BT-Drucksache 17/4531

Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf höhere Anforderungen ausrichten

Vom 25. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4531
17. Wahlperiode 25. 01. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus, Katrin Kunert,
Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze,
Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kersten
Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der Fraktion DIE LINKE.

Die Agrarwissenschaften in Deutschland auf höhere Anforderungen ausrichten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Agrarwissenschaften haben global an Stellenwert gewonnen. Unterschied-
liche Ansätze werden in der Forschungspolitik verfolgt, um Fragen der welt-
weiten Ernährungssicherung, des Klimawandels und der Armutsbekämpfung
bei gleichzeitiger Ressourcenschonung und Bewahrung der Biodiversität zu
lösen. Es gilt, die Forschungsziele zur Lösung grundlegender Probleme exakt zu
definieren, wie es vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen
Bundestag zum Thema „Welternährung“ formuliert wurde. Die unterschied-
lichen Ansätze in der Forschungsförderung geraten dabei zunehmend in Kon-
kurrenz um finanzielle und personelle Ausstattungen sowie um die nationale und
internationale Akzeptanz von Forschungsergebnissen. Einerseits werden Exzel-
lenzforschungskonzepte und Hightech-Forschungsstrategien im Rahmen der
Bioökonomieforschung vorangetrieben, andererseits erlangt die auf breite Inter-
disziplinarität und Partizipation angelegte Methodik des Weltagrarberichts
(International Assessment of Agricultural Knowledge, Science and Technology
for Development – IAASTD) zunehmend Bedeutung und Wertschätzung. Beide
Ansätze sind unterschiedliche Konzepte zur Beantwortung drängender Zu-
kunftsfragen, die sich umso schärfer stellen, je stärker die Globalisierung die
Lebens- und Umweltverhältnisse vieler Menschen prägt. In den Industriestaaten
soll die mit öffentlichen Mitteln unterstützte Hightech-Strategie dazu dienen, im
Kapital-, Spekulations- und Industrieinteresse die Globalisierungspolitik fort-
zuschreiben. Dagegen berücksichtigen partizipative Strategien wie die vom
IAASTD stärker die sozialen und ökologischen Folgewirkungen in der Gesell-
schaft und bewerten notwendige Reaktions- und Korrekturoptionen hinsichtlich
der ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Agrarglobalisierung.

Eine breit angelegte Forschungsstrategie muss effizient die vorhandenen Res-
sourcen in den wissenschaftlich arbeitenden Institutionen nutzen, sie aufeinan-

der abstimmen und die notwendigen Mittel für zusätzliche Aufgaben bereitstel-
len. Eine einseitige Ausrichtung der deutschen Agrarforschung auf Exzellenz-
konzepte und die Bevorzugung von Hightech-Strategien sind aus heutiger Sicht
weder der Situation in den Industriestaaten angemessen, noch entsprechen sie
den internationalen Herausforderungen und der Verantwortung Europas für die
eine Welt. Die als Bioökonomie bezeichnete Hightech-Strategie benennt zwar
wichtige Aufgaben, aber ohne eine Ausrichtung auf gesamtgesellschaftliche

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Interessen kann und wird sie die globalen Probleme nicht lösen können. Inter-
disziplinarität, Kooperation, Partizipation sowie eine bedarfsgerechte finan-
zielle und personelle Aufstockung der wissenschaftlichen Ressourcen müssen
stärker zum Bestandteil künftiger Forschungspolitik im Bereich der Agrar-
wissenschaften werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine Strategie zur künftigen Entwicklung der Agrarwissenschaften als Sys-
temwissenschaften mit gesellschaftlicher Schlüsselfunktion vorzulegen. Die
Strategie muss geeignet sein, sowohl die vom Wissenschaftsrat festgestellte
„Krise der Agrarwissenschaften“ (Wissenschaftsrat vom 10. November 2006,
Ausschussdrucksache 16(10)291) zu überwinden, als auch in der Öffentlich-
keit die existenzielle gesellschaftliche Bedeutung dieses Wissenschaftsberei-
ches zu verdeutlichen. Die wichtigsten Aufgaben und Ziele einer solchen
Strategie sollten sein:

