BT-Drucksache 17/4424

Menschenwürdiges Existenzminumum für alle - Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen

Vom 18. Januar 2011


Deutscher Bundestag Drucksache 17/4424
17. Wahlperiode 18. 01. 2011

Antrag
der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, Dr. Martina
Bunge, Sevim Dag˘delen, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Diana Golze,
Dr. Rosemarie Hein, Katja Kipping, Jutta Krellmann, Sabine Leidig, Cornelia
Möhring, Petra Pau, Jens Petermann, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Senger-Schäfer,
Raju Sharma, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Menschenwürdiges Existenzminimum für alle – Asylbewerberleistungsgesetz
abschaffen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil vom 9. Februar 2010
(1 BvL 1/09 u. a.) das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums aus Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit dem Sozialstaats-
prinzip des Artikels 20 Absatz 1 des Grundgesetzes (GG) anerkannt, das für alle
Menschen gleichermaßen gilt. Dieses Grundrecht sichert allen Hilfebedürftigen
unabhängig vom Aufenthaltsstatus ein Existenzminimum zu, das nicht nur die
physische Existenz, sondern auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaft-
lichen, kulturellen und politischen Leben und die Möglichkeit der Pflege zwi-
schen menschlicher Beziehungen umfasst.

Das 1993 im Zuge des „Asylkompromisses“ geschaffene Asylbewerberleis-
tungsgesetz (AsylbLG) ist mit diesen verfassungsgerichtlichen Vorgaben un-
vereinbar. Normiert wurde ein Existenzminimum zweiter Klasse, das sich nicht
nach den realen Bedürfnissen der Betroffenen richtet, sondern im Gegenteil
abschreckend wirken und eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhin-
dern soll. Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der
Fraktion DIE LINKE. auf Bundestagsdrucksache 17/3660 bestätigt, dass die
auf bloßen Schätzungen und politischen Vorgaben basierende Festsetzung der
Leistungen nach dem AsylbLG nicht den Anforderungen des Urteils vom
9. Februar 2010 entspricht.

Der seit 1993 andauernde verfassungswidrige Umgang mit Schutzsuchenden
muss schnellstmöglich beendet werden (vgl. Entschließungsantrag der Fraktion
DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 17/4106). Ein besonderer gesetzgeberi-
scher Handlungsbedarf ergibt sich daraus, dass die – gegenüber dem Zweiten

und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch um etwa ein Drittel reduzierten – Leis-
tungen nach § 3 AsylbLG trotz einer Preissteigerung seit 1993 in Höhe von
25 Prozent und trotz der vom Verfassungsgericht geforderten fortwährenden
Überprüfung der Bedarfssätze niemals angehoben wurden. Nach Ansicht des
Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen sind die Leistungen für
ein menschenwürdiges Existenzminimum offenkundig unzureichend (Vorlage-
beschluss an das Bundesverfassungsgericht vom 26. Juli 2010, L 20 AY 13/09).

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Mit einem menschenwürdigen Umgang ebenfalls unvereinbar ist es, Asylsu-
chenden und Personen mit unsicherem Aufenthaltsstatus eine nur einge-
schränkte Gesundheitsversorgung zuteilwerden zu lassen. Ausgrenzend und
diskriminierend sind auch die gesetzliche Vorgabe einer Sachleistungsversor-
gung und die Praxis der Zwangsunterbringung in unzureichenden Massenunter-
künften. Arbeitsverbote bzw. Beschränkungen des Arbeitsmarktzugangs und
der Bewegungsfreiheit (Residenzpflicht) ergänzen die systematische Desinteg-
ration durch das Asylbewerberleistungsgesetz. Im Ergebnis stellen diese erheb-
lichen Beschränkungen des Lebens von Schutzsuchenden eine menschen-
rechtswidrige und rechtsstaatlich inakzeptable Politik der Abschreckung dar.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

schnellstmöglich einen Gesetzentwurf vorzulegen, mit dem das Asylbewerber-
leistungsgesetz aufgehoben und der Kreis der Leistungsberechtigten nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch um die bisher nach dem Asyl-
bewerberleistungsgesetz Leistungsberechtigten ergänzt wird. Soweit dies zu
einer finanziellen Mehrbelastung der Kommunen führt, hat der Bund diese
durch eine entsprechende Beteiligung gegenüber den Ländern auszugleichen.

