5/2011).

Das BAföG ist dazu bestimmt, Auszubildende in die Lage zu versetzen, ihren
Lebensunterhalt und ihre Ausbildungskosten zu bestreiten. Bei der Einführung
des BAföG betonte die Bundesregierung, dass mit dem Gesetz nur ein Stück auf
dem Weg zum Abbau von Bildungsschranken zurückgelegt wurde und stellte
weitere Schritte in Aussicht (109. Sitzung des Deutschen Bundestages am
24. März 1971). In den letzten Jahrzehnten ist die Ausbildungsförderung jedoch
ganz im Gegenteil dieser Aufgabe immer weniger gerecht geworden. Seit
Anfang der 80er-Jahre setzte in der Folge eine restaurative Entwicklung im Hin-
blick auf die soziale Zusammensetzung der Studierendenschaft und speziell die
Bildungsbeteiligung von Arbeiterkindern ein. Die notwendigen Erhöhungen der
Bedarfssätze und Einkommensfreibeträge im BAföG wurden verschleppt. Zu-
dem werden Studiengebühren nicht berücksichtigt, obwohl sie eindeutig zur
Erhöhung der Ausbildungskosten beitragen. Es klafft eine Finanzierungslücke
von mindestens zehn Prozent, die viele Auszubildende über zusätzliche Er-
werbstätigkeit decken. Diese Kluft muss in einem ersten Schritt geschlossen
werden. Um zukünftig ein Auseinanderdriften der tatsächlichen Kosten der Aus-
bildung und der Höhe des BAföG zu vermeiden, muss ein System für eine auto-
matische Dynamisierung der Bedarfssätze entwickelt werden. Dabei muss auch
die bestehende Struktur ungleicher Bedarfssätze für Studierende und Auszubil-
dende in unterschiedlichen schulischen Ausbildungen überarbeitet und verein-
heitlicht werden.

Die Bundesregierung verlangt zunehmend von den geförderten Studierenden,
dass sie sich verschulden, um ihr Studium zu finanzieren. Dies ist der falsche
Weg, denn 71 Prozent der Studienberechtigten ohne Studienabsicht nennen die
Angst vor Verschuldung als Grund für ihren Studienverzicht (vgl. Studienent-
scheidung im Kontext der Studienfinanzierung, HIS: Forum Hochschule 5/2011).
Gerade für Frauen stellt dies ein besonders hohes Verzichtsmotiv dar (74 Prozent
der Frauen und 66 Prozent der Männer). Als das BAföG Anfang der 80er-Jahre

auf ein (zinsloses) Volldarlehenssystem umgestellt wurde, hatte dies deutlichen
Einfluss auf die BAföG-Gefördertenquote. Die bisherige Darlehenskomponente

Drucksache 17/6372 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

im BAföG verunsichert viele Studierende und schreckt insbesondere Studienin-
teressierte aus finanzschwachen Schichten von der Aufnahme einer Ausbildung
an einer Hochschule, Akademie oder höheren Fachschule ab. Die BAföG-Leis-
tungen sollten deshalb zukünftig, wie in der Anfangszeit des BAföG, für alle
Berechtigten ohne die Notwendigkeit der Verschuldung, also als Vollzuschuss,
bezahlt werden.

Das BAföG kommt nur einer kleinen Minderheit der Studierenden und sehr
wenigen Schülerinnen und Schülern zugute. Der Kreis der BAföG-Berechtig-
ten muss deutlich ausgeweitet werden. Zudem werden viele Auszubildende in
Berufsausbildungen von den Leistungen der Berufsausbildungsbeihilfe ausge-
schlossen, obwohl sie keine angemessene Ausbildungsvergütung erhalten.

Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Schichten müssen früh
und durchgängig gefördert werden. Sie sind besonders auf eine verlässliche
Ausbildungsförderung angewiesen. Dementsprechend soll das BAföG für
Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe allgemeinbildender Schulen wieder
vollständig eingeführt werden. Auch die Förderung für Auszubildende in voll-
zeitschulischen Ausbildungsgängen muss ausgebaut werden, so dass auch
Schülerinnen und Schüler unterstützt werden, die weiter bei ihren Eltern woh-
nen oder einen eigenen Haushalt gründen, unabhängig davon, ob sie verheiratet
sind oder Kinder haben. Die Altersgrenzen von 30 bzw. 35 Lebensjahren (letz-
tere für geförderte Masterstudiengänge) müssen fallen. Sie stellen vor allem für
Menschen ein Hindernis dar, die im Anschluss an eine Berufsausbildung, an
Jahre der Berufstätigkeit oder an eine Familienphase studieren oder sich ausbil-
den möchten oder die Hochschulzugangsberechtigung anders als auf dem
traditionellen Weg erworben haben, damit also für genau die Gruppen, die es
besonders zu fördern gilt. In diesem Zusammenhang dürfen auch Studierende,
Schülerinnen und Schüler in Teilzeit nicht generell von einer Förderung aus-
geschlossen werden (Beispiel Psychotherapeutenausbildung). Auch die Be-
schränkung der BAföG-Förderung auf bestimmte Masterstudiengänge ist nicht
gerechtfertigt und muss beseitigt werden. Der Niedergang des Anteils der
BAföG-Geförderten unter den Menschen in Ausbildung ist auch eine Folge da-
von, dass die Grenzen für die Einkommen der Eltern viel zu niedrig angesetzt
sind. Die Einkommensfreibeträge müssen deshalb in einem ersten Schritt um
zehn Prozent angehoben werden. Auch für sie ist eine jährliche automatische
Mindestanpassung vorzusehen.

Im Rahmen der Arbeitsförderung muss zukünftig ermöglicht werden, dass Aus-
zubildende in betrieblichen oder außerbetrieblichen Berufsausbildungen Be-
rufsausbildungsbeihilfe auch dann erhalten, wenn sie einen eigenen Haushalt
gründen. Sie haben ein Recht darauf, als selbständige Menschen behandelt zu
werden. Berufsausbildungsbeihilfe wird dann unnötig, wenn durch geeignete
Maßnahmen endlich sichergestellt ist, dass Auszubildende in Berufsausbildun-
gen eine angemessene Ausbildungsvergütung erhalten.

Die Förderhöchstdauer des BAföG bemisst sich nicht nach der tatsächlichen
Studiendauer, sondern nach Planzahlen. Dies führt dazu, dass Studierende oft
in der Schlussphase ihres Studiums zur Finanzierung ihres Lebensunterhaltes
an die Banken verwiesen werden. Die Förderdauer muss deshalb fachspezifisch
der tatsächlichen durchschnittlichen Studiendauer angepasst werden.

Durch die Aufspaltung der bisherigen Studiengänge Magister und Diplom in
Bachelor und Master ist für Studierende mit Behinderung eine Verkürzung
ihrer Ansprüche auf Assistenz im Studium verbunden. Die Beschränkung die-
ser Ansprüche auf die Bachelorphase des Studiums ist zu beseitigen.

Studierende, Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe und Auszubildende
haben das Recht, als eigenständige Personen behandelt zu werden. Sie müssen

in die Lage versetzt werden, die Entscheidung über ihren Ausbildungs- und

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/6372

Berufsweg selbständig zu treffen. Schon 1970 hatten die SPD auf ihrem Saar-
brücker Parteitag und die Bundesregierung in ihrem Grundsatzbeschluss vom
4. Juli 1970 die Entwicklung der individuellen Ausbildungsförderung in Rich-
tung auf Familienunabhängigkeit beschlossen. Die Umsetzung blieb jedoch
aus. Deshalb wird die Bundesregierung aufgefordert, ein Konzept dafür zu ent-
wickeln, die Ausbildungsförderung für alle Volljährigen in Ausbildung bei
individuellem Bedarf mittelfristig zu einer elternunabhängigen Förderung aus-
zubauen. Eine bessere Ausbildungsförderung kostet Geld. Es geht um die Kos-
ten für die Ausbildung der nächsten Generationen, die nicht privat, sondern von
der Gesellschaft zu tragen sind. Diese Kosten müssen solidarisch finanziert
werden. Deshalb ist durch die Steuer- und Abgabenpolitik sicherzustellen, dass
die Ausweitung der Förderung zu einer Verbesserung für sozial schlechter
gestellte Haushalte führt, während hohe Vermögen, Privateinkommen und Ge-
winne verstärkt zur Finanzierung dieser gesellschaftlichen Aufgabe herangezo-
gen werden.

Die Ausweitung des BAföG ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass
sich junge Menschen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft für einen ihren
Interessen entsprechenden Beruf entscheiden und eine qualifizierte Ausbildung
abschließen können, dass mehr Schülerinnen und Schüler eine Hochschul-
zugangsberechtigung erwerben sowie dafür, dass sie unabhängig von ihrer
sozialen Herkunft ein Studium aufnehmen und erfolgreich zu Ende führen kön-
nen.

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