BT-Drucksache 17/5909

Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivilbevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen

Vom 25. Mai 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5909
17. Wahlperiode 25. 05. 2011

Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel,
Memet Kilic, Claudia Roth (Augsburg), Omid Nouripour, Josef Philip Winkler,
Marieluise Beck (Bremen), Kai Gehring, Ulrike Höfken, Ingrid Hönlinger, Thilo
Hoppe, Uwe Kekeritz, Kajta Keul, Ute Koczy, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln),
Dr. Konstantin von Notz, Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian
Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für die Unterstützung der humanitären Hilfe zugunsten der libyschen Zivil-
bevölkerung und der Flüchtlinge aus Libyen und für eine menschenwürdige
Behandlung und Aufnahme von Schutzbedürftigen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Infolge des bewaffneten Konfliktes in Libyen verschlechtert sich die humanitäre
und menschenrechtliche Lage stetig. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen
hat in seinen Resolutionen 1970 und 1973 die Menschenrechtsverletzungen und
die ausgedehnten und systematischen Angriffe Libyens gegen die eigene Zivil-
bevölkerung verurteilt. Da der libysche Staat seine Schutzverantwortung gegen-
über der eigenen Bevölkerung verletzt, ist es Aufgabe der internationalen Staa-
tengemeinschaft, diese wahrzunehmen.

Der Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen ist und bleibt die größte Sorge der
internationalen Staatengemeinschaft. Insbesondere Frauen, Kinder und ältere
Menschen sind in extremer Not. In besonders umkämpften Gebieten werden
dringend Medikamente, medizinisches Personal und Trinkwasser benötigt. Um
die notleidende libysche Bevölkerung mit den grundlegendsten humanitären
Gütern versorgen zu können, startete das VN-Büro für die Koordination huma-
nitärer Angelegenheiten (OCHA) am 7. März 2011 einen Hilferuf (Regional
Flash Appeal for the Libyan Crisis 2011), der am 18. Mai 2011 aktualisiert
wurde. Von den vom OCHA benötigten 408 Mio. US-Dollar sind bisher aber nur
43 Prozent (175 Mio. US-Dollar) gedeckt. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass
die Bundesregierung dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK)
Hilfsgüter, Medikamente und medizinische Ausrüstung bereitgestellt hat. An-
gesichts der sich zuspitzenden humanitären Lage und der nur zögerlich einge-
henden finanziellen Zusagen ist die Beteiligung der Bundesregierung an der

Ausstattung von OCHA jedoch dringend notwendig. Nur durch eine Auf-
stockung der Mittel durch die internationale Staatengemeinschaft kann die
humanitäre Versorgung in Libyen und den angrenzenden Flüchtlingslagern
sichergestellt werden.

In Misrata, der einzigen von Rebellen kontrollierten Stadt in Westlibyen, ist die
humanitäre Lage besonders kritisch. Die drittgrößte Stadt Libyens mit 300 000
Einwohnern wird seit über zwei Monaten belagert und angegriffen. Die Wasser-

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und Elektrizitätsversorgung ist erheblich beeinträchtigt. Medikamente und me-
dizinisches Personal für Behandlungen fehlen. Der Zugang zu Nahrungsmitteln
ist aufgrund der andauernden Kämpfe beschränkt, obwohl durch internationale
Hilfslieferungen momentan ausreichend Lebensmittel zur Verfügung stehen.

Angesichts der eskalierenden Gewalt und der humanitären Notlage sind bereits
803 000 Menschen aus Libyen geflohen (OCHA, 18. Mai 2011). Die meisten
Menschen verlassen Libyen über den Landweg nach Ägypten (284 590 Men-
schen) und Tunesien (397 870 Menschen). Auf dem Luft-, See- oder Landweg
finden aber auch Ausreisen in andere Staaten statt. In Misrata wurden bereits
über 10 000 Menschen evakuiert. Der Deutsche Bundestag begrüßt, dass die
Bundesregierung UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Natio-
nen) darin unterstützt hat, Drittstaatsangehörige in ihre Heimatländer zurückzu-
bringen. Es warten aber immer noch 4 700 Personen auf ihre Ausreise. Diese ge-
staltet sich derzeit aufgrund von Angriffen durch libysche Regierungstruppen
auf den Hafen von Misrata als sehr schwierig, beziehungsweise unmöglich.

