BT-Drucksache 17/2768

Mindestlohn in der Pflegebranche

Vom 18. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2768
17. Wahlperiode 18. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Jutta Krellmann, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze,
Dr. Martina Bunge, Matthias W. Birkwald, Werner Dreibus, Klaus Ernst, Inge Höger,
Cornelia Möhring, Kornelia Möller, Dr. Ilja Seifert, Kathrin Vogler, Harald Weinberg,
Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Mindestlohn in der Pflegebranche

Am 14. Juli 2010 hat das Bundeskabinett einen Branchenmindestlohn für einen
Teil der Beschäftigten von Einrichtungen beschlossen, in denen Pflegedienst-
leistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) geleistet werden.
Nach mehr als zwei Jahren seit der Antragstellung auf Aufnahme der Pflege-
branche in das Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) und einer halbjährigen
Beratungszeit der Pflegekommission, lag der Vorschlag für die Verordnung der
Allgemeingültigkeit eines Pflegemindestlohns seit dem 25. März 2010 vor. Un-
einigkeit über die Notwendigkeit und Befristung dieses Branchenmindestlohns
innerhalb der Regierung verzögerten die Beschlussfassung des Bundeskabinetts
dann abermals um mehr als drei Monate.

Die Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche sind mit außerordentlich hohen
körperlichen und psychischen Belastungen sowie einer besonderen Verantwor-
tung gegenüber den Pflegebedürftigen verbunden. Demgegenüber steht eine Be-
schäftigungssituation in der Pflegebranche, die bereits seit mehreren Jahren
durch prekäre Arbeitsbedingungen und den allgemeinen Abfall des Lohn-
niveaus gekennzeichnet ist. Nach Untersuchungen des Deutschen Berufsverban-
des für Pflegeberufe (DBfK 2009) muss inzwischen jede dritte ambulante
Pflegekraft mit einem sittenwidrigen Lohn auskommen. Einer Studie der Ge-
werkschaft ver.di zufolge verdienen in der Pflege derzeit 72 Prozent der Be-
schäftigten weniger als 2 000 Euro brutto im Monat.

Ursächlich für diese prekäre Entlohnung ist der extreme Wettbewerbsdruck, der
überwiegend kommerziellen privaten Anbieter von ambulanten, teilstationären
und stationären Pflegedienstleistungen. Diesem können sich auch die freige-
meinnützigen Träger und die verschwindend geringe Zahl der öffentlichen Pfle-
geeinrichtungen nicht verschließen. Verstärkt wird der Wettbewerbsdruck durch
die Konstruktion der Pflegeversicherung als sogenannte Teilkaskoversicherung.
Von vornherein deckt die Pflegeversicherung nicht den vollständigen indivi-
duellen Bedarf eines Menschen an Pflege finanziell ab. Vielmehr dienen die
Leistungen der Pflegeversicherung dazu, die familiäre, nachbarschaftliche oder

ehrenamtliche Pflege zu ergänzen und zu unterstützen. Betroffene und ihre An-
gehörigen müssen daher auf ihr Einkommen und Vermögen zurückgreifen.

Die massive Ausweitung von Teilzeit- und geringfügiger Beschäftigung, von
befristeten Arbeitsverträgen sowie Leiharbeit haben zudem den Trend eingelei-
tet, relevante Bereiche der Pflege wieder aus der Normalarbeit in den Zuver-
dienst-Erwerb zu verdrängen. Pflegekräfte und hier insbesondere Pflegehilfs-

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kräfte und nicht zuletzt Hauswirtschaftskräfte, welche in Pflegeeinrichtungen
beschäftigt werden, sind daher zunehmend auf Transferleistungen angewiesen.
Da die Pflegetätigkeiten zu 90 Prozent von Frauen verrichtet werden, ist die Tal-
fahrt der Löhne in dieser Branche deshalb auch aus gesellschafts- und gleichstel-
lungspolitischer Sicht ein verheerender Rückschritt.

