BT-Drucksache 17/4838

Den Vorstand der Bahn AG mit fachkundigem Personal besetzen

Vom 22. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4838
17. Wahlperiode 22. 02. 2011

Antrag
der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin
Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus, Katrin Kunert, Caren
Lay, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Kornelia Möller, Jens
Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kersten Steinke, Sabine Stüber,
Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Den Vorstand der Deutschen Bahn AG mit fachkundigem Personal besetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Der Schienenverkehr ist bereits aus rein technischer und systemischer Sicht
eine hoch komplexe Angelegenheit, was an diejenigen, die in der Deutschen
Bahn AG (DB AG) führende Positionen einnehmen, hohe Anforderungen
hinsichtlich der Kenntnisse des Eisenbahnwesens, seiner Geschichte und
seiner gesetzlichen und übrigen formalen Grundlagen stellt.

2. In Zeiten des Klimawandels und der Ölknappheit ist seitens der Politik und
des Eigentümers an diejenigen, die bei der Deutschen Bahn AG maßgeb-
liche Positionen einnehmen, die Anforderung zu stellen, dass sie vorrangig
die Entwicklung und Stärkung der Schiene und eine nachhaltige Verkehrs-
und Bahnpolitik verfolgen.

3. Seit 1835 und rund ein Jahrhundert lang standen an der Spitze der Eisenbah-
nen in Deutschland Bahnchefs, die vom Fach und selbst ausgebildete Eisen-
bahner waren. Bis in die 90er-Jahre gab es bei der Deutschen Bahn AG zu-
mindest einzelne Vorstandsmitglieder, die selbst Eisenbahner waren. Seit
Ende der 50er-Jahre haben die Bundesbahnchefs keinen Eisenbahner-Hinter-
grund mehr. Seit Gründung der Deutschen Bahn AG gab es keinen einzigen
Bahnchef mit Eisenbahner-Hintergrund. Seit Ende der 90er-Jahre gibt es im
Vorstand der Deutschen Bahn AG kein einziges Vorstandsmitglied, das eine
Ausbildung als Eisenbahner erfuhr und längere Zeit bei einem Eisenbahnun-
ternehmen in der Praxis aktiv war.

4. Während in der Wirtschaft allgemein Wert darauf gelegt wird, dass Spitzen-
positionen nicht von Personen besetzt werden, die mit betriebsfremden Inte-
ressen in Verbindung gebracht werden können, wurde bzw. wird seit 1994
die Position des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG in drei von
vier Fällen von Personen eingenommen, die zuvor eng mit der Autoindustrie

und der Flugzeugbranche, also mit konkurrierenden Verkehrsträgern, ver-
bunden waren.

5. Die überwiegende Ausrichtung des Spitzenpersonals der Deutschen Bahn
AG auf Engagements im Ausland bei gleichzeitiger Vernachlässigung des
ursprünglichen Kerngeschäfts, des Schienenverkehrs im Inland, und die
Reaktionen dieses Führungspersonals auf die anhaltende Misere im inlän-

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dischen Schienenverkehr (Winterchaos 2009/2010, Sauna-ICE-Züge im
Sommer 2010, Winterchaos 2010/2011, Dauerkrise bei der S-Bahn-Berlin,
seit Sommer 2008 anhaltende Probleme mit den ICE-Radsatzwellen) doku-
mentieren, dass dieses Spitzenpersonal für die gestellten Aufgaben nicht ge-
eignet ist.

6. Die Deutsche Bahn AG ist laut Grundgesetz ein „Wirtschaftsunternehmen in
privatrechtlicher Form“. Dennoch ist das Unternehmen DB AG nicht mit
einer beliebigen Aktiengesellschaft gleichzusetzen, da der Bund nach Arti-
kel 87e Absatz 4 des Grundgesetzes zu gewährleisten hat, dass „dem Wohl
der Allgemeinheit, insbesondere den Verkehrsbedürfnissen (…) Rechnung“
getragen wird.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

darauf hinzuwirken, dass die Spitzenpositionen bei der Deutschen Bahn AG,
einschließlich der oder des Vorstandsvorsitzenden, in einem absehbaren Zeit-
raum mit Frauen und Männern besetzt werden, die sich für eine nachhaltige
Verkehrspolitik und die Stärkung der Bahn einsetzen. Fachliche und praktische
Kenntnisse des Eisenbahnwesens sollen ein wesentliches Besetzungskriterium
sein.