Besonders prekär ist die Lage von Flüchtlingen und schutzsuchenden Personen
aus Drittstaaten, die sich bereits vor dem Ausbruch des Konfliktes in Libyen auf-
gehalten haben. In Libyen sind 8 000 Menschen als Flüchtlinge und 3 000 als
Schutzsuchende beim UNHCR registriert. Unter ihnen befinden sich Palästinen-
ser, irakische Staatsangehörige sowie sudanesische, äthiopische, somalische und
eritreische Flüchtlinge. Da diese Personen aufgrund der berechtigten Furcht vor
Verfolgung nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können, hat der
UNHCR, António Guterres, die internationale Staatengemeinschaft Mitte März
2011 gebeten, sogenannte Resettlement-Plätze zur Verfügung zu stellen.

Der UNHCR hat in diesem Rahmen auch die Bundesregierung in einem Schrei-
ben an den Bundesminister des Innern, Dr. Hans-Peter Friedrich, und das Aus-
wärtige Amt gebeten, konkrete Möglichkeiten für die Neuansiedlung einer
Anzahl von Flüchtlingen und Schutzsuchenden in Deutschland zu prüfen. Die
abschlägige Antwort der Bundesregierung ist äußerst bedauerlich und unver-
ständlich. Der Einsatz der Bundesregierung und anderer EU-Mitgliedstaaten für
einen demokratischen Wandel und einen besseren Schutz der Menschenrechte in
Nordafrika muss auch die Bereitschaft zur Aufnahme von Menschen einschlie-
ßen, die durch die gewalttätigen Auseinandersetzungen um die Zukunft Libyens
ihre Zuflucht verloren haben. Auf die Umwälzungen im arabischen Raum sollte
die Bundesregierung nicht mit Abschottung, sondern mit Solidarität reagieren
und die nordafrikanischen Staaten, insbesondere Ägypten und Tunesien, mit der
Aufnahme von Schutzbedürftigen entlasten.

Obwohl Ägypten und Tunesien durch Regimewechsel und Reformen in ihrem
eigenen Land im besonderen Maße belastet sind, tragen diese Staaten die Haupt-
last und haben die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Sie sollten jede erdenkli-
che Hilfe und Unterstützung erhalten. Insgesamt muss in den Flüchtlingslagern
in Ägypten und Tunesien die Nahrungsmittel-, Wasser- und Hygieneversorgung
fortdauernd durch die internationale Staatengemeinschaft sichergestellt werden.
Aufgrund der traumatischen Erlebnisse in Libyen und auf der Flucht sollten die
Flüchtlinge psychologische Hilfe erhalten. Insbesondere für Kinder ist die Si-
tuation in den Flüchtlingslagern sehr schwierig. UNICEF (Kinderhilfswerk der
Vereinten Nationen) hat deshalb auf den Bedarf an kinderfreundlichen Räumen
und Freizeitaktivitäten in den Flüchtlingslagern aufmerksam gemacht.

Seit Mitte Januar 2011 sind 27 922 Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den
Seeweg auf der italienischen Insel Lampedusa eingetroffen. Viele der in Italien
ankommenden Tunesier beabsichtigen nicht, einen Asylantrag zu stellen. Dies
darf jedoch nicht dazu führen, dass die Schutzbedürftigkeit aller in Italien an-
kommenden Menschen von vornherein abgelehnt wird. Die Europäische Union

sollte Italien und Malta darin unterstützen, jedem Menschen das Recht auf ein
faires Asylverfahren zu gewähren. Außerdem muss sie den Aufnahmeländern

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dabei helfen, eine menschenwürdige Unterbringung der dort ankommenden
Menschen sicherzustellen. Die humanitäre Betreuung aller Personen, insbeson-
dere von Frauen, Kindern und Verletzten, sollte gewährleistet sein. Zudem soll-
ten den zuständigen Behörden eine ausreichende Anzahl an Dolmetschern,
Rechtsanwälten, Ärzten, Psychologen und Sozialarbeitern zur Seite gestellt wer-
den. So kann sichergestellt werden, dass besondere Bedürfnisse sofort erkannt
werden und besonders schutzbedürftige Personen eine gesonderte Fürsorge er-
halten.