● Vorlage einer Analyse zum Stand und zur Entwicklung der Agrarwissen-
schaften als Schlüssel zur Bewältigung der wachsenden Herausforderun-
gen an die Agrarwirtschaft;

● Ausarbeitung einer mittelfristig (für 7 bis 10 Jahre) wirksamen Gesamt-
konzeption für die Gestaltung der agrarwissenschaftlichen Forschung,
Lehre und Beratung, die alle wesentlichen Fachgebiete umfasst sowie
Bund und Länder einbindet;

● Grundlegende Verbesserung der Vernetzung der zersplitterten agrarwissen-
schaftlichen Forschungen durch das Bundesministerium für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz (BMELV); Unterstützung bereits
bestehender Strukturen wie z. B. die der Deutschen Agrarforschungs-
allianz (DAFA);

● Verbesserung der ressortübergreifenden Koordinierung und Kooperation
bei der Förderung der Agrarwissenschaften. Dies gilt insbesondere für die
vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und vom
BMELV initiierten und finanzierten Forschungsprojekte;

● Stärkung interdisziplinärer Forschungsansätze, wie sie im Weltagrarbericht
erstmals umfassend beschrieben wurden, unter formaler Anerkennung und
finanzieller Sicherung der Fortschreibung des Weltagrarberichts;

● über Bund-Länder-Vereinbarungen eine wirksamere Einbeziehung univer-
sitärer und außeruniversitärer Institutionen in bundesweit abgestimmte
Forschungs- und Ausbildungsgänge, Lehrinhalte und Beratungstätigkeit,
um diese Kapazitäten national und international wieder stärker zur Nut-
zung zu bringen;

● Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität agrarwissenschaftlicher
Laufbahnen zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, insbe-
sondere eine Verlängerung der Gültigkeit von Ausbildungs- und Arbeits-
verträgen, um qualitativ hochwertige Ergebnisse zu erzielen;

2. in Zusammenarbeit mit den Bundesländern dafür zu sorgen, dass die Bünde-
lung von Kompetenzen weiter vorankommt und die über die Agrarressort-
forschung initiierte und unterstützte Koordinierung und Kooperation der
universitären und außeruniversitären Forschungstätigkeit, insbesondere im
Bereich der angewandten Agrarwissenschaften, deutlich verbessert wird.
Dabei kann auf positive Erfahrungen wie Forschungsplattformen, Mehr-
länderinstitute u. Ä. zurückgegriffen werden;

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3. unter Federführung/Verantwortung des BMELV eine Bund-Länder-Koordi-
nierungs- und Beratungsinstitution zu schaffen. Ziele sollten die Verbesse-
rung der fachlichen Koordination und die Sicherung fairer Bedingungen im
wissenschaftlichen Wettstreit sein. Eine solche Einrichtung sollte über Mit-
tel aus den bestehenden öffentlichen Haushalten verfügen, um Anreize für
die Bearbeitung notwendiger Themen bzw. erforderliche Kooperationen ge-
ben zu können;

4. eine Evaluierung der wissenschaftlichen, sozialen, finanziellen und struktur-
politischen Folgen der Standortschließungen und des Personalabbaus in der
Agrarressortforschung seit 1996 vorzulegen. Parallel zu dieser Evaluation
sollte ein Moratorium für Standortschließungen so lange in Kraft treten, bis
dem Bundestag eine Kosten-Nutzen-Rechnung einschließlich der Prüfung
von Alternativen zur Standortschließung vorgelegt wurde. In diesem Zusam-
menhang sollte geprüft werden, wie die gegenwärtige hoheitliche Agrar-
forschung in der Bundesrepublik Deutschland ihren nationalen und inter-
nationalen Verpflichtungen genügt.

Berlin, den 25. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Agrarwissenschaften spielen eine Schlüsselrolle bei der Lösung globaler
Probleme wie Unterernährung und Mangelernährung bei anhaltendem Bevöl-
kerungswachstum, Zerstörung von landwirtschaftlich und forstlich nutzbaren
Flächen, absoluter und relativer Wassermangel, Vordringen von Wüsten und
Zunahme verheerender Überschwemmungen, Verlagerung von Anbauzonen
durch den globalen Klimawandel, Rückgang biologischer Vielfalt sowie soziale
und ökologische Folgen der neoliberal geprägten Globalisierung.

