BT-Drucksache 17/2934

Maßnahmen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums

Vom 14. September 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2934
17. Wahlperiode 14. 09. 2010

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, Klaus Ernst,
Jan Korte, Dr. Dietmar Bartsch, Karin Binder, Heidrun Dittrich, Ulla Jelpke,
Jutta Krellmann, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch,
Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Petra Pau, Jens Petermann, Ingrid Remmers,
Raju Sharma, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Frank Tempel, Dr. Kirsten
Tackmann, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Maßnahmen zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz- und
Teilhabeminimums

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Einführung von Hartz IV war eine historische Fehlentscheidung. Mit der
Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Verkürzung der Bezugsdauer des
Arbeitslosengelds wurden soziale Rechte entzogen. Erwerbslose werden nun-
mehr nach kürzester Zeit auf das neue, diskriminierende und Armut generie-
rende Fürsorgesystem Hartz IV verwiesen. Die Furcht vor einem derartigen so-
zialen Absturz reicht bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein. Sie wirkt
disziplinierend auf die Beschäftigten, schwächt die Kampfkraft der Gewerk-
schaften und zwingt die betroffenen Personen zur Annahme jeder Arbeit unab-
hängig von ihrer Qualität. Das strategische Ziel von Hartz IV ist die Auswei-
tung des Niedriglohnsektors. Hartz IV ergreift Partei im Verteilungskonflikt
gegen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und befördert die zunehmende
soziale Spaltung im Land.

Eine wesentliche Rolle in dieser Strategie spielt die Höhe der Regelleistung.
Ein Leistungsniveau unterhalb der Armutsgrenze dient als „Hungerpeitsche“
(Max Weber). Die Grundsicherung wird missbraucht als Instrument zur Aus-
weitung des Niedriglohnsektors. Diese Strategie nimmt in Kauf, dass die Leis-
tungen das verfassungsrechtlich vorgeschriebene Ziel einer menschenwürdigen
Existenz- und Teilhabesicherung nicht erfüllen. Stattdessen begünstigen die
viel zu geringen Leistungen Fehl- und Unterernährung, sie gefährden die Ge-
sundheit der Betroffenen und grenzen diese von der gesellschaftlichen, kul-
turellen und politischen Teilhabe aus.
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat demgegenüber in seinem Urteil vom
9. Februar 2010 den verfassungsrechtlichen Anspruch auf Gewährleistung eines
menschenwürdigen Existenzminimums als eigenständiges Grundrecht aus-
drücklich bekräftigt. Das Grundrecht aus Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes
(GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Artikels 20 Absatz 1 GG
sichert „jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die
für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am ge-

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sellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG,
1 BvL 1/09, Rn. 1 – 220, www.bverfg.de/entscheidungen/ls20100209_1bvl
000109.html,Leitsatz1). Diesem Anspruch werden die Regelleistungen nach
dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) nicht gerecht und sind daher ver-
fassungswidrig. Im Einzelnen beanstandet das Bundesverfassungsgericht fol-
gende Aspekte als verfassungswidrig:

1. Die Ermittlung der Regelleistung für Erwachsene sei nicht ausreichend
transparent und nachvollziehbar – insbesondere werden willkürliche Ab-
schläge kritisiert.

2. Bei der Ermittlung der Leistungen für Kinder und Jugendliche wird ein
kompletter Ermittlungsausfall konstatiert. Die Leistungen für Kinder und
Jugendliche sind nicht über prozentuale Ableitungen von Erwachsenen er-
mittelbar. Die vorgenommenen Abschläge beruhten auf freihändigen Set-
zungen.

3. Es fehle eine Bedarfsdeckung für unabweisbare, laufende besondere Be-
darfe.

4. Die Fortschreibung der Regelleistungen in Anlehnung an den aktuellen Ren-
tenwert sei „ein sachwidriger Maßstabswechsel“, weil die Fortschreibung
des aktuellen Rentenwerts keinen Bezug zum Existenzminimum habe.

Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber eine Frist bis zum
31. Dezember 2010 gesetzt, um auf der Grundlage eines Gesetzes eine verfas-
sungskonforme Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums zu ermög-
lichen. Obwohl das Verfassungsgericht die Höhe der Leistungen nicht als „evi-
dent“ unzureichend erklärt hat, ergibt sich logisch durch die Kritik und die
Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts die Notwendigkeit einer deutlichen
Anhebung. So verpflichtet das Gericht den Gesetzgeber, insbesondere Zirkel-
schlüsse bei der Ermittlung der Regelleistungen zu vermeiden, indem zukünftig
sog. verdeckt Arme aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden (vgl.
BVerfG, a. a. O., Rn. 169). Diese Verpflichtung lässt in Kombination mit weite-
ren Korrekturen wie z. B. dem Verzicht auf nicht sachgerechte Abschläge eine
Regelleistung für Erwachsene in der Größenordnung von 500 Euro erwarten.
Die Regelleistung für Kinder und Jugendliche wird zukünftig von deren tat-
sächlichen und nach Altersstufen spezifizierten Bedarfen ausgehen müssen.
Die notwendige Neubestimmung des Existenz- und Teilhabeminimums bietet
damit einen guten Anlass für einen längst überfälligen Politikwechsel von der
Reichtumsförderung zu einer Politik des sozialen Ausgleichs und der gesell-
schaftlichen Umverteilung.

Der Deutsche Bundestag erkennt an, dass kurzfristig zur Ermittlung des Exis-
tenz- und Teilhabeminimums eine sachgerechte Auswertung der Einkommens-
und Verbrauchsstichprobe 2008 (EVS 2008) nach dem Statistikmodell not-
wendig ist, da laut Bundesverfassungsgericht bis zum 31. Dezember 2010 eine
Neubestimmung durch den Gesetzgeber zu erfolgen hat und in dieser kurzen
Frist kaum eine breite gesellschaftliche Debatte über den sog. Warenkorb ab-
geschlossen werden kann. Mit dem Statistikmodell sind aber grundlegende
Probleme verknüpft. Das Statistikmodell leitet in kurzschlüssiger Weise von den
Ausgaben einer willkürlich definierten Referenzgruppe auf das zu deckende
Existenz- und Teilhabeminimum. Sowohl die Bedeutung des soziokulturellen
Existenzminimums für das soziale Sicherungssystem der Bundesrepublik
Deutschland als auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts gebietet eine
weitergehende Evaluierung und konzeptionelle Weiterentwicklung der Regel-
satzbemessung. Zu diesem Zweck wird unmittelbar eine Kommission des Deut-
schen Bundestages gegründet, die durch Sachverständige und Vertreterinnen
und Vertreter von Betroffenen ergänzt wird. Zu den Aufgaben der Kommission

gehören die Analyse und Bewertung des Statistikmodells sowie alternativer Ver-

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fahren der Bedarfsermittlung ebenso wie die Förderung einer gesellschaftlichen
Debatte unter der Überschrift: „Was braucht ein Mensch für ein Leben in
Würde?“. Die Kommission wird beauftragt, auf der Grundlage der fachlichen
Bestandsaufnahme und gesellschaftlichen Verständigung Vorschläge zur zu-
künftigen Ermittlung des Existenz- und Teilhabeminimums zu unterbreiten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Gesetzentwurf zur Neubestimmung der Leistungen nach dem Zweiten
Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vorzulegen, der folgende Vorgaben zwingend
berücksichtigt:

1. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar, dass das Grundrecht auf ein men-
schenwürdiges Existenzminimum durch einen gesetzlichen Anspruch ver-
wirklicht werden muss. Es ist die Pflicht des Gesetzgebers, die maß-
geblichen Regelungen selbst zu treffen (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 136). Eine
Regelsatzverordnung des fachlich zuständigen Bundesministeriums genügt
diesen Ansprüchen nicht.

2. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums gilt zwin-
gend nicht nur für die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ nach dem
SGB II, sondern für alle Grundsicherungsleistungen. Leistungen nach dem
Asylbewerberleistungsgesetz sind bis zu dessen Abschaffung ebenfalls an
diesem Leistungsniveau auszurichten.

3. Es ist die Vorgabe des BVerfG zu berücksichtigen, dass das Grundrecht auf ein
menschenwürdiges Existenzminimum dem Grunde nach unverfügbar ist und
eingelöst werden muss sowie der Leistungsanspruch so ausgestaltet werden
muss, dass er stets den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes indivi-
duellen Grundrechtsträgers deckt (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 133 und 137).

4. Es ist die Vorgabe des BVerfG zu berücksichtigen, dass Hilfebedürftige
nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden
können, deren Erbringung nicht durch ein subjektives Recht des Hilfebe-
dürftigen gewährleistet ist (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 136).

5. Bei einer Ermittlung der Regelleistungen durch das Statistikmodell ist nach-
zuweisen, dass die gewählte Referenzgruppe tatsächlich in ihrem Ausgabe-
verhalten zu erkennen gibt, welche Aufwendungen für das menschenwür-
dige Existenzminimum erforderlich sind (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 166).

6. Bei der Bestimmung der Regelleistung nach dem Statistikmodell sind zwin-
gend Zirkelschlüsse auszuschließen. Das Verfassungsgericht formuliert die
Verpflichtung „bei der Auswertung künftiger Einkommens- und Verbrauchs-
stichproben darauf zu achten, dass Haushalte, deren Nettoeinkommen unter
dem Niveau der Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch und
dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch inklusive der Leistungen für Unter-
kunft und Heizung liegt, aus der Referenzgruppe ausgeschieden werden“
(BVerfG, a. a. O., Rn. 169). Damit sind in Zukunft verpflichtend sowohl
Leistungsberechtigte nach diesen Gesetzen als auch sog. verdeckt Arme aus
der Referenzgruppe auszuschließen.

7. Bei der Auswertung der EVS 2008 und der Nutzung des Statistikmodells ist
auf Abschläge weitgehend zu verzichten. Eine sachliche Rechtfertigung für
einen Abschlag gibt es in den Abteilungen der EVS, in denen die Bedarfe
durch andere soziale Leistungen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, befrie-
digt werden.

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8. Schließlich ist eine Überprüfung der realisierten Bedarfsdeckung durch die
festgestellten Regelsatzpositionen notwendig. Hier ist insbesondere anhand
von ernährungsphysiologischen Studien zu überprüfen, inwieweit der er-
mittelte Anteil für Lebensmittel eine gesunde und ausgewogene Ernährung
ermöglicht. Zudem lässt sich durch einen Vergleich der Ausgaben unter-
schiedlicher Quintile auch eine mögliche Bedarfsunterdeckung in anderen
Güterabteilungen erkennen und durch Auffüllbeträge korrigieren.

9. Die Bedarfe von Kindern und Jugendlichen sind altersspezifisch und
konkret zu ermitteln. Dabei ist der zu deckende Bedarf „an kindlichen
Entwicklungsphasen auszurichten und an dem, was für die Persönlich-
keitsentfaltung eines Kindes erforderlich ist“ (BVerfG, a. a. O., Rn. 191).
Analog zum Vorgehen bei der Regelleistung für Erwachsene ist eine Über-
prüfung der Bedarfsdeckung notwendig.

10. Die Anpassung der Regelleistungen anhand der Entwicklung des aktuellen
Rentenwerts ist nicht mehr zulässig (vgl. BVerfG, a. a. O., Rn. 184). Zu-
künftig ist die Fortschreibung der Regelleistungen an die Preisentwicklung
der regelsatzrelevanten Güter anzupassen.