Der UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) gehen
aufgrund der hohen Anzahl der aus Libyen geflohenen Personen von steigenden
Fluchtbewegungen nach Italien und Malta aus. Weil die Aufnahmekapazitäten
Italiens und Maltas bereits stark in Anspruch genommen sind und Menschen-
rechtsorganisationen die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge in Ita-
lien als unzureichend kritisieren, sollte die Bundesregierung von Dublin-II-
Rücküberführungen in diese Staaten unbedingt absehen.

Die EU-Kommissarin für Inneres, Cecilia Malmström, hatte am 6. April 2011
den EU-Mitgliedstaaten den vorausschauenden Vorschlag unterbreitet, die EU-
Richtlinie über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes
im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen (2001/55/EG) zu aktivieren.
Diese Richtlinie bietet die Grundlage für einen solidarischen Lastenausgleich
unter den EU-Mitgliedstaaten zugunsten der primär vom Flüchtlingsdruck be-
troffenen Staaten. Auf der EU-Innenministerkonferenz am 11. April 2011 in
Luxemburg haben sich Deutschland und andere Staaten aber gegen diesen Vor-
schlag ausgesprochen. Dabei ist es notwendig, dass sich Deutschland und die
EU auf verstärkte Fluchtbewegungen aus Libyen und auf eine solidarische und
menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen vorbereiten. Der Deutsche Bun-
destag begrüßt, dass die Bundesregierung beschlossen hat, 100 Schutzbedürftige
aus Malta aus humanitären Gründen aufzunehmen. Dieses Zeichen von Solida-
rität sollte jedoch keine einmalige Handlung bleiben. Die Bundesregierung
sollte gemeinsam mit den Bundesländern weitere Aufnahmen von Schutzbe-
dürftigen aus humanitären Gründen ermöglichen.

Die Seenotrettung der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX sollte aus-
gebaut werden, um Schiffsunglücke wie das vom 4. April 2011 vor Lampedusa
zukünftig zu verhindern, bei dem 250 Menschen ums Leben kamen. Das Zu-
rückweisen und Abdrängen von Bootsflüchtlingen aus Nordafrika ist menschen-
rechtswidrig und muss beendet werden. Alle FRONTEX-Einsätze sollten mit
einer menschenwürdigen Unterbringung der Ankommenden und einem fairen
Verfahren zur Prüfung der Schutzbedürftigkeit einhergehen. Ein besserer Schutz
der Flüchtlinge kann nur durch eine stärkere Zusammenarbeit mit dem UNHCR
gelingen.

Insgesamt sollte für den Zustrom von Migranten und Flüchtlingen an den EU-
Außengrenzen eine europäische Lösung gefunden werden, die allen entspre-
chenden internationalen und europäischen Menschenrechtsnormen gerecht
wird. Schon beim ersten Kontakt mit europäischen Behörden sollte sicherge-
stellt sein, dass Flüchtlinge das Verfahren verstehen und rechtlichen Beistand
finden. Besondere Bedürfnisse müssen erkannt werden und Gehör finden. Un-
begleitete Minderjährige und Kinder müssen eine besondere Fürsorge erhalten.
Alle Mitgliedstaaten der EU sind für die Aufnahme von Flüchtlingen und Asyl-
bewerbern verantwortlich. Eine Neuverhandlung der Dublin-II-Verordnung ist
unbedingt notwendig, um eine gerechtere Aufteilung von Flüchtlingen in der
Europäischen Union zu ermöglichen. Derzeit ist die Dublin-II-Verordnung
unhaltbar, weil sie keine ausreichende Teilung der Verantwortung unter den Mit-
gliedstaaten vorsieht.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. internationale Organisationen wie UNHCR und IOM bei der Evakuierung
von Drittstaatsangehörigen, libyschen Flüchtlingen und anderen Personen,
insbesondere aus Misrata, zu unterstützen;