Auch in Europa stellen sich drängende, teilweise völlig offene Fragen für die
Land-, Forst- und Ernährungswissenschaft. Dazu gehören die Auswirkungen sich
verändernder Klimabedingungen auf die Agrarproduktion, die Folgen aktueller
land- und forstwirtschaftlicher Nutzungskonzepte für die Umwelt und die Land-
schaftsgestaltung, Folgen des nach wie vor hohen Verlustes landwirtschaftlich
genutzter Flächen durch Siedlungs- und Straßenbau, die Auswirkungen des
Bevölkerungsrückgangs in den ländlichen Räumen, steigende Risiken für die
Lebensmittelsicherheit, zum Beispiel durch globale und weitverzweigte Per-
sonen- und Warenströme, Umweltgifte, Nahrungsergänzungs-, Konservierungs-
und Farbstoffe oder auf den Menschen übertragbare Tierkrankheiten und
Lebensmittelvergiftungen.

Zudem haben sich die Rahmenbedingungen für die Land- und Forstwirtschaft
auch in Europa deutlich verändert. Der ursprünglich unter starkem Einfluss der
Agrarpolitik stehende Markt wird seit den 90er-Jahren dereguliert. Dieser Pro-
zess wird sich politisch gewollt fortsetzen. Dies zwingt die Agrarwirtschaft zu
einer verstärkten Marktorientierung, die einerseits eine gewollte Rückkopplung
der Agrarproduktion auf die Nachfrage möglich macht, andererseits aber auch
Abhängigkeiten in einem sehr labilen Markt schafft. Auf Verarbeiter- und Han-
delsseite wird dieser Markt immer stärker durch oligopolartige Strukturen
bestimmt und die Durchsetzungsmöglichkeiten für die Interessen der landwirt-

schaftlichen Erzeugerbetriebe werden extrem verschlechtert. Im Resultat steigt
der ökonomische Druck auf die landwirtschaftlichen Betriebe und beschleunigt

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den Strukturwandel durch ruinösen Verdrängungswettbewerb. Hinzu kommt
die steigende Bedeutung landwirtschaftlicher und forstlicher Rohstoffe für die
Energiegewinnung und als nachwachsende Rohstoffe für die industrielle Pro-
duktion. Die Kapitalattraktivität land- und forstwirtschaftlicher Nutzflächen so-
wie von Rohstoffen wird damit deutlich gesteigert und rückt sie in den Blick
spekulativer Kapitalanleger.

Schwerpunkte der Forschung in den Agrarwissenschaften, die künftig im regio-
nalen sowie im globalen Maßstab bearbeitet werden sollten, könnten sein:

● weltweite Sicherung des Rechts auf Nahrung,

● Auswirkungen der Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen auf den
Agrarsektor,

● Strukturwandel in ländlichen Räumen und Folgen des demografischen
Wandels, insbesondere die Landflucht und die Alterung der Bevölkerung,

● Züchtungsforschung an Nutzpflanzen und Nutztieren,

● Agrarlandschaftsforschung, die sich mit Kulturlandschaften und ihrer Nut-
zung auch außerhalb der Land- und Forstwirtschaft beschäftigt,

● Umweltstandards und Qualitätssicherung.

Um diese Forschungsfelder erfolgreich bearbeiten zu können, ist eine themati-
sche Ausrichtung der Forschungseinrichtungen entsprechend den neuen Schwer-
punkten ebenso notwendig wie eine bessere fachübergreifende Kooperation aller
in den Agrarwissenschaften zusammengefassten Fächer und angrenzenden
Grundlagendisziplinen. Darüber hinaus bedarf es einer Strukturreform vor allem
der Agrarfakultäten und einer vermehrten und strukturell verbesserten Koopera-
tion mit außeruniversitären Forschungseinrichtungen sowie mit entsprechenden
Industrien, bei denen in wachsendem Maße Forschungs-, Prüf- und Beratungs-
kapazitäten entstehen. Die bedeutenden agrarwissenschaftlichen Forschungs-
und Lehrkapazitäten der Bundesländer müssen in diese Koordinierung und
Kooperation einbezogen werden.

