BT-Drucksache 17/449

Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen

Vom 19. Januar 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/449
17. Wahlperiode 19. 01. 2010

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Viola von Cramon-Taubadel, Marieluise
Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Katja Keul, Memet Kilic, Tom
Koenigs, Agnes Malczak, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rückschiebungen nach Griechenland sofort aussetzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesverfassungsgericht hat erneut mit Beschluss vom 8. Dezember
2009 (2 BvR 2780/09) die Aussetzung der Abschiebung eines Asylsuchenden
nach Griechenland im Rahmen des EU-Verteilungssystems (Verordnung (EG)
Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003, Dublin-II-Verordnung) ange-
ordnet. Dafür war – wie in dem der einstweiligen Anordnung vom 8. Septem-
ber 2009 – 2 BvQ 56/09 – zugrunde liegenden Fall – ausschlaggebend, dass
möglicherweise bereits mit der Abschiebung – oder in ihrer Folge – eintretende
Rechtsbeeinträchtigungen nicht mehr verhindert oder rückgängig gemacht wer-
den könnten.

Das Gericht stützt sich dabei auf „ernst zu nehmende Quellen“, wonach eine
ordnungsgemäße Registrierung als Asylsuchender in Griechenland unmöglich
sein könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat bisher in fünf weiteren Fällen
Überstellungen von Asylantragstellern nach Griechenland einstweilen unter-
sagt. Eine erste Entscheidung in der Hauptsache wird bis zum Sommer 2010
angestrebt.

Im Hauptsacheverfahren wird das Bundesverfassungsgericht seine eigene
Rechtsprechung zur deutschen Drittstaatenregelung dahingehend überprüfen,
ob angesichts des europarechtlichen Grundsatzes der Solidarität in den Fällen
„einer erheblichen Überlastung des Asylsystems eines Mitgliedstaates“ Asyl-
suchenden Rechtsschutz gewährt werden muss und unter welchen Bedingun-
gen Überstellungen in diesen Staat auszusetzen sind.

Nach Berichten internationaler Menschenrechtsorganisationen verstößt die
Situation für Asylsuchende in Griechenland seit langem gegen internationale
und europäische Standards für Verfahren zur Überprüfung der Flüchtlings-
eigenschaft. So ist vor allem der Zugang zum Asylverfahren – und damit ver-

bunden die Registrierung als Asylbewerber – nicht gewährleistet. Es stehen nur
wenige Unterbringungsplätze für Asylbewerber während des Verfahrens zur
Verfügung; Dolmetscher bei der Befragung über die Fluchtgründe sind nicht
garantiert und es kommt immer wieder zu Inhaftierungen von Flüchtlingen
ohne Haftgrund.

Trotz der ergangenen sechs einstweiligen Anordnungen des Bundesverfas-
sungsgerichts (Beschluss vom 8. September 2009, 2 BvQ 56/09; Beschluss

Drucksache 17/449 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
vom 23. September 2009, 2 BvQ 68/09; Beschluss vom 9. Oktober 2009,
2 BvQ 72/09; Beschluss vom 5. November 2009, 2 BvQ 77/09; Beschluss
vom 13. November 2009, 2 BvR 2603/09; Beschluss vom 8. Dezember 2009,
2 BvR 2780/09) betreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge weiter-
hin die Rückschiebung von Asylsuchenden nach Griechenland, es sei denn, es
handelt sich um besonders schutzbedürftige Personen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Rückschiebungen nach Griechenland im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens
sofort bis zur Hauptsacheentscheidung des Bundesverfassungsgerichts auszu-
setzen und die Prüfung der Asylanträge im Rahmen des Selbsteintritts im natio-
nalen Asylverfahren durchzuführen.

Berlin, den 19. Januar 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

Obwohl das Bundesverfassungsgericht in den letzten Wochen mehrfach Ab-
schiebungen nach Griechenland einstweilen stoppte, wurden aus Deutschland
allein im Jahr 2009 mehr als 1 567 Überstellungsanträge an Griechenland ge-
richtet. Mit knapp einem Viertel aller Übernahmeersuchen bis zum September
2009 ist Griechenland das mit Abstand am meisten ersuchte Land im Rahmen
des Dublin-II-Verfahrens. Zwar wird die Rückschiebung besonders schutz-
bedürftiger Flüchtlinge nach Griechenland in der Regel nicht vollzogen, die
Argumentation des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, dass man „von
Asylbewerbern, die nicht besonders schutzbedürftig sind, erwarten könne, dass
sie auch unter ggf. erschwerten Bedingungen das Asylverfahren in Griechen-
land durchführen“ (Bundestagsdrucksache 16/14149 (neu)), ist menschenrecht-
lich bedenklich.

Die Beschwerdeführer der bisherigen positiven Eilverfahren vor dem Bundes-
verfassungsgericht gehörten gerade nicht dem Kreis besonders schutzbedürf-
tiger Personen an, bei denen die Bundesrepublik Deutschland vom Selbst-
eintrittsrecht gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Dublin-II-Verordnung Gebrauch
macht.

Wenn aber das Bundesverfassungsgericht die Verletzung elementarer Rechte in
Griechenland für möglich hält und deswegen nach einer Abwägung die Rück-
führung unterbindet, darf sich die Bundesregierung dem nicht verschließen.
Dennoch Rückführungen vorzunehmen, ist nicht nur eine Brüskierung des
Bundesverfassungsgerichts, sondern heißt auch, die Menschenwürde der Asyl-
suchenden sehenden Auges zu gefährden.

Nicht nur PRO ASYL und Human Rights Watch, sondern auch der UNHCR
berichten, dass das Asylverfahren in Griechenland in vielerlei Hinsicht an
erheblichen Mängeln leidet.

Zwar ist Griechenland selbst in erster Linie dafür verantwortlich, internationale
Asyl- und Flüchtlingsschutz-Standards herzustellen und einzuhalten. Gleich-
wohl trägt Deutschland angesichts der – dem Bundesministerium des Innern
schon länger bekannten Situation in Griechenland – gerade auch für rücküber-
stellte Personen aus Deutschland – eine Mitverantwortung.

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