Berlin, den 22. Februar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1. Generell rekrutiert sich das Führungspersonal großer Unternehmen zu einem
großen Teil aus Personen, die aus demselben Unternehmen kommen oder in
der gleichen Branche Erfahrungen gesammelt haben. Das trifft insbesondere
für die Spitzenposition in Unternehmen zu. In der mit der Bahn konkurrie-
renden Autoindustrie stammen die Konzernchefs fast immer aus der Fahr-
zeugbranche selbst, oft haben sie im Unternehmen bei anderen Autokonzer-
nen über Jahrzehnte hinweg praktische Erfahrungen gesammelt, bevor sie
dort eine Spitzenposition einnahmen (das trifft im Fall des Daimler-Kon-
zerns zu auf die letzten Konzernchefs Edzard Reuter, Jürgen Schrempp und
Dieter Zetsche und im VW-Konzern zu auf die letzten Vorstandsvorsitzen-
den Ferdinand Piech, Bernd Pieschetsrieder und Martin Winterkorn). Die
große Mehrheit der Fahrzeugbranche-Vorstandsteams besteht aus Personen,
die im Unternehmen selbst oder in der Autoindustrie über viele Jahre hin-
weg tätig waren, bevor sie in das für das operative Geschäft entscheidende
Gremium aufrückten. Für eine solche Personalpolitik sprechen leicht nach-
vollziehbare Gründe: Wer ein Unternehmen dieser Art leiten soll, muss vom
Fach sein.

2. Ähnlich verhielt es sich bei den Eisenbahnen in deren Aufstiegs- und Blüte-
zeit, im 19. Jahrhundert und bis Ende des Ersten Weltkriegs: Die führenden
Positionen in den verschiedenen Länderbahnen wurden von gelernten Eisen-
bahnern eingenommen. Nach dem Ersten Weltkrieg begann sich dies zu ver-
ändern; die Reichsbahn war neu gegründet worden und teilweise ein politi-
siertes Unternehmen (ein Teil der Reparationsleistungen des Deutschen
Reichs mussten von der Reichsbahn geschultert werden). Mit Carl Gustav

Rudolf Oeser (1924 bis 1926) gab es erstmals einen Generaldirektor ohne
Eisenbahner-Hintergrund. Danach wurde die Spitzenposition bei der Bahn

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mit Julius-Heinrich Dorpmüller (1926 bis 1945) wieder von einem Eisen-
bahner eingenommen, der allerdings ebenfalls erheblich in die Politik einge-
spannt war und Mitverantwortung für die Rolle der Reichsbahn im Holo-
caust trug.

3. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die führenden Positionen bei der Bun-
desbahn zunächst mit Eisenbahnern besetzt: mit Walther Helbig (1949 bis
1952), einem Reichsbahningenieur, der zuvor Präsident des Reichsbahn-Zen-
tralamtes war, und Edmund Frohne (1952 bis 1957), der seit dem Ersten
Weltkrieg Eisenbahner war. Auf Walther Helbig folgte mit Heinz Maria
Öftering (1957 bis 1972) erstmals ein Nichteisenbahner als Erster Präsident
der Bundesbahn. Sein Nachfolger, Wolfgang Vaerst (1972 bis 1982), war
Jurist, der zuvor im Bundesministerium für Verkehr und für das Post- und
Fernmeldewesen tätig war. Ihm folgte Reiner Maria Gohlke (1982 bis 1990),
der zuvor in führender Position für IBM gearbeitet hatte. Es wäre
kurzschlüssig zu behaupten, dass die drei Letztgenannten – Nichteisen-
bahner – an der Spitze der Bundesbahn einen schlechten Job gemacht hätten.
Sie waren in ihrer Amtszeit auch noch in Teams eingebunden, die überwie-
gend aus Eisenbahnern bestanden. Von Reiner Maria Gohlke gingen bei-
spielsweise Initiativen aus, die den Schienenverkehr wieder belebten (wie die
Einführung der Zuggattung InterRegio, die Entwicklung des ICE und das
„Rosarote Wochenende“). Der Einfluss einer Verkehrspolitik, die den Schie-
nenverkehr nicht mehr förderte und ihn oftmals behinderte und abzubauen
gedachte, nahm jedoch in dieser Zeit bereits erheblich zu. So wurde in den
70er-Jahren, in der Amtszeit von Wolfgang Vaerst und unter Bundesminister
für Verkehr und für das Post- und Fernmeldewesen Kurt Gscheidle die – dann
nur in Teilen umgesetzte – Konzeption eines „Betriebsoptimalen Netzes“
(BoN), die Kappung des westdeutschen Schienennetzes auf 9 000 km und
damit auf weniger als die Hälfte, entwickelt.

4. Bei der DDR-Reichsbahn gab es in dieser Zeit ebenfalls einen Mix von poli-
tisch geprägten Generaldirektoren und klassischen Eisenbahnern im Spit-
zenamt. Willi Beesemer (1946 bis 1949) und Willi Kreikemeier (1949/1950)
sind der ersten Kategorie zuzuordnen; Erwin Kramer (1950 bis 1970) und
Otto Arndt (1970 bis 1989) der zweiten.

