BT-Drucksache 17/5042

EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben

Vom 16. März 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/5042
17. Wahlperiode 16. 03. 2011

Antrag
der Abgeordneten Claudia Roth (Augsburg), Dr. Frithjof Schmidt, Manuel Sarrazin,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel,
Ulrike Höfken, Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Katja Keul,
Memet Kilic, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Kerstin Müller (Köln),
Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele,
Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederbeleben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Türkei erlebt seit zehn Jahren eine atemberaubende Entwicklung. Der Ein-
fluss des Militärs ist beschnitten, die Kurdenfrage wird offen debattiert und die
Lage der Menschenrechte hat sich insgesamt verbessert, auch wenn noch wei-
tere Reformen notwendig sind. Die türkische Wirtschaft weist seit Jahren eine
der weltweit höchsten Wachstumsraten auf; das Pro-Kopf Einkommen liegt über
dem einiger EU-Mitgliedstaaten. Gleichwohl bleiben noch einige wesentliche
Aufgaben, z. B. bei den Menschenrechten, der Rechtsstaatlichkeit sowie Kultur-
und Religionsfreiheit. Europa läuft Gefahr, seine Politik auf der Basis eines
nicht zeitgemäßen Türkeibildes aufzubauen. Die neue Türkei ist wohlhabender
und selbstbewusster aber nach wie vor auf der Suche nach europäischer Moder-
nisierung.

Derweil stagnieren die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei. Zwar wur-
den 13 von 35 Verhandlungskapiteln seit 2005 eröffnet und eines auch schon ge-
schlossen. Allerdings werden acht Kapitel auf Beschluss des Rates von 2006 bis
auf weiteres nicht geöffnet, andere Kapitel werden unilateral und im Wider-
spruch zur einstimmig gefassten Beschlusslage der EU von einzelnen Mitglied-
staaten blockiert, so dass nur noch drei Kapitel für eine mögliche Eröffnung zur
Verfügung stehen. Vom bisherigen Rhythmus einer Kapiteleröffnung pro Präsi-
dentschaft wurde bereits abgewichen. Die befürchtete Gefahr, die Verhandlun-
gen könnten ganz zum Stillstand kommen, ist faktisch eingetreten.

Die Bundesregierung ist für diese Blockade mit verantwortlich, da sie es zulässt,
dass die Beziehungen zur Türkei zum Spielball nationaler Interessen einzelner
Mitgliedstaaten werden. Durch ihre Passivität signalisiert sie, dass der EU-Bei-

tritt der Türkei nicht erwünscht sei. So bekommt die Türkei keine faire Chance,
mittels der Verhandlungen schließlich Mitglied der Europäischen Union werden
zu können.

Mit der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen im Oktober 2005 haben die
Europäische Union und die Türkei einen Prozess in Gang gesetzt, an dessen
Ende eine Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union stehen kann.
Um in die Europäische Union aufgenommen zu werden, muss die Türkei die

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politischen und wirtschaftlichen Kopenhagen-Kriterien erfüllen und die Werte
der EU aus Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union achten und um-
setzen. Diese Werte sind nicht verhandelbar. Von einem Beitrittsautomatismus
kann daher keine Rede sein. Die türkische Regierung macht selbst deutlich, dass
vor einem Beitritt weitere grundlegende Staats- und Rechtsreformen durchge-
führt werden müssen.

Die unmittelbare Frage der Mitgliedschaft stellt sich zum jetzigen Zeitpunkt
nicht. Ein Beitritt bleibt an klare Konditionen geknüpft. Vor der Öffnung und
dem Abschluss jedes einzelnen Verhandlungskapitels müssen Zielmarken erfüllt
werden, die im Vorfeld gemeinsam mit dem Kandidaten festgelegt werden. Der
Rat muss der Öffnung und dem Abschluss jedes Kapitels zustimmen. Die strikte
Einhaltung der Kriterien stärkt die Glaubwürdigkeit des Beitrittsprozesses. Im
Gegenzug muss aber auch die Beitrittsperspektive für die Türkei glaubwürdig
bleiben. Die Türkei muss durch ihre Reformfortschritte das Tempo der Beitritts-
verhandlungen selbst bestimmen können.