Berlin, den 18. Januar 2011

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

In ihrer Antwort vom 10. März 2010 auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE
LINKE. zu den Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils vom
9. Februar 2010 auf das Asylbewerberleistungsgesetz (Bundestagsdrucksache
17/979) bestätigte die Bundesregierung, dass das Grundrecht auf Gewähr-
leistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ein Menschenrecht jen-
seits aufenthaltsrechtlicher Statusfragen ist und „universale Geltung“ besitzt
(zu Frage 1). Weiter räumte sie ein, dass der Bedarf nach dem AsylbLG „ab-
strakt bestimmt“ wurde (zu Frage 6) und dass dies den verfassungsgericht-
lichen Anforderungen einer realitätsnahen, transparenten und nachvollziehba-
ren Berechnung des Existenzminimums widerspricht (vgl. Antwort auf die
Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE., Bundestagsdrucksache 17/3660, zu
den Fragen 1 bis 7). Bereits die vorherige Bundesregierung hatte im Rahmen
der Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE. erläutert, dass die Höhe der
Grundleistungen auf bloßen „Kostenschätzungen“ basierte, zu deren empiri-
schen Annahmen und Methoden keinerlei genauere Angaben gemacht werden
konnten – außer, dass durch den so genannten Asylkompromiss von 1992 „vor-
gegeben“ gewesen sei, „dass der Mindestunterhalt während des Asylverfahrens
deutlich abgesenkt zu den Leistungen nach dem damaligen BSHG bestimmt
werden sollte“ (vgl. Bundestagsdrucksache 16/9018, zu den Fragen 2e und f).

Diese willkürliche und damit verfassungswidrige Regelsatzbestimmung er-
folgte 1993 mit Blick auf die Gruppe der Asylsuchenden. Später wurde sie auf
weitere Personengruppen übertragen (Geduldete, Menschen mit humanitärer
Aufenthaltserlaubnis), erneut ohne dass es eine tatsachenbasierte Bedarfs-
ermittlung oder Begründung gegeben hätte. Gleiches gilt für die sukzessive
Verlängerung der Frist, innerhalb der nur gekürzte Leistungen gewährt werden,
von einem auf drei und schließlich auf vier Jahre (Grundleistungsbezug). Die

Grundannahme des Gesetzgebers aus dem Jahr 1993, wonach es beim AsylbLG

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um die „speziellen Bedürfnisse“ von Asylsuchenden für die Dauer des Asylver-
fahrens und einen „in der Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthalt“
gehe, wird zwar auch von nachfolgenden und der heutigen Bundesregierung
geteilt (vgl. Bundestagsdrucksachen 12/5008, S. 15; 16/9018 zu Frage 5 und
17/979 zu den Fragen 3 und 4). Sie ist aber falsch: Die durchschnittliche bishe-
rige Dauer des Leistungsbezugs bei Berechtigten nach dem AsylbLG betrug
Ende 2009 mehr als drei Jahre (Bundestagsdrucksache 17/3660, Anhang 2).
Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer der Betroffenen ist noch einmal länger:
Bei fast der Hälfte aller Leistungsbeziehenden handelt es sich um geduldete
Personen, die nach Angaben des Ausländerzentralregisters im Durchschnitt zu
fast zwei Dritteln bereits länger als sechs Jahre in Deutschland leben.

