BT-Drucksache 17/4433

Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz am Wohl der Allgemeinheit orientieren

Vom 19. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4433
17. Wahlperiode 19. 01. 2011

Antrag
der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar Bartsch,
Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland Claus,
Katrin Kunert, Caren Lay, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze,
Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kersten Steinke,
Sabine Stüber, Alexander Süßmair, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion
DIE LINKE.

Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz am Wohl der Allgemeinheit orientieren

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. In den ersten Winterwochen 2010 kam es in Deutschland zu einem Kollaps
so gut wie aller Verkehrsträger. In besonderem Maß traf es dabei die Deut-
sche Bahn AG (DB AG), die ein neuerliches Winterchaos erlebte. Zwar ver-
weist Bahnchef Dr. Rüdiger Grube auf den „frühen Wintereinbruch“ und jon-
gliert mit dem meteorologischen Superlativ „der kälteste und schneereichste
Dezember seit 41 Jahren“. Doch die Witterungsverhältnisse spielen nur am
Rande eine Rolle. Tatsächlich erlebt die Deutsche Bahn AG eine Dauer- und
Strukturkrise. Diese begann im Sommer 2008 mit einer gebrochenen Rad-
satzwelle, sie verschärfte sich im Winter 2009/2010 mit dem weitgehenden
Zusammenbruch des Schienenfernverkehrs und sie wurde im Sommer 2010
nochmals mit dem vielfachen Ausfall von Klimaanlagen in ICE-Zügen ge-
steigert. Vor dem Hintergrund der Geschichte der Eisenbahnen und mit einem
Blick auf die Schweiz lässt sich belegen, dass diese Krise nicht unabwendbar,
sondern hausgemacht ist.

2. Bei der Berliner S-Bahn, einer hundertprozentigen Tochter der DB AG,
wurde das allgemeine Desaster im Schienenverkehr nochmals gesteigert. Seit
zwei Jahren befindet sich die S-Bahn in einer Dauerkrise. Auch in diesem
Fall lässt sich mit der Verkehrsgeschichte und einem Blick auf andere Mas-
sennahverkehrsmittel belegen, dass der Zerfall dieses Verkehrsmittels nicht
objektiv bedingt ist.

3. Die DB AG verfolgt, unterstützt durch die jeweiligen Bundesregierungen,
seit rund einem Jahrzehnt eine Geschäftspolitik, die die Krisentendenzen im
Kerngeschäft vertiefen muss. Auf der einen Seite entwickelte sich die DB AG
zum Global Player, indem im Ausland massiv in die Übernahme von Logis-
tik- und Bahnunternehmen investiert wurde. Auf der anderen Seite baut die
DB AG im Inland das Schienennetz ab und investiert vor allem in Groß-
projekte, die den Bahnverkehr behindern, wenn nicht direkt schädigen. Stutt-
gart 21 ist dafür ein Beispiel von vielen.

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4. Während mit der Bahnreform im Jahr 1994 eine formelle Bahnprivatisierung
erfolgte, zielt die offizielle Politik der Bundesregierungen und des Bahn-
vorstands seit dem Jahr 2000 auf eine materielle Bahnprivatisierung. Diese
Orientierung, die mit unterschiedlichen Privatisierungsmodellen konkre-
tisiert wurde und die auch von der gegenwärtigen Bundesregierung explizit
– so im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP – verfolgt wird,
läuft darauf hinaus, dass im Schienenverkehr anstelle des Gemeinwohls das
Ziel der Gewinnmaximierung im Zentrum steht. Die Folgen sind ein massiver
Abbau der Bahnbelegschaft, ein Zusammenstreichen von Serviceleistungen
und nicht zuletzt das Sparen bei der Instandhaltung, Wartung und Sicherheit.

