BT-Drucksache 17/3686

Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen

Vom 10. November 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/3686
17. Wahlperiode 10. 11. 2010

Antrag
der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Marieluise Beck (Bremen),
Ingrid Hönlinger, Katja Keul, Ute Koczy, Tom Koenigs, Agnes Malczak, Jerzy
Montag, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Visumfreie Einreise türkischer Staatsangehöriger für Kurzaufenthalte ermöglichen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 19. Februar 2009
(Soysal, C-228/06) ist klar geworden, dass von vielen türkischen Staatsangehö-
rigen bereits heute – entgegen der Praxis der deutschen Auslandsvertretungen
und der Grenzbehörden – kein Visum für die Einreise nach Deutschland verlangt
werden darf, weil dies ein Verstoß gegen das Assoziationsrecht wäre.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich innerhalb der Europäischen Union für eine visumfreie Einreise tür-
kischer Staatsangehöriger einzusetzen durch Änderung der Verordnung (EG)
Nr. 539/2001 und bis dahin

2. die deutschen Auslandsvertretungen und Grenzbehörden dahingehend zu
instruieren, dass türkische Staatsangehörige, die in Deutschland die Dienst-
leistungsfreiheit während eines Kurzaufenthalts in Anspruch nehmen wollen,
entsprechend den Vorgaben des Assoziationsrechts EG-Türkei visumfrei in
das Bundesgebiet einreisen können.

Berlin, den 9. November 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion
Begründung

Das Visumhandbuch des Auswärtigen Amts enthält unter dem Beitrag „Tür-
kische Staatsangehörige (Dienstleistungserbringung)“ eine abschließende Auf-
zählung derjenigen Personengruppen, die zum Zwecke der Dienstleistungs-
erbringung visumfrei nach Deutschland einreisen können. Danach sind von der
Visumfreiheit zum einen Personen erfasst, die Vorträge und Darbietungen von
besonderem künstlerischen oder wissenschaftlichen Wert oder Darbietungen

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sportlichen Charakters erbringen. Zum anderen sind Arbeitnehmer von der
Visumpflicht befreit, die für türkische Unternehmen bestimmte Montage- und
Instandhaltungsarbeiten durchführen oder im grenzüberschreitenden Personen-
und Güterverkehr tätig sind. Diese Beschränkung der Visumfreiheit auf die vor-
genannten Personengruppen verstößt gegen das Gemeinschaftsrecht.

1. Rechtslage gemäß Artikel 14 des Assoziierungsabkommens i. V. m. Arti-
kel 41 Absatz 1 des Zusatzprotokolls

Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 19. Februar 2009 (Soysal,
C-228/06) festgestellt, dass das Verschlechterungsverbot in Artikel 41 des
Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen mit der Türkei auch für das
Visumverfahren Wirkung entfaltet. Die Mitgliedstaaten durften daher für türki-
sche Staatsangehörige nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls (1. Januar
1973) keine neuen Beschränkungen der „Niederlassungsfreiheit und des freien
Dienstleistungsverkehrs“ durch Einführung des Visumzwanges errichten.

Gegen diese Vorgabe hat Deutschland – wie auch andere Mitgliedstaaten – ver-
stoßen, wie das Urteil „Soysal“ belegt. Die Auswirkungen dieser Entscheidung
sind weitreichend und gehen über den vom EuGH entschiedenen Fall eines tür-
kischen Fernfahrers hinaus, der für seinen türkischen Arbeitgeber in Deutsch-
land Dienstleistungen erbringen wollte.

Denn zum „freien Dienstleistungsverkehr“ innerhalb der EU, der über Artikel 14
des Assoziierungsabkommen auch für türkische Staatsangehörige gilt, gehört
die Freiheit, einzureisen, um in einem anderen Mitgliedstaat Dienstleistungen
nicht nur zu erbringen, sondern auch in Anspruch zu nehmen. Diese Definition
des freien Dienstleistungsverkehrs galt bereits zum Zeitpunkt des Inkrafttretens
des Zusatzprotokolls, wie sich den Regelungen des sekundären Gemeinschafts-
rechts entnehmen lässt und ist daher für die Reichweite des Verschlechterungs-
verbots maßgeblich. Bereits in den ersten Richtlinien zur Dienstleistungsfreiheit
wurden der Erbringer und der Empfänger von Dienstleistungen gleichermaßen
erfasst. Insbesondere der Anwendungsbereich der Richtlinie 64/221/EWG vom
25. Februar 1964 und der Richtlinie 73/148/EWG vom 21. Mai 1973 umfassen
auch die passive Dienstleistungsfreiheit ausdrücklich.