Die Auffassung des Gesetzgebers bzw. der Bundesregierung, „für eine einge-
schränkte Zeit“ seien beim Personenkreis des AsylbLG „keine Leistungen für
eine Integration“ bzw. für „soziale Integrationsbedürfnisse“ erforderlich (vgl.
Bundestagsdrucksachen 12/5008, S. 15 und 17/979 zu den Fragen 3 und 4),
widerspricht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in dem der konkretisie-
rende „Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei der sozialen Seite des
Existenzminimums“ zwar als „weiter“ als bei seiner „physischen Seite“
bezeichnet wurde (BVerfG, Urteil vom 9. Februar 2010 – 1 BvL 1/09 u. a.,
Rn. 152). Der Spielraum ist dennoch nicht weit, so der Richter am
Bundesverwaltungsgericht a. D. Dr. Ralf Rothkegel in der „Zeitschrift für die
sozialrechtliche Praxis“ (3/2010, S. 137). Denn ein „Mindestmaß an Teilhabe
am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ und die „Möglichkeit
zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen“ gehören unabdingbar zum vom
Staat zu schützenden und zu gewährleistenden „unverfügbaren“ Grundrecht auf
ein menschenwürdiges Existenzminimum (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 134 bis
137).

Überraschenderweise und in Absetzung zu bisherigen Antworten erklärte die
Bundesregierung auf Bundestagsdrucksache 17/3660 zu Frage 8, dass sich seit
der Gesetzesänderung im Jahr 1997 die Dauer der Gewährung gekürzter Leis-
tungen nach § 3 AsylbLG nicht danach richte, inwieweit anzuerkennende In-
tegrationsbedürfnisse vorlägen. Vielmehr sei „der Gedanke der Kosteneinspa-
rung“ […] „in den Vordergrund“ getreten, was seinen Ausdruck darin gefunden
habe, dass von der seit dem 1. Juni 1997 geltenden „Vorbezugszeit“-Regelung
von 36 (heute: 48) Monaten alle Leistungsberechtigten betroffen waren bzw.
sind, unabhängig vom Grad der erreichten Integration. Diese Einschätzung ist
zutreffend. Unverständlich ist allerdings, weshalb die Bundesregierung nicht
erkennt, dass solche Einschränkungen des Grundrechts auf Gewährleistung ei-
nes menschenwürdigen Existenzminimums mit der Begründung einer „Kosten-
einsparung“ klar verfassungswidrig sind. Zwar wurden in der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts eigenständige Regelungen für Ausländerinnen
und Ausländer mit voraussichtlich nur vorübergehendem Aufenthalt als grund-
sätzlich zulässig erachtet (hierauf beruft sich auch die Bundesregierung, vgl.
Bundestagsdrucksache 17/3660 zu den Fragen 14, 18 und 19). Jedoch muss
auch ein solches Konzept den Grundsätzen der Entscheidung vom 9. Februar
2010 entsprechen. Weshalb aber die Grundbedürfnisse von Schutzsuchenden
über die Dauer von vier Jahren um etwa ein Drittel geringer sein sollten als bei
anderen hier lebenden Menschen, ist schlechterdings nicht begründbar. Es ist
auch widersprüchlich, die Festsetzung der Leistungen durch bloße Schätzung
als verfassungswidrig anzusehen, es aber andererseits für zulässig zu halten,
über die Dauer erheblicher Leistungskürzungen nach politischem Gutdünken
frei befinden zu können. Beides ist unhaltbar. Schließlich verstößt auch die
tragende Gesetzesbegründung, wonach kein „Anreiz“ für eine Einreise „aus
wirtschaftlichen Gründen“ geschaffen bzw. „Schlepperorganisationen“ be-

kämpft werden sollten (vgl. z. B. Bundestagsdrucksachen 12/5008, S. 2, 13 und
12/4451, S. 8), erkennbar gegen das unverfügbare Grundrecht auf Ge-

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währleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Landessozial-
gericht für das Land Nordrhein-Westfalen befindet in seinem Vorlagebeschluss
vom 26. Juli 2010 an das Bundesverfassungsgericht (L 20 AY 13/09, S. 42),
dass es sich in Hinblick auf die grundrechtswahrende Sicherstellung eines men-
schenwürdigen Existenzminimums von selbst verbiete, in Deutschland lebende
Personen in „Mithaftung“ zu nehmen für „mögliche asylrechtlich nicht akzep-
table Motive potenzieller Asylantragsteller“.