5. Mit der im Dezember 1993 in Bundestag und Bundesrat beschlossenen Bahn-
reform war auch eine Verfassungsänderung verbunden. Im neu eingefügten
Artikel 87e des Grundgesetzes (GG) wurde die Orientierung des Schienen-
verkehrs am Gemeinwohl verwässert und festgelegt, dass die „Eisenbahnen
des Bundes […] als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form ge-
führt“ werden. Allerdings wird auch in Artikel 87e GG festgelegt, dass der
Bund gewährleistet, dass beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes sowie
bei den Bahnverkehrsangeboten „dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere
den Verkehrsbedürfnissen“ Rechnung getragen wird. Dem widerspricht eine
Orientierung des Schienenverkehrs auf Gewinnmaximierung.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. den Schienenverkehr als einheitliches System wieder am „Wohl der Allge-
meinheit“ und „insbesondere [an] den Verkehrsbedürfnissen“ (Artikel 87e GG)
auszurichten;

2. einen Gesetzentwurf vorzulegen, der vorsieht, den Artikel 87e GG dahin-
gehend zu ändern, dass die Eisenbahnen des Bundes als Wirtschaftsunterneh-
men in öffentlich-rechtlicher Form geführt werden;

3. die DB AG in eine Anstalt öffentlichen Rechts umzuwandeln, die wie eine
gemeinnützige Einrichtung zu verfahren hat, damit keine Gewinne abgeführt
werden und das Unternehmen demokratisch kontrolliert wird, bei der das
Eigentum durch Bund und Länder repräsentiert wird und die einer sozialen
und nachhaltigen Bahnpolitik unterliegt;

4. als Sofortmaßnahmen bei der DB AG darauf hinzuwirken,

– dass Teilprivatisierungen sofort gestoppt werden und die Global-Player-
Orientierung aufgegeben wird,

– dass kontraproduktive Großprojekte, insbesondere Stuttgart 21 und die
Neubaustrecke Wendlingen–Ulm, aufgegeben werden,

– dass Investitionen zum schnellstmöglichen Austausch nicht dauerfester
Radsatzwellen und zur Vorhaltung ausreichender Reservekapazitäten ge-
tätigt werden. Für den letztgenannten Zweck wird auf die bisher geplante
Abführung von jährlich 500 Mio. Euro aus den Gewinnen der DB AG an
den Bund verzichtet,

– dass in allen Bereichen des Schienenverkehrs die Zielsetzung der Barriere-
freiheit realisiert wird;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/4433

5. als Sofortmaßnahme bei der S-Bahn Berlin gemeinsam mit den Ländern Ber-
lin und Brandenburg darauf hinzuwirken, dass ein stabiler S-Bahn-Betrieb so
bald wie möglich – zumindest im Verlauf des Jahres 2011 – wieder stattfindet
und zu gewährleisten, dass im Fall einer Umwandlung der Unternehmens-
struktur der S-Bahn Berlin diese komplett in öffentlichem Eigentum verbleibt
und eine Zerschlagung des Unternehmens und eine Ausschreibung einzelner
S-Bahn-Strecken ausgeschlossen werden.

Berlin, den 19. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Verkehrsträger im Winter 2010/2011

Tatsächlich spielt die Natur nur bei der Binnenschifffahrt, die über weite Stre-
cken zum Erliegen kam, eine ausschlaggebende Rolle – was jedoch Jahr für Jahr
der Fall ist und tatsächlich zu erwarten war. Der in weiten Gebieten stattfindende
Zusammenbruch des Straßenverkehrs, vielfach mit Massenkarambolagen ver-
bunden, hatte überwiegend andere Gründe: Die Räumdienste funktionierten
nicht oder unzureichend, vielfach fehlten Sand und Salz, Lastkraftwagen, die
Autobahnen blockierten, waren vielfach mit nicht wintergerechter Bereifung
unterwegs. Dass viele Flughäfen tagelang keine Flüge abwickeln konnten, lag
ebenfalls überwiegend an unzureichend vorgehaltenen Kapazitäten für das
Beräumen der Startbahnen und das Enteisen der Flugzeuge. Das Versagen der
Verkehrsträger Straße, Binnenschifffahrt und Luft hätte die große Chance für die
Schiene sein können. Doch im 35 000 Kilometer langen deutschen Schienennetz
gab es ein vergleichbares Bild wie bei den anderen Verkehrsträgern: Dutzende
Züge blieben auf freier Strecke liegen, hunderte Züge fielen komplett aus und
tausende Züge hatten Verspätungen von addiert einigen zehntausend Stunden.

Die Bahnspitze ging offensichtlich fest davon aus, dass sich ein Chaos wie im
Winter 2009/2010 im darauf folgenden Jahr nicht wiederholen werde. Im No-
vember 2010 präsentierte die „WELT am SONNTAG“ eine zweiseitige Repor-
tage mit dem Titel „Inside Deutsche Bahn: Wie der Konzern mit dem Schnee
kämpft“. Der einleitende Satz lautet: „Ein Chaos wie im vergangenen Winter
darf es nie wieder geben – das weiß Bahnchef Rüdiger Grube“ (WELT am
SONNTAG vom 21. November 2010).