2. humanitär agierende internationale Organisationen wie OCHA oder das
IKRK bei der Versorgung von besonders umkämpften Gebieten mit Medi-
kamenten, medizinischem Personal und Trinkwasser zu unterstützen;

3. den OCHA Regional Flash Appeal for the Libyan Crisis 2011 finanziell zu
unterstützen und innerhalb der internationalen Staatengemeinschaft, ins-
besondere der Europäischen Union, darauf hinzuwirken, dass die noch
fehlenden finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden;

4. in gemeinsamer Anstrengung mit internationalen Organisationen der Ent-
wicklung einer Nahrungsmittelkrise in Libyen entgegenzuwirken;

5. UNICEF weiterhin darin zu unterstützen, Kampagnen in Libyen durchzu-
führen, um insbesondere Kinder über die Gefahren von Antipersonenminen
sowie das sichere Verhalten in verminten Gebieten aufzuklären;

6. IOM bei der Unterbringung von Binnenvertriebenen und der Sicherung der
Nahrungsmittel- und Wasserversorgung zu unterstützen;

7. Ägypten und Tunesien bei der menschenwürdigen Aufnahme von Flücht-
lingen finanziell, personell und durch Lieferung humanitärer Güter zu
unterstützen, um so die Errichtung angemessener Unterkünfte mit entspre-
chenden Sanitäranlagen zu ermöglichen, die Nahrungsmittel- und Wasser-
versorgung sicherzustellen und eine gesonderte Fürsorge für besonders
schutzbedürftige Personen wie Frauen, Kinder und unbegleitete Minderjäh-
rige zu gewährleisten;

8. UNHCR in Ägypten und Tunesien finanziell bei der Prüfung der Schutz-
bedürftigkeit von schutzsuchenden Personen und deren Betreuung zu unter-
stützen;

9. UNICEF bei der Errichtung von kinderfreundlichen Räumen sowie der
Bereitstellung von Freizeitaktivitäten in Flüchtlingslagern zu unterstützen;

10. gemeinsam mit der internationalen Staatengemeinschaft den Bedarf an
psychologischer Hilfe in tunesischen und ägyptischen Flüchtlingslagern zu
decken;

11. Italien und Malta bei der menschenwürdigen Aufnahme der dort ankom-
menden Personen personell und finanziell zu unterstützen, um deren
humanitäre Betreuung sicherzustellen und zu gewährleisten, dass die
Schutzbedürftigkeit aller schutzsuchenden Personen in einem rechtsstaat-
lichen Verfahren geprüft wird;

12. die Aufnahme weiterer schutzbedürftiger Personen aus Malta und Italien
aus humanitären Gründen zu prüfen;

13. der Bitte des UNHCR vom 15. März 2011 nachzukommen und die Neuan-
siedlung einer Anzahl von Flüchtlingen und Schutzsuchenden in Deutsch-
land zu ermöglichen;

14. sich auf eine solidarische und menschenwürdige Aufnahme von Flüchtlingen
insbesondere aus Libyen vorzubereiten und sich gegebenenfalls im Rat der
Europäischen Union für die Aktivierung der Richtlinie über Mindestnor-
men für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massen-
zustroms einzusetzen, sodass eine solidarische Aufnahme von Flüchtlingen
innerhalb der EU-Mitgliedstaaten gewährleistet werden kann;

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15. keine Dublin-II-Rücküberführungen nach Italien und Malta durchzuführen;

16. die Seenotrettung der Europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX auszu-
bauen;

17. nachdrücklich für ein Ende der Zurückweisung und des Abdrängens von
Bootsflüchtlingen aus Nordafrika einzutreten und dazu beizutragen, dass
alle Flüchtlinge unverzüglich Zugang zu einem fairen Asylverfahren be-
kommen, in dem ihre Schutzbedürftigkeit geprüft wird;