11. Die gesetzliche Regelung zur Deckung von unabweisbaren, laufenden,
nicht nur einmaligen besonderen Bedarfen in § 21 Absatz 6 SGB II ist un-
zulänglich. Im Rahmen des Gesetzes zur Neubemessung des Existenz- und
Teilhabeminimums ist diese Regelung durch eine allgemeine Öffnungs-
klausel bei höheren Bedarfen zu ersetzen. Die Neuregelung orientiert sich
an der analogen Regelung im SGB XII.

12. Das „Lohnabstandsgebot“ des SGB XII ist mit dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts vom 9. Februar 2010 hinfällig und aus dem Gesetz zu
streichen. Die Ermittlung des Existenz- und Teilhabeminimums ist strikt an
den ermittelten Bedarfen zu orientieren und darf nicht durch sachfremde
Erwägungen begrenzt werden. Dem Charakter eines aus der Menschen-
würde abgeleiteten Grundrechts entspricht, dass die Erfüllung dieser An-
sprüche eine prioritäre Aufgabe des Staates ist.

13. Zur Herstellung eines verfassungsgemäßen Verfahrens sind sowohl die zu-
grunde gelegten EVS-Daten als auch die konkreten Berechnungsschritte
zur Ermittlung eines menschenwürdigen Existenz- und Teilhabeminimums
nachvollziehbar darzulegen und unmittelbar öffentlich zugänglich zu ma-
chen.

III. Der Deutsche Bundestag wird eine Kommission zur künftigen Ausgestal-
tung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenz-
minimums einsetzen. Die Kommission hat insbesondere folgenden Auftrag:

1. Die Kommission analysiert die Reichweite und Implikationen des verfas-
sungsrechtlich verankerten Grundrechts auf Gewährleistung eines men-
schenwürdigen Existenzminimums. Sie prüft, inwieweit das SGB II und an-
grenzende Rechtsgebiete mit ihren Regelungen diesem Grundrecht gerecht
werden (u. a. Bedarfsgemeinschaftskonstruktion, Sanktionsregeln). Die
Kommission formuliert ggf. Vorschläge zur Reform verfassungsrechtlich
kritikwürdiger Normen.

2. Die Kommission legt eine zusammenfassende Evaluierung bisheriger Ver-
fahren zur Ermittlung des soziokulturellen Existenzminimums vor. Unter
Berücksichtigung dieser Erfahrungen unterbreitet die Kommission eine um-
fassende Analyse und Bewertung alternativer und/oder komplementärer
Ermittlungsverfahren zur Bestimmung und Kontrolle des Existenz- und
Teilhabeminimums. Insbesondere sind dabei das Statistikmodell, die Waren-

korbmethode sowie die Armutsrisikogrenze als mögliche Verfahren in die

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/2934

Analyse einzubeziehen. Die Verfahren zur Bedarfsermittlung sind für Er-
wachsene sowie Kinder und Jugendliche separat zu erörtern und zu bewer-
ten. In diesem Zusammenhang sind auch die Vorgehensweisen und Erfah-
rungen anderer Länder zu erörtern.

3. Die Kommission stellt einen konkreten Warenkorb zusammen. Dieser Wa-
renkorb dient je nach abschließender politischer Entscheidung entweder als
Verfahren zur Ermittlung des Existenz- und Teilhabeminimums oder aber als
Kontrollinstrument zur Überprüfung der Angemessenheit des anderweitig
ermittelten Existenzminimums.

4. Die Kommission erörtert Konzepte zur Sicherstellung eines umfassenden
Infrastrukturangebots in der Bildungs- und Teilhabedimension des soziokul-
turellen Existenzminimums. Die Kommission legt in einem Abschlussbe-
richt eigene Vorschläge vor.

5. Die Kommission setzt sich zusammen aus Abgeordneten, Sachverständigen,
Personen des allgemeinen öffentlichen Interesses sowie Vertreterinnen und
Vertretern von Betroffenen. Die Kommission tagt öffentlich und fördert eine
gesellschaftliche Debatte und Verständigung über die Frage: „Was braucht
ein Mensch für ein Leben in Würde?“. Die Kommission legt einen zusam-
menfassenden Bericht bis zum 31. Dezember 2012 vor.