In der von der DB AG herausgegebenen Zeitschrift „mobil“ – Ausgabe Januar
2011 – ist zu lesen: „Der vergangene Winter hatte die DB kalt erwischt, vor allem
den Personenverkehr und die Infrastruktur […] Das soll sich in diesem Winter
nicht wiederholen – dafür will die DB sorgen. So hat sie im Personenverkehr
neue Enteisungsanlagen beschafft. Außerdem sorgt die DB bis März 2011 für
mehr Reserve-ICE, etwa indem sie auf weniger befahrenen Strecken IC-Züge
statt ICE einsetzt. Auch bei der Infrastruktur tut sich etwas. Die DB […] setzt
Winterkoordinatoren in den Betriebszentralen ein […] Weichenheizungen wer-
den nachgerüstet sowie Abdeckungen eingebaut, die von vornherein verhindern,
dass sich Schnee und Eis in Weichen festsetzen. Entlang der Strecken hat die
DB AG noch vor dem ersten Schneefall Äste und Bäume beschnitten, von denen
sicher anzunehmen war, dass sie unter der Schneelast auf Oberleitungen und
Schienen fallen würden.“ (mobil 01/2011).

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Tatsächlich froren hunderte Weichen ein, fehlten Enteisungsanlagen, gab es
nicht ausreichend Reservefernverkehrszüge, wurde vielfach die Stromzufuhr bei
Oberleitungen durch herabbrechende Äste unterbrochen.

Strukturelle Krise und Dauerkrise

Am 8. Juli 2008 brach bei einem ICE in Köln eine Radsatzwelle (Achse) wäh-
rend einer Langsamfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof und über die Hohen-
zollernbrücke. Die Untersuchung durch die Bundesanstalt für Materialprüfung
ergab, dass die Radsatzwelle bereits nach dem letzten Halt vor Köln, in Sieg-
burg/Lahn, gebrochen war und dass der ICE dadurch bei Hochgeschwindigkeit
mit einer durchgebrochenen Radsatzwelle fuhr. Die Analyse des Eisenbahn-
Bundesamtes (EBA), wonach die Gefahr einer Eisenbahnkatastrophe „wie in
Eschede 1998“ bestand, bestätigte sich.

Seit diesem Ereignis bestätigt sich, was Materialexperten und Bahnfachleute
wie Prof. Vatroslav Grubisic seit 2003 in Beiträgen in Fachzeitschriften ge-
schrieben hatten: Die Radsatzwellen aller ICE-3 und aller ICE-VT-Garnituren
sind nicht dauerfest. Der Vorstand der DB AG gestand diese Tatsache scheib-
chenweise ein und geht inzwischen davon aus, dass alle Radsatzwellen dieser
Züge gegen stabilere ausgetauscht werden müssen. Dieser Prozess soll aber erst
im Jahr 2013 abgeschlossen sein. Alle ICE-Züge dieser Bauart, bei denen die
Radsatzwellen noch nicht ausgewechselt wurden, müssen seit Herbst 2008 auf
Anordnung des EBA in sehr kurzen Intervallen mit Ultraschall auf Rissbildun-
gen untersucht werden.

Im Winter 2009/2010 gab es erstmals einen weitgehend flächendeckenden Aus-
fall vieler Fernverkehrszüge. Auch damals verwies der Vorstand der DB AG auf
einmalige Witterungsverhältnisse. Dies steht im Kontrast zu dem Artikel der be-
reits zitierten DB-AG-Zeitschrift. Dort heißt es: „Für den Schneeräumexperten
der DB Netz AG, Frank Schulze, war der vergangene, extrem harte Winter mit
rund 200 Einsätzen jedoch mitnichten ein Rekordjahr. ,Da hatten wir 2005/2006
mit 280 Einsätzen deutlich mehr zu tun.‘“ (mobil 01/2011).

Im Sommer 2010 gab es katastrophale Situationen in ICE, in denen die Klima-
anlagen ausgefallen waren. Bei der Aufarbeitung dieser Vorgänge stellte die
DB AG in Aussicht, bei dem Resign der besonders betroffenen Flotte der ICE-2
auch Klimaanlagen einzubauen, die für höhere Hitzegrade auslegt sind. Die
DB AG wollte bis Ende 2010 mitteilen, ob es eine solche Nachrüstung geben
wird. Eine positive Antwort liegt nicht vor. Es droht offensichtlich die Gefahr
vergleichbarer Ereignisse im Sommer 2011.

