BT-Drucksache 17/4693

zu der Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer (Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP -17/4193, 17/4651- 60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen - Aussöhnung vollenden

Vom 9. Februar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4693
17. Wahlperiode 09. 02. 2011

Änderungsantrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Claudia Roth (Augsburg), Tom Koenigs,
Ekin Deligöz, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic, Monika Lazar, Jerzy Montag,
Dr. Konstantin von Notz, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus Brähmig, Stephan Mayer
(Altötting), Wolfgang Börnsen (Bönstrup), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Patrick Kurth (Kyffhäuser), Lars Lindemann, Reiner
Deutschmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP
– Drucksachen 17/4193, 17/4651 –

60 Jahre Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Aussöhnung vollenden

Der Bundestag wolle beschließen:

1. Die Überschrift wird wie folgt gefasst:

„Wahrhaftigkeit und Versöhnung als Grundlagen des Gedenkens – Das
Schicksal der deutschen Heimatvertriebenen in seinen historischen Kontext
einordnen“.

2. Der Feststellungsteil in Abschnitt I wird wie folgt gefasst:

„I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vertreibung ist gemäß § 7 des deutschen Völkerstrafgesetzbuches und Arti-
kel 7 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs ein Verbre-
chen gegen die Menschlichkeit. Trotz dieser Ächtung gehören Vertreibungen
und „ethnische Säuberungen“ in vielen Ländern der Welt noch immer zur bit-
teren Realität. Allein aus Darfur wurden seit 2003 über 2,5 Millionen Men-
schen vertrieben. Flucht und Vertreibung sind für die Opfer meist mit großem
Leid verbunden. Deshalb ist es wichtig, Möglichkeiten des Gedenkens an die
Opfer von Vertreibung zu schaffen. Die Aufarbeitung und das Gedenken an
das Schicksal von Vertriebenen sollten im Sinne der Versöhnung erfolgen
und nicht neue Konflikte hervorbringen. Das Gedenken an die deutschen Op-

fer von Vertreibung darf deshalb nicht auf der Charta der deutschen Heimat-
vertriebenen fußen, die historisch einseitig ist und sich allein auf das Schick-
sal der deutschen Vertriebenen beschränkt. Stattdessen muss das Gedenken
von dem überkommenen Geschichtsbild des Bundes der Vertriebenen gelöst
und auf eine breite gesellschaftliche Grundlage gestellt werden.“

Drucksache 17/4693 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Der Forderungsteil in Abschnitt II wird wie folgt gefasst:

„II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf,

– die Aussöhnung der Deutschen mit sich selbst beim Kapitel Vertreibung
zu unterstützen, die Versöhnung mit den östlichen Nachbarn voranzubrin-
gen und sich weiter für ein geeintes Europa einzusetzen;

– im Hinblick auf die immer weniger zur Verfügung stehenden Zeitzeugen
nicht nur deren Berichte systematisch zu erfassen, wie es gegenwärtig in
einem Projekt am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen
im östlichen Europa geschieht, sondern auch vorhandene Forschungslücken
durch Interviews zeitnah zu schließen;

– die akademische Förderung der Kultur und Geschichte der Deutschen im
östlichen Europa fortzuführen und ein Konzept vorzulegen, wie etwa mit
den in Deutschland ausgelaufenen Stiftungsprofessuren zu verfahren ist;

– darüber zu berichten, ob und in welchem Maße sich die Geschichte der
ehemaligen deutschen Ostgebiete aus bundesdeutschen Archiven er-
schließen lässt und zu prüfen, ob entsprechende Archivalia in das dem
Kulturgutschutz dienenden Programm des Bundesamtes für Bevölke-
rungsschutz und Katastrophenhilfe zur Sicherungsverfilmung einbezogen
werden bzw. werden können;

– zu prüfen, inwiefern für die Besucher der Dokumentationsstätte des Bun-
des eine Gedenkmöglichkeit eingerichtet werden kann, deren Angehörige
bei Flucht und Vertreibung an namenlosem Ort verstarben;

– zu prüfen, ob und wie dem Anliegen Rechnung getragen werden kann,
einen bundesweiten Gedenktag für die Opfer von Vertreibung zu schaffen,
ohne auf den 5. August zurückzugreifen.“

Berlin, den 8. Februar 2011

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Eine wirkungsvolle weltweite Ächtung von Vertreibung und ein besserer Schutz
für alle Flüchtlinge und Vertriebenen ist notwendig. Vertreibung ist gemäß § 7
des deutschen Völkerstrafgesetzbuches und Artikel 7 des Römischen Statuts des
Internationalen Strafgerichtshofs ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Ver-
treibung und Flucht bedeutet zumeist Leid und Elend. Allein aus Darfur wurden
seit 2003 über 2,5 Millionen Menschen vertrieben.

Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen allerdings ist in ihrer Grundaus-
sage schlichtweg falsch: Es entspricht nicht der historischen Wahrheit, dass das
Leid der Vertriebenen vom Schicksal keiner anderen Gruppe übertroffen wurde.
Die Absage an Rache und Vergeltung ist ein elementares Gebot im Rechtsstaat.
Verzichten – feierlich dazu – kann man nur auf etwas, das einem legitimerweise
zusteht. Dazu kommt die lange Liste der Erstunterzeichnenden der Charta, in der
sich nicht wenige überzeugte Nationalsozialisten finden, u. a. Rudolf Wagner,
Sprecher der Landsmannschaft der Deutschen Umsiedler aus der Bukowina –
SS-Obersturmbandführer; Erik von Witzleben, Sprecher der Landsmannschaft
Westpreußen – SS-Offizier; Walter von Keudell, Sprecher der Landsmannschaft

Berlin-Mark Brandenburg – erst in der DNVP, dann in der NSDAP; Josef Walter,
Vorsitzender des Landesverbands der Heimatvertriebenen in Hessen – stellver-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4693

tretender Hauptgeschäftsführer der sudetendeutschen Wirtschaftskammer und
zuständig für die Verteilung des jüdischen Vermögens im Reichsprotektorat
Böhmen/Mähren; Franz Hamm, Volksgruppenführer, war direkt der Volksdeut-
schen Mittelstelle unter Leitung des SS-Obergruppenführers Lorenz unterstellt
und nach der Zerschlagung Jugoslawiens an der deutschen Ausplünderungs-
und Vernichtungspolitik beteiligt. Die Aufarbeitung dieser Vergangenheit auch
mit Blick auf die Verbandsgeschichte des Bundes der Vertriebenen (BdV) ist
vollkommen unzureichend und steht nach wie vor auf der Tagesordnung. Daher
darf der 5. August als Tag der Erklärung der Charta kein Gedenktag in Deutsch-
land werden.

Die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, deren Arbeit die Koalition vo-
rantreiben möchte, soll im Geiste der Versöhnung ein sichtbares Zeichen setzen,
um – in Verbindung mit Vertreterinnen und Vertretern des jüdischen Glaubens
und der christlichen Kirchen sowie der östlichen Nachbarn Deutschlands – an
das Unrecht von Vertreibungen zu erinnern und Vertreibung für immer zu äch-
ten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist dieses begrüßenswerte Ziel allerdings
nicht erreichbar. Verantwortlich dafür ist der erhebliche Einfluss des BdV, der
mit seiner Politik und personellen Aufstellung im Stiftungsrat den Stiftungs-
zweck der Versöhnung konterkariert.

Im Stiftungsrat der „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ stellt der BdV
sechs von 21 Stiftungsratsmitgliedern, der Deutsche Bundestag vier. Mindestens
zwei der vom BdV vorgeschlagenen stellvertretenden Stiftungsräte, Hartmut
Saenger und Arnold Tölg, vertreten historische Thesen, die als geschichtsrevi-
sionistisch und revanchistisch einzuschätzen sind. Arnold Tölg und Hartmut
Saenger sind offensichtlich nicht bereit, die Ereignisse in der ersten Hälfte des
20. Jahrhunderts in einer Form zu interpretieren, die auch außerhalb des poli-
tisch rechtsnationalistischen und rechtsextremistischen Spektrums sowie seiner
Sympathisanten konsensfähig ist und die dazu beiträgt, die Menschenrechte und
Menschenwürde aller Beteiligten und Opfer von Flucht und Vertreibung zu wah-
ren und zu verteidigen. Die Vorsitzende des BdV, Erika Steinbach, MdB, ver-
teidigt dennoch sowohl beide Kandidaten als auch die von ihnen vertretenen
Thesen und verschafft diesen dadurch eine breite Öffentlichkeit.

Der BdV schadet dem Stiftungszweck der Versöhnung. Mit ihrer pseudowissen-
schaftlichen Äußerung, Polen habe bereits im Frühjahr 1939 mobil gemacht,
stellte Erika Steinbach, zuletzt die Schuld Deutschlands am Ausbruch des Zwei-
ten Weltkriegs in Frage. Hernach vergriff sie sich zudem im Ton und würdigte
den ehemaligen polnischen Außenminister und KZ-Überlebenden Wladyslaw
Bartoszewski herab, indem sie ihm einen „schlechten Charakter“ beschied. Die
lasche Entschuldigung Erika Steinbachs ändert nichts daran, dass ihre Neigung
zur politisch höchst peinlichen Provokation mit dem Stiftungszweck der Ver-
söhnung nicht im Geringsten vereinbar ist.

In ihrer jetzigen Form ist es für die „Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
nicht möglich, ihrem Stiftungszweck der Versöhnung gerecht zu werden. Aus
Protest gegen die vom BdV berufenen stellvertretenden Stiftungsräte lässt der
Zentralrat der Juden seine Mitarbeit im Stiftungsrat ruhen. Alle ausländischen
Historiker haben den wissenschaftlichen Beirat der Stiftung verlassen. Mit Hart-
mut Saenger und Arnold Tölg im Stiftungsrat kann der Stiftungszweck, eine
Aussöhnung mit unseren Nachbarn zu fördern und unvoreingenommen an die
Opfer von Vertreibung zu erinnern, nicht erreicht werden.

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