Berlin, den 14. September 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

1. Das Bundesverfassungsgericht hat am 9. Februar 2010 ein grundlegendes
Urteil gesprochen und das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschen-
würdigen Existenzminimums für alle Hilfebedürftigen anerkannt. Diesem
Grundrecht wird die Ermittlung der aktuellen Regelleistungen nach dem Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts nicht gerecht. Bis zum 31. Dezember
2010 muss daher mit einem Gesetz die Ermittlung des menschenwürdigen
Existenzminimums neu geregelt werden. Kurzfristig ist hierfür eine Aus-
wertung nach der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2008 nach dem
Statistikmodell alternativlos. Dafür sind aber konkrete Vorgaben bei der
Ermittlung zu beachten. Gleichzeitig gebieten aber die Bedeutung des pro-
klamierten Grundrechts und die Defizite des Statistikmodells eine grund-
legende Auswertung des Urteils und seiner Implikationen ebenso wie eine
grundlegende Überprüfung bisheriger und alternativ denkbarer Methoden
der Ermittlung eines menschenwürdigen Existenzminimums.

2. Die Forderungen zur Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstich-
probe 2008 orientieren sich an den Ausführungen und Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts. Die Begründung der jeweiligen Forderungen ist inso-
fern dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts selbst zu entnehmen. Aus den
Forderungen folgt auch die Erwartung einer spürbaren Anhebung der Regel-
leistung.

a) So führt die zukünftig verpflichtende Vermeidung von Zirkelschlüssen zu
einer anderen Referenzgruppe. Nach Expertisen ist von einer Zahl von
vier bis fünf Millionen Menschen auszugehen, die trotz Berechtigung
keine Grundsicherungsleistungen in Anspruch nehmen. Durch einen kon-

sequenten Ausschluss dieser Gruppe aus der Betrachtung verändert sich

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die Zusammensetzung der untersten 20 Prozent der Hauhalte spürbar und
führt demzufolge zu deutlich höheren Regelleistungen. Analysen mit den
Daten der EVS 2003 bestätigen dies nachdrücklich (u. a. Karl-Heinz
Selm: Höhere Regelleistungen durch konsequente Vermeidung von Zir-
kelschlüssen, in: info also 2010 Heft 2; Der Paritätische Wohlfahrtsver-
band: Was Kinder brauchen, Berlin 2008).

b) Der weitgehende Verzicht auf Abschläge erhöht ebenfalls die Regelleis-
tung. Das Bundesverfassungsgericht benennt in dem Urteil verschiedene
konkrete Abschläge, die nicht sachlich begründet sind (vgl. BVerfG,
a. a. O., Rn. 175 ff. und 200). Darüber hinausgehend ist aber auch nicht
nachvollziehbar, warum z. B. der Verbrauch von Benzin und die Reparatur
eines Pkw nicht regelsatzrelevant sein sollen, wenn doch gleichzeitig der
Besitz eines Pkw zulässig ist. Zahlreiche weitere Einstufungen von Aus-
gaben der Referenzgruppe als nicht regelsatzrelevant vermögen nicht zu
überzeugen. Insofern ist auf Abschläge weitgehend zu verzichten. Die
Ausgaben der untersten 20 Prozent der Einpersonenhaushalte – abzüglich
der Kosten für Unterkunft und Heizung – beliefen sich bereits 2003 auf
etwa 480 Euro (vgl. etwa Drucksache des Ausschusses Arbeit und Sozia-
les des Deutschen Bundestages 16(11)1022, S. 49).

c) Auch die zukünftig ermittelten Leistungen müssen bedarfsdeckend sein.
Eine Ex-post-Kontrolle ist durch qualitative Studien möglich und notwen-
dig. So weist bespielweise Rainer Roth auf eine erhebliche Unterdeckung
für die Ernährungsausgaben hin (Rainer Roth: Hartz IV: „Fördern“ durch
Mangelernährung. 2009). Gleichzeitig hat der Paritätische Gesamtver-
band in seiner Expertise zur Ermittlung eines angemessenen Kinderregel-
satzes einen plausiblen Vorschlag zur Identifizierung einer Bedarfsunter-
deckung vorgelegt. Diese Kontrollverfahren müssen benutzt werden, um
den erreichten Stand der über das Statistikmodell ermittelten Bedarfs-
deckung zu überprüfen.