Naturbedingt oder hausgemacht?

Die alte Bundesbahn schaltete 1966 den Werbeslogan „Alle reden vom Wetter.
Wir nicht“. Das wurde von der Bevölkerung und von den Fahrgästen als zutref-
fend wahrgenommen. Eine solche Werbung für die Bahn ist heute undenkbar
– beziehungsweise sie würde als bitterer Sarkasmus wahrgenommen. Die DDR-
Reichsbahn befand sich ohne Zweifel oft – und insbesondere am Ende der
DDR – in einem kritischen Zustand. Dennoch gab es zu keinem Zeitpunkt der
vierzigjährigen Existenz dieses Unternehmens einen Kollaps vergleichbarer Art,
wie wir ihn derzeit bei der DB AG erleben.

Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) verkehren seit Jahrzehnten ohne
große Störungen, wie sie inzwischen in Deutschland üblich sind. Auch im
Winter 2010/2011 fand der Bahnverkehr im Nachbarland Schweiz weitgehend
regelmäßig und zur Zufriedenheit der Fahrgäste statt – bei deutlich niedrigeren
Temperaturen und im Halbstundentakt auf Höhen zwischen 400 und 1 400 Me-
tern über dem Meeresspiegel.

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Einen direkten Vergleich zwischen den Eisenbahnen in der Schweiz und in
Deutschland konnte man Ende 2010 in der „Neue Zürcher Zeitung“ lesen. Dabei
wurde auch deutlich, dass die Schweiz bereits systematische Winterhilfe für die
DB AG leistet:

„Während in den letzten Wintertagen auf den Schienen der deutschen Bahn
grosses Chaos herrschte, verlief der Bahnverkehr in der Schweiz weitgehend
problemlos. […] ,Wetterbedingt hatten wir in den letzten Tagen keine grösseren
Störungen‘, sagt SBB-Sprecher Christian Ginsig zu NZZ Online. […] Die Bahn
kehre bei tiefen Temperaturen und Schnee einiges vor, um Verspätungen oder
Zugsausfälle möglichst zu vermeiden. So werden in eisigen Nächten abgestellte
Lokomotiven nicht vom Strom getrennt, sondern stets auf einer gewissen Be-
triebstemperatur gehalten. Ausserdem sind die Weichen auf den Hauptlinien
elektrisch oder mit Propangas beheizt, so dass sie nicht einfrieren können. In
Deutschland ist das anders, weshalb die derzeit eisigen Temperaturen rasch
grössere Behinderungen zur Folge haben können. Das bekommen neben verspä-
teten oder gestrandeten Reisenden auch die SBB zu spüren. «Gerät in Deutsch-
land der Fahrplan durcheinander, so treffen in Basel oft für die Schweiz nicht zu-
gelassene deutsche Zugskompositionen ein», erklärt Ginsig. […] Diese Züge
seien nicht mit dem Schweizer Zugsicherungssystem ausgestattet und dürften
deshalb nicht weiterfahren. Dann müssen die SBB die Verbindung ab der Grenze
zum Schweizer Endbahnhof sicherstellen. Zum Einsatz kommen in solchen
Fällen die Dispo-Züge, wie sie im SBB-Jargon heissen. Das sind laut Ginsig
Kompositionen die an verschiedenen Bahnhöfen auf Abruf bereit stehen, um bei
Zugspannen Lücken im Fahrplan zu vermeiden. Sie verfügen über Lokomotiv-
führer und Zugbegleiter und sind deshalb sofort einsatzbereit. Es handelt sich
jedoch oft um ältere Einheiten, was für die Passagiere Komforteinbussen be-
deutet […] Auf der Linie Zürich–Stuttgart dagegen kann dies an der Grenze
nicht passieren. Diese Linie befahren unabhängig von den Schneeproblemen in
Deutschland seit einiger Zeit ohnehin schon Schweizer Züge. Weil die Deutsche
Bahn zu wenig Rollmaterial hat, stellen die SBB laut Ginsig vier Zugskomposi-
tionen (total 20 Wagen) zur Verfügung. Diese sorgen für täglich 14 Verbindun-
gen nach Stuttgart.“ (Neue Zürcher Zeitung vom 27. Dezember 2010).