Notwendige Bildungsausgaben und kinder- bzw. altersspezifische Bedarfe sind
bei der Festlegung des Existenzminimums nach Auffassung des Bundesver-
fassungsgerichts eigenständig zu ermitteln und zu berücksichtigen. Auch dies
ist beim AsylbLG unterblieben. Flüchtlingskinder haben im Rahmen des § 3
AsylbLG auch keinen Zugang zu den ab 1. Januar 2011 vorgesehenen „Bil-
dungs- und Teilhabepakten“, obwohl nicht einmal im Ansatz begründet werden
kann, weshalb sie geringere Bildungsbedarfe haben sollten als andere Kinder.
Mittlerweile haben fast alle Bundesländer die Kinder von Asylsuchenden und
geduldeten Flüchtlingen in den Kreis der Schulpflichtigen aufgenommen.
Somit steht der Staat in der Pflicht, die Wahrnehmung der Schulpflicht auch
materiell abzusichern. Der Deutsche Caritasverband hat in einem Fachpapier
zum Handlungsbedarf nach der Rücknahme des Vorbehalts zur UN-Kinder-
rechtskonvention klargestellt, dass diesen Kindern „Mittel gewährt werden
müssen, die ihnen den Schulbesuch und die Teilnahme an sportlichen, kreati-
ven und Förderangeboten ermöglichen“.

Die Bundesregierung lässt erkennen, dass auch sie die Nichtanpassung der ge-
kürzten Leistungssätze seit 1993 und den hierfür ursächlichen Anpassungs-
mechanismus des AsylbLG für verfassungswidrig und änderungsbedürftig hält
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/3660, zu Frage 11). Ihr vorheriges Argument,
Leistungen nach dem AsylbLG würden „in der Regel“ in Sachleistungsform
gewährt und unterlägen schon deshalb nicht der Preissteigerung (Bundestags-
drucksache 17/979, zu Frage 21c), widerspricht auch der Realität: Grundleis-
tungen nach § 3 AsylbLG waren im Jahr 2009 zu 48,5 Prozent Geldleistungen
(vgl. Bundestagsdrucksache 17/3660, Anhang 6). Zudem orientieren sich in der
Praxis sowohl die Anbieter von Sachleistungen als auch abrechnende Behörden
an dem im Gesetz festgeschriebenen Geldbetrag.

Einen weiteren Verstoß gegen das menschenwürdige Existenzminimum stellt
die eingeschränkte Gesundheitsversorgung nach dem AsylbLG dar. Nach § 4
AsylbLG ist keine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung, sondern lediglich
eine Behandlung akuter Erkrankungen und Schmerzzustände sowie die Versor-
gung bei Mutter- und Schwangerschaft vorgesehen. Sonstige Behandlungen
stehen im Ermessen der Behörden, aber nur soweit sie „zur Sicherung […] der
Gesundheit unerlässlich“ sind (§ 6 AsylbLG). Für Asylsuchende, Geduldete
und Menschen mit humanitärem Aufenthaltsstatus sind die durchschnittlichen
Kosten für die Gesundheitsversorgung der Mitglieder der gesetzlichen Kran-
kenkassen an den Gesundheitsfonds zu überweisen, entsprechend der Forde-
rung der Fraktion DIE LINKE. bei Empfängerinnen und -empfängern von
Arbeitslosengeld II (vgl. Bundestagsdrucksache 17/495). Nach § 12 des Fünf-
ten Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) müssen Leistungen ausreichend, zweck-
mäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht über-
schreiten. Darunter zu bleiben heißt, notwendige Leistungen zu verweigern.
Auch der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, Rainer Richter, kri-
tisierte eine „besonders krasse Unterversorgung“ bei der Behandlung von
Flüchtlingen. Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge sollten schnellstmöglich den
gleichen Anspruch auf Krankenbehandlung wie die gesetzlich Krankenver-
sicherten erhalten, appellierte er an die Bundesregierung (KNA, 6. Oktober
2010).