Auch von der deutschen Rechtsprechung wurde mehrfach anerkannt, dass die
Freiheit eines Leistungsempfängers, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleis-
tung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, von dem Verschlechterungsver-
bot erfasst wird (vgl. u. a. Verwaltungsgericht Gießen, Beschluss vom
31. August 2009, Az. 7 L 38/09; Verwaltungsgericht Darmstadt, Beschluss vom
28. Oktober 2005, Az. 8 G 1070/05; Verwaltungsgericht Berlin, Beschluss vom
25. Februar 2009, Az. 19 V 61.08). Die deutsche Fachliteratur geht ebenso von
einer solchen Reichweite des Verschlechterungsverbots aus (vgl. Dienelt, ZAR
2009, S. 182 ff.; Westphal, InfAuslR 2009, S. 133 ff.; Mielitz, NVwZ 2009,
S. 276 ff.; Gutmann, ZAR 2008, S. 5 ff.).

Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls unterlagen türkische
Staatsangehörige bei der Einreise nach Deutschland zum Zwecke des freien
Dienstleistungsverkehrs keiner Visumpflicht. Nach § 5 Absatz 1 Nummer 1 der
Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) in der am
1. Januar 1973 anwendbaren Fassung in Verbindung mit der Anlage bedurften
türkische Staatsangehörige für die Einreise in das Bundesgebiet nur dann eines
Visums, wenn sie eine Erwerbstätigkeit aufnehmen wollten. Für sonstige Auf-
enthalte bestand entsprechend der in der Anlage zur DVAuslG aufgeführten
Positivliste ohne zeitliche Begrenzung keine Visumpflicht. Die Visumpflicht
wurde für türkische Staatsangehörige erst durch die elfte Verordnung zur
DVAuslG vom 1. Juli 1980 eingeführt, mit welcher die Türkei von der Positiv-

liste gestrichen wurde.

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Nach dem Assoziierungsabkommen in Verbindung mit dem Verschlechterungs-
verbot besteht also auch für türkische Touristen, die nach Deutschland reisen
wollen, keine Visumpflicht. Sie können so in Deutschland ohne bürokratischen
Aufwand vielfältige Dienstleistungen in Anspruch nehmen.

2. Änderung der Verordnung (EG) Nr. 539/2001

Die Bundesregierung ist gefordert, sich in der Europäischen Union für eine
allgemeine visumfreie Einreise für türkische Staatsangehörige bei einem Kurz-
aufenthalt einzusetzen. Auch für andere Mitgliedstaaten der Europäischen
Union gilt das assoziationsrechtliche Verschlechterungsverbot. Deshalb und aus
den grundsätzlichen Erwägungen der Einheitlichkeit innerhalb des EU-Raumes
ist auf eine Änderung der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 hinzuwirken.

Aus praktischen Gründen ist es notwendig, die visumfreie Einreise nicht nur für
türkische Staatsangehörige einzuführen, die von ihrer Dienstleistungsfreiheit
Gebrauch machen, sondern für alle türkischen Staatsangehörigen, die für einen
Kurzaufenthalt in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union einreisen möch-
ten. Denn solange die Visumfreiheit auf bestimmte Personengruppen beschränkt
ist, müssen die Luftverkehrsunternehmen und der Grenzschutz prüfen, welche
türkischen Staatsangehörigen im Rahmen der Dienstleistungserbringung oder
des -empfangs in die Europäische Union einreisen. Diese Vorgehensweise
würde die Grenzbehörden und Luftverkehrsunternehmen auf Dauer überfor-
dern. Bereits heute ergeben sich bei der Einreise visumbefreiter Dienstleistungs-
erbringer an der Grenze Probleme, weil eine Überprüfung des Einreisezwecks
oftmals nur schwer möglich ist. Viele Betroffene sehen sich sogar gezwungen,
im Vorfeld ihrer Reise bei der Auslandsvertretung eine Bestätigung über die
Visumbefreiung zu beantragen. Dieses Verfahren ist jedoch zum Teil kom-
plizierter und aufwendiger als die Beantragung eines Visums selbst, so dass den
Betroffenen damit nicht geholfen ist.