Global Player und Fahren auf Verschleiß

Im November 2009 schloss die DB AG im Emirat Katar einen Auftrag in Höhe
von 17 Mrd. Euro über Bahninfrastrukturprojekte ab. Im Frühjahr 2010 reisten
der Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Dr. Peter Ramsauer
und Bahnchef Dr. Rüdiger Grube in die Vereinigten Arabischen Emirate und
vereinbarten Investitionen der DB AG in Milliardenhöhe für unterschiedliche
Bahnsysteme in der Region. 2010 kaufte die DB AG für knapp 3 Mrd. Euro
(einschließlich der Übernahme von Schulden) Arriva, den größten privaten
Bahn- und Busbetreiber auf. Zur gleichen Zeit betrieb sie das Projekt einer
durchgehenden ICE-Verbindung Frankfurt/Main–London mit der Durchque-
rung des Eurotunnels. Damit heizt sie den Konkurrenzkampf mit der französi-
schen Staatsbahn SNCF an. Ende 2010 weitete die Deutsche Bahn AG ihr inter-
nationales Reiseangebot nach Italien auf der Brennerroute (München–Verona)
mit eigenem Wagenmaterial in Kooperation mit der österreichischen Staatsbahn
ÖBB aus. Damit verschärft sie die Konkurrenz mit den italienischen Bahnen FS
und Trenitalia.

Diese Politik von großangelegten Aufkäufen und Auslandsinvestitionen kon-
trastiert mit der „schlanken Bahn“ im Inland. Selbst wenn der höchste Wert ver-
anschlagt wird, der – laut Bahnchef Dr. Rüdiger Grube – für die Anschaffung
von neuem rollendem Material zur Beendigung der Misere der Berliner S-Bahn
2 Mrd. Euro beträgt, gewählt wird, so entspricht dies nur zwei Dritteln dessen,
was die DB AG 2010 für den Aufkauf von Arriva ausgab. Bahnchef Dr. Rüdiger

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Grube erklärte selbst, nach welchem Konzept die DB AG im Inland verkehrt:
„Wir fahren längst auf Verschleiß. Wir haben keine Reserven mehr.“ (DIE
WELT vom 11. Januar 2011). Es gibt – aufgrund des Abbaus von Personal und
Werkstätten – flächendeckend Wartungsprobleme. Als im April 2010 ein ICE
auf der Strecke Amsterdam–Basel zwischen Montabaur und Limburg bei voller
Fahrt eine komplette Tür verlor und diese auf einen entgegenkommenden ICE
prallte (es gab sechs Verletzte), ließ die DB AG zunächst verlauten, es handle
sich um einen Konstruktionsfehler. Die Untersuchung ergab, dass eine lose
Stellmutter in der Verriegelung und damit ein Wartungsfehler die Ursache war.
(FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND vom 21. April 2010).

Modelle der Bahnprivatisierung

Es gab seit 2005 unterschiedliche Modelle der Bahnprivatisierung: Zwischen
2005 und 2008 betrieben die damalige Bundesregierung Dr. Angela Merkel-
Dr. Frank-Walter Steinmeier und der Bundesminister für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung Wolfgang Tiefensee das Projekt eines „integrierten Börsen-
gangs“. Dafür wurde auch ein umfangreicher Gesetzentwurf entwickelt und in
erster Lesung im Deutschen Bundestag debattiert. Das Projekt scheiterte auf-
grund von Protesten in der Bevölkerung, einer breit angelegten Kampagne der
Bahnprivatisierungsgegner („Bahn für Alle“), des innerparteilichen Wider-
stands in der SPD (was auf dem Hamburger SPD-Parteitag im Oktober 2007
dazu führte, dass die große Mehrheit der Parteitagsdelegierten sich gegen den
gesamten Parteivorstand stellte) und der Finanzmarktkrise. Nur wenige Wochen
vor dem für Oktober 2008 angesetzten Börsengang der DB AG musste die Bun-
desregierung die Reißleine ziehen und das Projekt vorläufig absagen. Allerdings
fassten die damaligen Regierungsparteien der CDU, CSU und SPD im Mai 2008
einen auch heute noch gültigen Beschluss (Bundestagsdrucksache 16/9070), der
eine Teilprivatisierung des gesamten Bahnbetriebs (der DB AG mit Nah-, Fern-
und Güterverkehr auf Schienen und der weltweiten Logistik) fordert. Im Koali-
tionsvertrag der gegenwärtigen Bundesregierung vom Oktober 2009 wird fest-
gehalten: „Sobald der Kapitalmarkt es zulässt, werden wir die schrittweise, er-
tragsoptimierte Privatisierung der Transport- und Logistiksparten“ der DB AG
,einleiten‘. Im Januar 2011 erklärten maßgebliche Verkehrspolitiker der Regie-
rungsparteien, die Bundesregierung favorisiere inzwischen eine Bahnprivatisie-
rung, bei der der „Wettbewerb“ weiter gesteigert und ein Teilverkauf der
DB AG, insbesondere der Verkauf des Schienengüterverkehrs (Schenker;
DB Railion), im Zentrum steht (börsenblatt vom 13. Januar 2011).