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Die zwangsweise Unterbringung in Sammelunterkünften zeigt den diskrimi-
nierenden Charakter des AsylbLG besonders deutlich. In einigen Flächenlän-
dern liegen die Sammelunterkünfte oft in Randlagen und haben keinerlei An-
bindung an die lokale Infrastruktur, mit entsprechenden Konsequenzen für die
Betroffenen (schlechte Erreichbarkeit von Schulen, sozialen und kulturellen
Einrichtungen, eingeschränkter Zugang zu ärztlicher und psychologischer Ver-
sorgung und anwaltlicher Hilfe, kaum Arbeitsmöglichkeiten etc.). Die meist
privaten Betreiber dieser Unterkünfte verfolgen in erster Linie ein Profit-
interesse, was zu eklatanten baulichen und hygienischen Mängeln führen kann.
Dieses negative Umfeld, Konflikte zwischen den auf engem Raum zusammen-
gepferchten Menschen verschiedenster Herkunft und eine mangelhafte Berück-
sichtigung der besonderen Bedürfnisse von Familien, unbegleiteten Minderjäh-
rigen und alleinstehenden Frauen führen häufig zu nachhaltigen physischen
und psychischen Schädigungen bei den Betroffenen. Dem kann nur durch die
Möglichkeit der eigenständigen Anmietung von Wohnraum sinnvoll begegnet
werden. Damit würde auch der stigmatisierende Charakter dieser Unterbrin-
gungsform wegfallen, der eine Ablehnung der deutschen Mehrheitsbevölke-
rung gegenüber den Betroffenen befördert.

Das Sachleistungsprinzip, d. h. der erzwungene Einkauf mit Gutscheinen oder
eine Versorgung mit Essenspaketen, ist besonders diskriminierend. Es grenzt an
eine staatlich organisierte Körperverletzung, wenn Menschen mit häufig ganz
anderen Essgewohnheiten – ohne Not, zur Abschreckung – über Jahre hinweg
nicht einmal mehr darüber bestimmen können, was sie essen und es infolgedes-
sen auch zu Mangelernährung kommt. Das Sachleistungsprinzip ist auch mit
erheblichen Mehrkosten verbunden: Im Sachleistungsland Bayern lagen nach
Angaben des Statistischen Bundesamtes die Ausgaben nach dem AsylbLG pro
Person im Jahr 2009 um etwa 40 Prozent über dem Bundesdurchschnitt – und
das, obwohl hier der Anteil der Leistungsberechtigten nach § 2 AsylbLG (d. h.
analog zum SGB XII) besonders niedrig ist.

Aus all diesen Gründen muss der Gesetzgeber den rechtsstaatswidrigen Skan-
dal des AsylbLG aus eigener Kraft und schnellstmöglich beenden und nicht bis
zu einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über dessen Verfas-
sungswidrigkeit warten. Der Gesetzgeber sollte auch davon absehen, die Men-
schenwürde bei Schutzsuchenden nur in kleiner Münze auszubezahlen und zu
versuchen, durch fragwürdige Berechnungen und Annahmen ein niedrigeres
Existenzminimum für diese oft besonders schutzbedürftigen Menschen fest-
zusetzen. Die Menschenwürde muss auch und besonders für Flüchtlinge ohne
Rabatt gelten. Derzeit stehen dem nicht nur das AsylbLG, sondern auch weitere
restriktive Regelungen wie die Residenzpflicht und der beschränkte Zugang
zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt entgegen.

Gegen die als elementare Menschenrechtsverletzungen empfundenen psychisch
und physisch krank machenden Einschränkungen ihrer Lebensbedingungen
richten sich auch die anhaltenden Proteste Betroffener. Die Selbstorganisation
The VOICE etwa kämpft seit Jahren „für die Schließung aller Isolationslager in
Thüringen/Deutschland“ (www.thevoiceforum.org). Im Lager- und Sachleis-
tungsland Bayern ist die Verzweiflung der Menschen besonders groß: Ende
November/Anfang Dezember 2010 verweigerten etwa 450 bis 500 Flüchtlinge
die Annahme von unzureichenden Essenspaketen und forderten die Achtung
ihrer Privatsphäre und hygienische und menschenwürdige Wohnbedingungen.
250 von ihnen befanden sich zudem in einem Hungerstreik (www.fluechtlingsrat-
bayern.de).

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