Der Wunsch nach Zugehörigkeit zu Europa ist der Gründungsmythos der mo-
dernen Türkei. Diese zentrale Identität der türkischen Gesellschaft wird durch
die einseitige Aufkündigung der Beitrittsoption durch maßgebliche politische
Akteure der EU heute in Frage gestellt. Die politischen Kosten dieser Haltung
werden bereits deutlich: Die Kräfte der Modernisierung in der Türkei sind ihrer
politischen Perspektive beraubt. Die Blockadehaltung hat bereits dazu geführt,
dass die Türkei ihrerseits beginnt, sich vom Beitrittsprozess abzuwenden. Schon
jetzt wird deutlich, dass die Türkei bestrebt ist, eine selbstständige tragende
geopolitische Rolle einzunehmen. Außenpolitik ist nicht zuletzt auch Symbol-
politik. Der Umgang mit der Türkei wird prägend für die Rolle Europas im
Nahen Osten und in Nordafrika und damit für Europas eigene wirtschaftliche
und politische Sicherheit sein. Die EU steht also vor der Wahl, die geostrate-
gischen Vorteile einer modernen, demokratischen und gleichzeitig islamisch ge-
prägten Türkei mit zu nutzen oder die Türkei anderen Einflüssen zu überlassen
und die Sympathien für die EU in der türkischen Gesellschaft dauerhaft zu ver-
spielen.

Wenn die EU ihre eigenen Werte glaubwürdig vertreten will und Rechtsstaat,
Menschenrechte, individuelle Freiheit und Demokratie unabhängig von der re-
ligiösen Prägung einer Gesellschaft als Maßstab anlegt, muss sie den Verhand-
lungsprozess zum EU-Beitritt der Türkei mit neuem Leben erfüllen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. mit neuen außen- und europapolitischen Initiativen die Blockadehaltung in
den EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzugeben und auf höchster
Ebene gegenüber der Türkei glaubhaft deutlich zu machen, dass Deutschland
an einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive der Türkei interessiert ist;

2. sich gegenüber den anderen Mitgliedstaaten dafür einzusetzen, die Blocka-
den von Seiten einzelner Mitgliedstaaten zu lösen;

3. die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei wieder ergebnisoffen zu ge-
stalten und nicht faktisch zu verhindern;

4. den proeuropäischen Kräften in der Türkei den Rücken zu stärken;

5. sich gegenüber den anderen Mitgliedstaaten und der Türkei dafür einzuset-
zen, die Blockaden aufgrund mangelnder Umsetzung des Ankara-Protokolls
zu lösen;

6. die Forderungen des vom Deutschen Bundestag angenommenen Antrags
(Bundestagsdrucksache 16/5259) in der Zypernfrage umzusetzen und sich

nicht einseitig in diesem Konflikt zu positionieren;

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7. Schritte zur Erleichterung der Erteilung von Visa einzuleiten, die die oft un-
würdigen Prozeduren insbesondere für offensichtlich nicht an dauerhafter
Immigration interessierten Gruppen wie Studenten, Professoren und Ge-
schäftsleute beendet.

Berlin, den 15. März 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Die Türkei hat sich in den letzten zehn Jahren wesentlich modernisiert – ökono-
misch wie politisch. Das türkische Bruttosozialprodukt umfasst das Vierfache
des gesamten westlichen Balkans, das Pro-Kopf-Einkommen liegt über dem
Bulgariens und Rumäniens und das Wirtschaftswachstum ist global eines der
höchsten. Die politischen Reformen sind fortgeschritten aber weder ausreichend
noch gesichert. Dennoch: Zumindest wirtschaftlich ist der ehemals „kranke
Mann am Bosporus“ heute lebendiger als so mancher EU-Europäer.

Im Interesse der Menschen in der Türkei, nicht zuletzt der Minderheiten, muss
Deutschland die Reformen der Türkei aktiv unterstützen. Ihre moralische und
politische Autorität gewinnt die EU dabei aber allein durch eine glaubwürdige
türkische EU-Beitrittsperspektive. Vor mehr als 40 Jahren wurde der Türkei eine
Beitrittsperspektive eröffnet. Seit Oktober 2005 werden Beitrittsverhandlungen
geführt. Entgegen der offiziellen EU-Beschlusslage betreiben die Bundeskanz-
lerin Dr. Angela Merkel und die CDU gemeinsam mit dem französischen Staats-
präsidenten Nicolas Sarkozy eine Blockadehaltung und versuchen, ihr gänzlich
rückwärtsgewandtes kulturdeterministisches Motiv mit ihrer konturlosen Politik
der sogenannten privilegierten Partnerschaft zu kaschieren. Diese Politik setzt
zentrale strategische wirtschafts-, außen- und sicherheitspolitische Interessen
Deutschlands und der EU für innenpolitische Taktik aufs Spiel.