18. sicherzustellen, dass Flüchtlinge schon beim ersten Kontakt mit euro-
päischen Behörden das Verfahren verstehen, rechtlichen Beistand finden
und besonderen Bedürfnissen von Frauen, Kindern und unbegleiteten Min-
derjährigen Rechnung getragen wird;

19. bei FRONTEX-Einsätzen Sorge zu tragen, dass diese immer mit einer men-
schenwürdigen Unterbringung der Ankommenden und einem fairen Ver-
fahren zur Prüfung der Schutzbedürftigkeit einhergehen und eine Zusam-
menarbeit mit und die Finanzierung von UNHCR erfolgt;

20. gemeinsam mit anderen EU-Mitgliedstaaten eine europäische Lösung für
den Umgang mit Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen zu finden, die
allen entsprechenden internationalen und europäischen menschenrecht-
lichen Normen gerecht wird;

21. darauf hinzuwirken, die Dublin-II-Verordnung neu zu verhandeln und eine
solidarische Aufnahme und Betreuung von Flüchtlingen innerhalb der
Europäischen Union zu ermöglichen.

Berlin, den 25. Mai 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

In Anbetracht der Angriffe der lybischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung
bleibt die Verhinderung weiterer Menschenrechtsverbrechen oberste Priorität
der internationalen Staatengemeinschaft. Die NATO wirft den libyschen Regie-
rungstruppen vor, Soldaten als Zivilisten zu tarnen, militärisches Gerät neben
Krankenhäusern, Schulen und Moscheen zu verstecken und Frauen und Kinder
als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Internationale Organisationen
gehen von tausenden Todesopfern aus; gesicherte Opferzahlen gibt es bisher
jedoch nicht. Nach Angaben des Vorsitzenden des Nationalen Übergangsrates,
Mustafa Abdul Dschalil, sind seit dem Ausbruch der Gewalt in Libyen am
17. Februar 2011 bereits 10 000 Menschen ums Leben gekommen, unter ihnen
viele Zivilisten. Nichtregierungsorganisationen berichten vom Einsatz inter-
national geächteter Streumunition durch libysche Regierungstruppen. Da diese
Waffen nicht gezielt angewendet werden können und unterschiedslos auch Zivi-
listen treffen, erklärten die Vereinten Nationen, dass der Einsatz von Streumuni-
tion in den Wohngebieten Misratas ein Kriegsverbrechen darstellen könne.

Kritisch ist weiterhin die Versorgung der Stadt Misrata mit humanitären Gütern.
Vertreter der libyschen Regierung sicherten OCHA zwar am 18./19. April 2011
einen Landkorridor nach Misrata zu, derzeit kann die Stadt aufgrund der anhal-
tenden Kampfhandlungen aber nur über den Seeweg mit Lebensmitteln und
Medikamenten versorgt werden. Aufgrund der Angriffe auf den Hafen von

Misrata durch libysche Regierungstruppen müssen aber diese Lieferungen im-

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mer wieder unterbrochen werden. Humanitäre Organisationen fordern bislang
kein militärisches Geleit für humanitäre Missionen an. Eine solche militärische
Unterstützung sollte erst zum Einsatz kommen, wenn dies von den VN angefor-
dert und von humanitär agierenden Organisationen ausdrücklich erwünscht
wird. Auch in vielen anderen Gebieten Westlibyens leidet die Bevölkerung unter
den Kampfhandlungen. Regierungstruppen beschießen Städte in der Bergregion
zwischen der Hauptstadt Tripolis und der tunesischen Grenze.

Laut Angaben von OCHA droht dem Osten Libyens bei anhaltender Gewalt in
zwei Monaten eine gravierende Nahrungsmittelkrise. Auch bei der Trinkwasser-
versorgung stehen Einschränkungen bevor, da für die Entsalzungsanlagen und
Pumpsysteme die letzten Bestände an Chemikalien und an Öl aufgebraucht wer-
den. Insbesondere Frauen und Kleinkinder leiden darunter, dass außerdem
Hygieneartikel knapp werden. Aufgrund der vermuteten Verwendung von Land-
minen hat UNICEF auf die Notwendigkeit hingewiesen, Aufklärungskampag-
nen durchzuführen, um insbesondere Kinder vor den Gefahren dieser Waffen zu
warnen.