Die Bedeutung der zu bearbeitenden Fragestellungen und der damit verbundenen
wissenschaftlichen Potenziale strahlt jedoch vor allem in europäischen Ländern,
die über eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung oder sogar -überversor-
gung verfügen, noch nicht in angemessener Weise auf die wissenschafts-
politische und gesellschaftliche Wahrnehmung der Agrarwissenschaften aus. Im
Gegenteil erodieren die deutschen Agrarwissenschaften seit einigen Jahren. Die
agrarwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten reagieren ihrerseits mit
unterschiedlichen Organisationsstrategien auf diese Krise. Sie suchen unter
Exzellenzwettbewerbsbedingungen einen engeren Zusammenschluss mit den
lebenswissenschaftlichen Grundlagenfächern ihrer Universitäten oder versuchen
durch Kooperation mit außeruniversitären Einrichtungen, die kritische Masse in
Forschung und Lehre zu gewährleisten.

Die Problemlage, in der sich die Agrarwissenschaften befinden, ist jedoch so
komplex, dass sie nicht allein aus der Wissenschaft selbst heraus und innerhalb
der bestehenden institutionellen Strukturen gelöst werden kann. Es bedarf viel-
mehr einer konzertierten Anstrengung von Politik, Wissenschaft und Wirt-
schaft.

Als besonderes Defizit in der Entwicklung der Agrarwissenschaften der ver-
gangenen Jahre und Jahrzehnte wurde seitens des Wissenschaftsrates die man-
gelnde institutionalisierte Koordinierung der Agrarwissenschaften benannt. Der
Zersplitterung der Agrarforschung soll durch Clusterbildung und die Schaffung
von Netzwerken entgegengewirkt werden. Weiterhin wurde eine institutionali-

sierte Beratung für die Entwicklung und Koordinierung der Agrarwissenschaf-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/4531

ten durch den Wissenschaftsrat vorgeschlagen. Mit der Bildung des BioÖko-
nomieRates und der Deutschen Agrarforschungsallianz wurde die Schaffung
solcher Institutionen bereits eingeleitet. Kritisch ist allerdings anzumerken,
dass die Einrichtungen den geforderten gesamtgesellschaftlichen Aufgabenstel-
lungen auf Grund zu stark auf wirtschaftliche Interessen ausgerichteter Kon-
zepte nicht gerecht werden.

Im internationalen Vergleich werden durch das Fehlen einer derartigen Institu-
tion die Ergebnisse agrarwissenschaftlicher Arbeit in Deutschland zu wenig
sichtbar. Die bisherigen Anläufe durch Universitäten, Fachhochschulen und an-
dere agrarwissenschaftliche Einrichtungen zur verbesserten Netzwerkbildung
und Kooperation erscheinen schwerfällig und blieben bisher unzureichend. Die
finanzielle Förderung von Netzwerken und Clustern ist zu gering, erscheint
aber unumgänglich, um Erfolge zu erzielen. Aus eigener Kraft sind Koordinie-
rung, Kooperation und Netzwerkbildung in der Regel jedoch nicht zu leisten.

Die Schaffung institutionalisierter Koordinierung bleibt Aufgabe des Bundes,
der über die Agrarressortforschung bereits einen wichtigen Teil der Agrar-
forschungslandschaft stellt. Besonders in der Politikberatung ist die fachüber-
greifende interdisziplinäre Arbeit notwendig. Auch die Eigenständigkeit der
Agrarwissenschaften begründet sich in der Komplexität der Fragestellungen,
die sowohl Grundlagen- als auch Anwendungsforschung unterschiedlicher Dis-
ziplinen umfasst. Der IAASTD bietet ein Beispiel gelungener institutionalisier-
ter Agrarwissenschaft, die auf nationaler Ebene dringend ausgebaut werden
muss. Gerade dieser Ansatz steht heute in finanzieller und personeller Konkur-
renz zur Hightech-Strategie der Bioökonomieforschung, die geprägt ist durch
spezielle Interessen der in der Agrarwirtschaft etablierten Industrie. Es ist daher
aus forschungspolitischen Prinzipien notwendig, interdisziplinäre Ansätze im
Sinne eines internationalen Agrarrates zu stärken.

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