Die Wahrheit aber ist: Zentrale Pfeiler der bestehenden wirtschaftlichen Integra-
tion gründen sich auf die Beitrittsperspektive und drohen bei deren Verlust zu
zerfallen. „Privilegierte Partnerschaft“ wäre ein Rückschritt vom Status Quo.

Nur eine glaubwürdige Beitrittsperspektive unterstützt das Land bei der Fortset-
zung des erfolgreichen demokratisch-rechtsstaatlichen Wandels. Es ist in unse-
rem ureigenen Interesse, die Türkei in die EU einzubinden. Der Beitrittsprozess
wird in der Türkei die rechtsstaatlichen Reformen und die demokratischen Insti-
tutionen stärken. Rückschritte oder Missstände im rechtsstaatlichen Bereich
sind scharf und unmissverständlich zu kritisieren. So sprechen Gepflogenheiten
der türkischen Justiz, ihre Verdächtigen stets direkt und vorbeugend ins Gefäng-
nis zu stecken, allen rechtsstaatlichen Normen Hohn. Es ist nicht hinnehmbar,
dass die Festgenommenen Monate oder Jahre in Haft bleiben, bis der Prozess be-
ginnt. Das ist eine Vorverurteilung und Vorbestrafung der Betroffenen. Die Tür-
kei braucht eine Justizreform, die dieser Praxis ein Ende setzt.

Ein zukünftiges EU-Mitglied Türkei kann außerdem ein stabilisierender Anker
in der angrenzenden krisengeschüttelten und im Umbruch befindlichen Region
sein. Die weitere Vertiefung der demokratischen und rechtsstaatlichen Refor-
men kann zudem leuchtendes Beispiel dafür sein, dass unsere Vorstellungen von
Rechtsstaat und Menschenrechten mit islamisch geprägten Gesellschaften kom-
patibel sind.

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Die einseitige Prägung des deutschen Türkeibildes droht die gesellschaftliche
Dynamik der Türkei zu übersehen, die in Europa einzigartig ist. Eine junge,
immer besser ausgebildete Bevölkerung ist oft besser mit den USA als mit der
EU verbunden. Vielen in Deutschland und anderen Ländern der EU lebenden
Bürgern türkischer Herkunft oder Staatsangehörigkeit wird durch eine ehrliche
Beitrittsperspektive die Integration erleichtert. Ein Beitritt der Türkei in die EU
wäre somit nicht nur ein Gewinn für die Sicherheit Europas, sondern brächte
auch gesellschaftliche und ökonomische Vorteile, die unter anderem durch As-
pekte der zukünftigen Energiepolitik ergänzt werden. Es besteht außerdem die
Chance, die Türkei vom atompolitischen Irrweg abzubringen. Der Bau mehrerer
Atomkraftwerke auf erdbebengefährdetem Territorium ist vorgesehen. Fast das
gesamte Staatsgebiet der Türkei ist erdbebengefährdet. Mit der Eröffnung neuer
Verhandlungskapitel kann ein Interessenausgleich besser erreicht werden.

Neben der sicherheitspolitischen und ökonomischen Dimension brächte der ak-
tive Beitrittsprozess auch Fortschritte bei der Wiedervereinigung Zyperns. Die
EU hat 2004 Zypern als Mitglied akzeptiert, aber nicht ihre Verantwortung für
die Lösung dieses Problems. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN will,
dass die EU durch aktive und ausgewogene Diplomatie die Wiedervereinigung
Zyperns unterstützt und den Annäherungsprozess der zypriotischen Gesell-
schaften insbesondere durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft fördert, der
durch die direkten Gespräche wieder in Gang gekommen ist. Der Konflikt um
die seit 1974 geteilte Insel Zypern ist mittlerweile zum dauerhaften Problem im
Verhältnis der EU zur Türkei geworden. Die Türkei, Zypern und Griechenland
müssen dafür jeweils ihre Blockadehaltung aufgeben und dürfen der Wiederver-
einigung der Insel nicht mehr im Weg stehen.

Die erniedrigenden Prozeduren bei Visaangelegenheiten für offensichtlich nicht
an der Immigration nach Deutschland interessierte Reisende wie Kulturschaf-
fende, Studenten, Professoren, Geschäftsleute etc. führen zu berechtigter Verär-
gerung in breiten Gesellschaftskreisen der Türkei. Diese Nachlässigkeit seitens
der Bundesregierung schürt unnötige Ressentiments und konterkariert politische
und kulturelle Interessen und Werte Deutschlands.

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