3. Die gesellschaftliche und politische Verständigung über ein menschenwür-
diges Existenz- und Teilhabeminimum darf sich nicht in einer technischen
Ableitung des Regelsatzes nach dem Statistikmodell erschöpfen. Ein solches
Vorgehen würde dem Urteil nicht gerecht und insbesondere die Defizite des
Statistikmodells ignorieren.

a) Das Statistikmodell schließt von den Ausgaben einer Referenzgruppe auf
das menschenwürdige Existenzminimum. Wie sich dieser Kurzschluss
sachlich rechtfertigen lässt bleibt unklar. Aus der Einsicht in diesen Sach-
verhalt erklärt sich, dass die fachlich zuständigen obersten Landessozial-
behörden 1987 die Einführung des neuen Systems der Kontrolle durch
einen erneuerten Warenkorb unterziehen wollten (Beschluss der Konferenz
der obersten Landessozialbehörden: Neues Bedarfsbemessungssystem für
die Regelsätze in der Sozialhilfe 1987, bestätigt von der Arbeits- und
Sozialministerkonferenz im September 1987). Ein solcher Warenkorb ist
allerdings von den politisch zuständigen Instanzen nie aufgestellt worden.

b) Das Statistikmodell nimmt die soziale Lage der Referenzgruppe als gege-
ben hin und ist blind gegenüber der Gefahr einer Verarmung und/oder
sozialen Abkopplung der Referenzgruppe. Bei einem Prozess der Verar-
mung der Referenzgruppe wird eine Spirale nach unten eröffnet, die
keinen Schutz gegen eine Senkung der Regelsätze mehr bietet. Ein der-
artiger Verarmungsprozess der Referenzgruppe lässt sich infolge der
Ausweitung des Niedriglohnsektors aber erkennen. So sind die Einkom-
men der Personen im untersten Dezil durchschnittlich um knapp neun
Prozent gesunken und der Einkommensanteil der ärmsten 20 Prozent der

Haushalte hat sich von 10,1 Prozent (1997) bis 2006 auf 9,3 Prozent ver-
ringert (DIW Wochenbericht 7/2010, Fußnote 8 sowie Datenreport 2008,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/2934

S. 164). Diese dramatischen Veränderungen in der Einkommenssituation
wirken sich absehbar auch bei den Ausgaben der statistischen Referenz-
gruppe aus.

Daher ist eine kritische Bestandsaufnahme der möglichen und bisher prakti-
zierten Verfahren zur Ermittlung des menschenwürdigen Existenzminimums
zu fordern (v. a. Warenkorb, Statistikmodel und Armutsrisikogrenze). In die-
sem Zusammenhang sind die Vorzüge und Defizite der jeweiligen Verfahren
zu erörtern und vergleichend zu bewerten. Auf dieser Grundlage wird ein
Vorschlag für die zukünftige Ermittlung des Existenzminimums vorgelegt.
Zu diesem Zweck ist eine Kommission beim Deutschen Bundestag einzu-
richten, die sich aus Abgeordneten, Sachverständigen sowie Vertreterinnen
und Vertretern der betroffenen Bürger zusammensetzt. Die Aufgabe der Kom-
mission ist neben der fachlichen Arbeit an einem neuen Bedarfsbemessungs-
verfahren die Förderung einer gesellschaftlichen Debatte über die Frage:
„Was braucht ein Mensch für ein Leben in Würde?“.

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