Es ist Aufgabe der Bundesregierung, die entsprechende Änderung der Verord-
nung (EG) Nr. 539/2001 voranzubringen, auch um weitere Klagen und Kosten
von der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Sonst setzt sie sich dem
Verdacht aus, türkischen Staatsangehörigen in großem Stil ihre Rechte bewusst
vorzuenthalten.

Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedstaaten der EU sind gehalten, mit
türkischen Staatsangehörigen und der Türkei dem Stand der Beitrittsverhand-
lungen gemäß umzugehen. Die Türkei verdient insbesondere angesichts der
Aufhebung der Visumpflicht für Staatsangehörige aus den EU-Bewerberstaaten
Serbien, Mazedonien und Montenegro gleiches Recht auch für ihre Staatsange-
hörigen.

Deutschland und die anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union werden
ihre Steuerungsfähigkeit im Bereich der Migrationspolitik durch die visumfreie
kurzfristige Einreise nicht verlieren. Deutschland kann weiter darüber entschei-
den, ob türkische Staatsangehörige sich in Deutschland niederlassen dürfen, hier
eine längerfristige Erwerbstätigkeit aufnehmen können oder zum Zweck des
Familiennachzugs einreisen können. In den genannten Fällen kann Deutschland
auch weiter verlangen, dass die Betroffenen vor der Einreise ein Visum ein-
holen.

Im Übrigen sind auch Beeinträchtigungen der inneren Sicherheit nicht zu be-
fürchten, weil Deutschland, z. B. an Flughäfen, weiterhin auch visumfreie Aus-
länderinnen und Ausländer zurückweisen kann, wenn Ausweisungsgründe vor-
liegen oder der begründete Verdacht besteht, dass der Aufenthalt nicht dem
angegebenen Zweck dient.

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3. Assoziationsrechtskonforme Visavergabepraxis in Deutschland

Solange türkische Staatsangehörige durch eine entsprechende Änderung der EG-
Verordnung nicht von der Visumpflicht befreit sind, ist die Bundesregierung
verpflichtet, unmittelbar dafür zu sorgen, dass die Praxis der deutschen Behör-
den jedenfalls der „Soysal“-Entscheidung des EuGH entspricht. Für türkische
Staatsangehörige, welche die Dienstleistungsfreiheit während eines Kurzaufent-
halts in Anspruch nehmen, muss die Einreise sofort visumfrei möglich sein.

Die vorgeschlagene Änderung ist umso dringlicher als die restriktive und un-
durchsichtige Visavergabepraxis der deutschen Botschaft den wirtschaftlichen
und kulturellen Austausch mit der Türkei erheblich beeinträchtigt. Betroffene
monieren wochen- oder sogar monatelange Wartezeiten, zu viel Bürokratie,
nicht nachvollziehbare Begründungen für Ablehnungen und zu hohe Kosten. Es
kommt nicht selten vor, dass sich die Antragstellenden nach langwierigen er-
folglosen Verfahren vor der deutschen Botschaft ihr Einreiserecht schließlich
einklagen müssen. Selbst bei Personen, die sogar nach der geltenden Regelung
offensichtlich visumfrei nach Deutschland einreisen dürfen, verlangt die deut-
sche Botschaft eine Vielzahl von Dokumenten und lässt die Betroffenen zeit-
und kostenintensive Verfahren durchlaufen. So wird etwa türkischen Musikern
und Künstlern, die in den USA studiert oder in Japan Ausstellungen eröffnet
haben, die Einreise nach Deutschland durch die deutsche Botschaft erschwert
oder sogar verhindert. Ebenso scheitern Begegnungen von Städtepartnerschaf-
ten zwischen deutschen und türkischen Städten an abgelehnten Visumanträgen.

Auch türkische und deutsche Unternehmen fordern eine Lockerung der Rege-
lungen für die Visumvergabe, wie sie die Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
am 30. März 2010 bei ihrem letzten Besuch in der Türkei angekündigt hat.
Anderenfalls drohe nach Angaben des Präsidenten der Deutsch-Türkischen
Industrie- und Handelskammer ein Schaden für die Geschäfte mit der Türkei.
Schon jetzt sei der deutsche Anteil an den Importen in die Türkei von 9,9 auf
9,1 Prozent gefallen. Einige türkische Unternehmer meiden mittlerweile die
deutsche Botschaft und beantragen ihre Visa bei Botschaften anderer Mitglied-
staaten der EU, da sie dort schneller und einfacher das begehrte Visum erhalten.

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