5. Seit Gründung der Deutschen Bahn AG im Januar 1994 gab es vier Vor-
standsvorsitzende der Deutschen Bahn AG. Die Besonderheit besteht darin,
dass drei von ihnen – Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube – aus
der Auto- und Flugzeugbranche stammten und jahrzehntelang in führenden
Positionen für den Daimler-Konzern beziehungsweise als Vertreter des Groß-
aktionärs Daimler bei EADS-Airbus gearbeitet hatten. Heinz Dürr, der 1990
bereits als Bundesbahnchef fungierte und der erste Vorstandsvorsitzende der
Deutschen Bahn AG war, war und ist zugleich Haupteigentümer der Dürr
AG, einem Autozulieferer, der laut eigenen Angaben ein Drittel des Welt-
markts für Autolackierautomaten kontrolliert. Unter Heinz Dürr wurde die
Bahnreform als formelle Bahnprivatisierung eingeleitet und das Projekt
Stuttgart 21 entwickelt. Unter Hartmut Mehdorn wurde die materielle Bahn-
privatisierung vorangetrieben und das zuvor auf Eis gelegte Projekt Stutt-
gart 21 neu belebt. Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube stehen für die
Orientierung der Deutschen Bahn AG auf Auslandsmärkte („global player“)
und für einen strikten Sparkurs im Inneren, der deutlich negative Folgen für
die Fahrgäste hat (Abschaffung des InterRegio 2001; Bahnpreissystem PEP
2002/2003; Einsatz nicht dauerfester ICE-Radsatzwellen; Sauna-ICE im
Sommer 2010, Winterchaos 2009/2010 und 2010/2011 und S-Bahn-Berlin-
Misere).
Am Ende der Ära Heinz Dürr wurde Johannes Ludewig – ein Beamter mit
Erfahrungen aus dem Bundesministerium für Verkehr und für das Post- und

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Fernmeldewesen – für einen kurzen Zeitraum Bahnchef (1997 bis 1999). In
seiner Amtszeit wurde Stuttgart 21 als „unwirtschaftliches Projekt“ identifi-
ziert und auf Eis gelegt; die Bahnprivatisierung wurde nicht vorangetrieben.

Hartmut Mehdorn äußerte, dass Zugfahrten bei einer Fahrtdauer von mehr
als vier Stunden nicht zumutbar seien. Er setzte sich noch in seiner Amtszeit
für den Erhalt und Weiterbetrieb des innerstädtischen Berliner Flughafens
Tempelhof ein. Nach seinem Rücktritt als Bahnchef äußerte er, dass er sich
nun um sein Aufsichtsratsmandat bei Air Berlin „kümmern kann“ (Handels-
blatt vom 9. September 2009).

Wie fatal die Auswirkungen sein können, wenn in einem Führungsgremium
der Deutschen Bahn AG branchenfremdes Denken vorherrscht, zeigte sich
2002/2003. In diesen ersten Jahren der Amtszeit von Hartmut Mehdorn als
Bahnchef, einem gelernten Flugzeugingenieur, Airbus- und Daimler-Mann,
wurde ein völlig neues Bahnpreissystem mit der Bezeichnung PEP entwi-
ckelt. Im Vorstand der Deutschen Bahn AG und in anderen Spitzenpositionen
im Unternehmen gab es ein Dutzend Leute, die von der Lufthansa zur Deut-
schen Bahn AG gewechselt waren. Das neue Fahrpreissystem orientierte sich
eng an der Buchungslogik und dem Tarifsystem bei den Airlines: Möglichst
viele Eisenbahnfahrten sollten im Voraus fest gebucht werden; Frühbucher
bekamen Rabatt. Gleichzeitig wurde die BahnCard50 abgeschafft. Damit
wurde ein Systemvorteil des Schienenverkehrs – der Fahrgast kann zu festen
Zeiten, möglichst stündlich oder gar halbstündlich, spontan in einen Zug ein-
steigen – aufgegeben. Es gelang dem Bahnmanagement, auch die Politik von
dem neuen Fahrpreissystem zu überzeugen. Die Bahnpreisreform scheiterte
jedoch auf der ganzen Linie. Hunderttausende Fahrgäste stimmten im ersten
Halbjahr 2003 mit den Füßen ab und wanderten von der Bahn ab zu anderen
Verkehrsmitteln. Die Politik musste eingreifen und veranlasste den Bahnvor-
stand, das Vorhaben weitgehend aufzugeben. Sogar die BahnCard50 musste
wieder eingeführt werden.

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