Eine weitere große Herausforderung für die internationale Gemeinschaft ist die
Versorgung der Binnenvertriebenen. In Bengasi sind 35 000 Binnenflüchtlinge
bei den lokalen Behörden registriert (OCHA Inter-Agency Assessment Mission
to Eastern Libya). Der Großteil hält sich bei Gastfamilien auf. 6 000 Personen
leben in provisorischen Unterkünften. Die Gastfamilien decken zwar die Grund-
bedürfnisse der Binnenvertriebenen, sollte der Konflikt aber andauern, so wird
das die finanziellen und materiellen Ressourcen der libyschen Bevölkerung
übersteigen. Bereits jetzt hat IOM Schwierigkeiten, die Unterbringung der Ver-
triebenen sowie deren Nahrungsmittel- und Wasserversorgung sicherzustellen.

Auch Tunesien und Ägypten stoßen bei der Versorgung der Flüchtlinge aus
Libyen an ihre Grenzen. Tunesische Staatsbürger beweisen bislang eine enorme
Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Weniger als 10 Prozent der Flüchtlinge
aus Libyen suchen Zuflucht in Flüchtlingslagern, die meisten kommen in Gast-
familien unter. Langfristig werden sich aber auch deren Ressourcen erschöpfen.
In den vergangenen drei Wochen sind 30 000 Libyer aus der westlichen Nafusa-
Bergregion in den Süden Tunesiens geflohen. Dieser Zustrom von Flüchtlingen
stellt eine zunehmende Belastung für Tunesien dar. In Dehibat droht eine Ein-
schränkung der Grundversorgung. An dem ägyptischen Grenzübergang in
Saloum hat der Zugang zu sauberem Trinkwasser für die Flüchtlinge oberste
Priorität für internationale Organisationen. Eine weitere Herausforderung in
Saloum ist die Errichtung von Unterkünften.

Innerhalb der Europäischen Union müssen sich insbesondere Italien und Malta
mit der Aufnahme von Flüchtlingen auseinandersetzen. Unter den seit Mitte Ja-
nuar 2011 auf Lampedusa gelandeten 27 922 Flüchtlingen und Arbeitsmigranten
befinden sich 23 002 Tunesier und 4 920 andere Staatsangehörige (783 Eritreer,
393 Ivorer, 293 Somalier, 254 Nigerianer, 246 Ghanaer, 209 Äthiopier, 125 Pa-
kistaner, 123 Malier, 96 Bangladescher und 19 Libyer). Der Großteil dieser
Personen wurde auf andere Aufnahmelager in Italien verteilt. Die insgesamt
29 Aufnahmezentren in Italien haben aber nur eine Kapazität für 9 500 Perso-
nen. Zurzeit befinden sich noch 18 Tunesier und neun Personen anderer Natio-
nalität auf Lampedusa. Auf Malta sind 1 106 Personen aus Libyen angekommen,
unter ihnen befinden sich 411 Somalier, 272 Eritreer, 100 Äthiopier, 50 Ivorer,
28 Malier und 14 Pakistaner.

Deutschland und die Europäische Union sollten Italien und Malta bei der men-
schenwürdigen Unterbringung dieser Flüchtlinge und Arbeitsmigranten unter-
stützen. Da von steigenden Fluchtbewegungen nach Italien und Malta auszuge-
hen ist, muss die Seenotrettung von FRONTEX unbedingt ausgebaut werden.

Die Europäische Kommission geht davon aus, dass jährlich zwischen 3 000 und
4 000 Menschen an den EU-Außengrenzen sterben. Momentan verhandelt die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/5909

Europäische Kommission mit Tunesien über einen möglichen FRONTEX-Ein-
satz in tunesischen Küstengewässern. Ein solcher Einsatz ist abzulehnen. Sollte
ein FRONTEX-Einsatz vor der Küste Tunesiens dennoch zu Stande kommen,
muss sich in dessen Konzeption ein besserer Schutz der Menschenrechte von
Flüchtlingen niederschlagen.

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