Auswirkungen der Orientierung auf die Bahnprivatisierung

Im Zeitraum von 1995 bis 2010 wurde die Zahl der Beschäftigten im Bereich
Schiene (DB AG und Private zusammen) mehr als halbiert – bei insgesamt grö-
ßeren Leistungen (Reduktion von 450 000 auf 185 000). Die Arbeitsintensität
der Beschäftigten wurde erheblich erhöht. Das Lohnniveau stagniert in dem
Zeitraum real; teilweise gibt es auch absolute Absenkungen. Mehr als 2 000
Bahnhöfe wurden geschlossen, mehr als 1 000 verkauft. Zehntausende Schalter
wurden geschlossen. Das Schienennetz wurde ein weiteres Mal um 9 000 km
– von 44 000 auf 35 000 km – gekappt.

Die Zahl der Langsamfahrstellen erhöht sich kontinuierlich. Meist werden sie in
neue Fahrpläne integriert, sodass sie als solche erst gar nicht aufgeführt werden.
Dies mündet jedoch oft in verlängerte Fahrzeiten. Ein interessantes Beispiel:
Auf der Verbindung Stuttgart–München benötigt der ICE laut Fahrplan 2010/
2011 144 Minuten. Die Bahn und das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung versprechen, mit der Neubaustrecke Stuttgart–Wendlingen–
Ulm die Fahrzeit auf 109 Minuten zu reduzieren. Nun benötigte die Bahn vor
15 Jahren, im Jahr 1995, laut Fahrplan für dieselbe Strecke Stuttgart–München

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/4433

121 Minuten. Das heißt, es gab eine Fahrzeitverlängerung von 21 Minuten in
15 Jahren. Dies ist in erheblichem Maß das Resultat der Verschlechterung der
Infrastruktur. Allein Investitionen in die Infrastruktur mit dem Ziel, hier das
Niveau von 1995 zu erreichen, würden mehr als die Hälfte des Fahrzeitgewinns
erbringen, der mit Stuttgart 21 und der Neubaustrecke verbunden ist. Bei den zur
Debatte stehenden Investitionen in die Infrastruktur geht es um einige Hundert
Millionen Euro; bei Stuttgart 21 und der Neubaustrecke geht es um mehr als
8 Mrd. Euro.

S-Bahn Berlin: Geschichte, Krise und Opfer des gewollten Bahnbörsengangs

Der Betrieb der S-Bahn in Berlin war über rund ein Jahrhundert hinweg weitge-
hend stabil. Diese Solidität der Berliner S-Bahn wirkte auf die Berlinerinnen und
Berliner überzeugend: Als beispielsweise die DDR die S-Bahn im Westteil der
Stadt nach dem S-Bahn-Streik im Jahr 1980 aufgegeben hatte und als der West-
berliner Senat das Verkehrsmittel S-Bahn einstellen wollte, gab es mehrere Ini-
tiativen zur Reaktivierung der S-Bahn, die in der Westberliner Bevölkerung
großen Widerhall fanden. Der Westberliner Senat rang sich zur Wiederbelebung
der S-Bahn durch: Pünktlich zur Abgeordnetenhauswahl, am 1. Februar 1985,
wurden die Wannseebahn – und in den Folgejahren weitere S-Bahn-Strecken –
wieder eröffnet. Nach der Wende wurde die S-Bahn weiter ausgebaut, was von
hohen Fahrgastgewinnen begleitet war.

Im Dezember 2010 und Anfang Januar 2011 konnte die Berliner S-Bahn zeit-
weilig nur 36 Prozent ihres Wagenparks einsetzen (200 von 526 S-Bahn-Zügen).
Das entsprach dem Stand des Nachkriegsjahres 1946. Die Außenbezirke Span-
dau und Hennigsdorf wurden mehr als eine Woche lang komplett von der S-Bahn
abgehängt. Seit mehr als einem Jahr fährt die S-Bahn im Notfahrplanmodus. Die
Berliner S-Bahn erlebt 2010/2011 den dritten Krisenwinter. Bei der S-Bahn
Berlin sind die Folgen des Privatisierungskurses besonders deutlich: Die Beleg-
schaft wurde radikal abgebaut, das Personal von fast allen S-Bahnhöfen abgezo-
gen, die Wartungsintervalle „gespreizt“ und die Instandhaltungskapazitäten in
unverantwortlichem Maß reduziert. In der Hauptwerkstatt wurde die Zahl der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von 800 auf 200 und die Zahl der Meister von
26 auf 3 heruntergefahren. Seit 2005 gab es mit dem Sparprogramm „OSB“
(Optimierungsprogramm S-Bahn) die Zielsetzung, von Jahr zu Jahr die Mittel-
abführung aus dem Bereich der S-Bahn an den Mutterkonzern DB AG zu stei-
gern, um auf diese Weise die Gewinne der DB AG zu maximieren und den Bör-
sengang vorzubereiten. In dem Offenen Brief des ehemaligen Arbeitsdirektors
der S-Bahn Berlin, Ernst-Otto Constantin, an die Berliner Verkehrssenatorin und
an die Fraktionen des Berliner Abgeordnetenhauses vom 10. Januar 2011 wird
die folgende logische Bilanz gezogen: „Der heutige Zustand der S-Bahn war
damit vorherzusehen“. Der ehemalige S-Bahn-Arbeitsdirektor macht in diesem
Text auch deutlich, dass die für das S-Bahn-Desaster Verantwortlichen auch in
der gegenwärtigen Führungsspitze der DB AG in entscheidender Position ver-
treten sind: „Herr Thon [der ehemalige S-Bahn-Geschäftsführer; d. Red.] war
zwar vom Aufsichtsrat als Geschäftsführer der S-Bahn bestellt, er hatte jedoch
nie einen Dienstvertrag mit der S-Bahn, sondern nur mit DB Regio. Dort war zu
jener Zeit Herr Homburg Chef. Ihm gegenüber war Herr Thon mithin berichts-
pflichtig. Vieles spricht dafür, dass Herr Thon nichts ohne dessen Rücken-
deckung veranlasst hat. Auch deshalb ist für mich zuerst Herr Homburg in die
Verantwortung zu nehmen.“
Drucksache 17/4433 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Verfassung und Eisenbahn

Artikel 87e Absatz 3 und 4 GG lautet:

„(3) Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privat-
rechtlicher Form geführt. Diese stehen im Eigentum des Bundes, soweit die Tä-
tigkeit des Wirtschaftsunternehmens den Bau, die Unterhaltung und das Betrei-
ben von Schienenwegen umfasst. Die Veräußerung von Anteilen des Bundes an
den Unternehmen nach Satz 2 erfolgt auf Grund eine Gesetzes; die Mehrheit der
Anteile an diesen Unternehmen verbleibt beim Bund. Das Nähere wird durch
Bundesgesetz geregelt.

(4) Der Bund gewährleistet, dass dem Wohl der Allgemeinheit, insbesondere
den Verkehrsbedürfnissen, beim Ausbau und Erhalt des Schienennetzes der Ei-
senbahnen des Bundes sowie bei deren Verkehrsangeboten auf diesem Schie-
nennetz, soweit diese nicht den Schienenpersonennahverkehr betreffen, Rech-
nung getragen wird. Das Nähere wird durch Bundesgesetz geregelt.“

Die genannten Bundesgesetze gibt es auch 16 Jahre nach der „Bahnreform“
nicht. Damit wird das Nähere nicht geregelt; der Tatsache, dass der Bahnpriva-
tisierungskurs diametral der Zielsetzung „Gewährleistung des Wohls der Allge-
meinheit, insbesondere der Verkehrsbedürfnisse“ widerspricht, wird nicht ge-
gengesteuert (etwa durch ein Bundesgesetz, das Mindestverkehrsangebote für
einzelne Regionen, Oberzentren usw. definiert).

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