Der eingeschränkte Geltungsbereich und die Höhe des von der Bundesregierung
beschlossenen Mindestlohns erweisen sich vor diesem Hintergrund als unzu-
länglich. So führt die Begrenzung des Geltungsbereichs der Mindestlohnverord-
nung auf den Leistungsbereich der Grundpflege nach SGB XI zu erheblichen
Schutzlücken. Ausgeschlossen vom Mindestlohn sind unter anderem die haus-
haltsnahen Pflegeleistungen, Pflegetätigkeiten in Krankenhäusern, die ambu-
lante Krankenpflege oder die Demenzbetreuung. Von den offiziell 810 000 Be-
schäftigten der Pflegebranche sind daher lediglich 560 000 Beschäftigte von der
Verordnung betroffen (vgl. Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit
und Soziales, 25. März 2010). Weiterhin ist ein Unterlaufen des Branchen-
mindestlohns durch eine Umdefinition des Pflegetätigkeitsprofils hin zu einer
schwerpunktmäßig hauswirtschaftlichen Betreuungsarbeit möglich. Der Druck
auf die Beschäftigten und das prekäre Lohngefüge drohen damit gerade im Kon-
text der vollständigen europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit ab Mai 2011
fortzubestehen.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Kriterien bei der Prüfung der Empfehlungen der Pflegekommission
durch die Bundesregierung waren im Rahmen des Einschätzungs- und Prog-
nosespielraums des Verordnungsgebers (Bundesratsdrucksache 52/09) ent-
scheidend, um dem Kommissionsvorschlag bezüglich der Mindestlohnver-
ordnung zu folgen?

2. a) Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über das durchschnittliche
Einkommen von Pflegefachkräften sowie Pflegehelferinnen und Pflege-
helfern vor (bitte differenzieren zwischen öffentlichen, privaten und frei-
gemeinnützigen Pflegeeinrichtungen und zwischen ambulanten, teilsta-
tionären und stationären Einrichtungen)?

b) Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über das durchschnittliche
Einkommen von hauswirtschaftlichen Betreuungshilfen in der ambulan-
ten Pflege vor?

3. Inwiefern begründet die Lohnsituation der Beschäftigten von Einrichtungen
der ambulanten Krankenpflege (Fünftes Buch Sozialgesetzbuch – SGB V) im
Zusammenhang mit der Mindestlohnregelung in der Pflege nach Ansicht der
Bundesregierung keinen Handlungsbedarf?

4. Wie stellt sich die Personalstruktur spezialisierter Pflegeeinrichtungen dar,
welche überwiegend ambulante Krankenpflege (SGB V) leisten (bitte ein-
zeln nach Berufsgruppen auflisten)?

5. Gelten die Mindestlohnregelungen auch in Einrichtungen der Eingliede-
rungshilfe für Menschen mit Behinderungen nach dem Zwölften Buch So-
zialgesetzbuch (SGB XII) und für die dort Beschäftigten, welche häufig Pfle-
geleistungen des SGB XI erbringen (bitte begründen)?

6. Ist mit einer Mindestlohnregelung für die nach § 10 des Arbeitnehmer-Ent-
sendegesetzes ausgeschlossenen Betriebe zu rechnen bzw. wie rechtfertigt
die Bundesregierung diesen Ausschluss?

7. Wie verbindlich gilt die Pflege-Mindestlohnregelung auch für Assistentinnen
und Assistenten im sogenannten Arbeitgebermodell, zu deren Pflichtaufga-

ben auch pflegerische Tätigkeiten gehören?

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8. Wie viele Beschäftigte in der Pflegebranche erhalten neben ihren Löhnen
aufstockende Transferleistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetz-
buch – SGB II (bitte differenzieren nach den einzelnen Branchensegmen-
ten der Kinder-, Kranken-, Alten- und Behindertenpflege, der Demenz-
betreuung sowie nach den Beschäftigten in den Leistungsbereichen
Grundpflege und hauswirtschaftliche Betreuungshilfen)?

9. Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um eine Umge-
hung des Mindestlohns in der Pflegebranche zu verhindern?

10. a) Wie bewertet die Bundesregierung die vom Unternehmerverband
Soziale Dienste und Bildung geäußerte Kritik, dass durch den engen
Zuschnitt des Geltungsbereichs die Möglichkeit für die Arbeitgeber be-
steht, die offiziellen Pflegetätigkeitsprofile schwerpunktmäßig aus dem
mindestlohnpflichtigen Leistungsbereich der Grundpflege in den der
hauswirtschaftlichen Betreuung zu verlagern und somit den Mindestlohn
zu unterlaufen (vgl. Presseerklärung Unternehmerverband Soziale
Dienste und Bildung 15. Juli 2010)?

b) Welche Maßnahmen sieht die Bundesregierung gegen die in Frage 10a
beschriebene Flucht aus dem Geltungsbereich der Mindestlohnverord-
nung vor?

11. a) Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über die Anzahl der am-
bulanten Pflegedienste vor, welche sowohl Dienstleistungen im Leis-
tungsbereich der Grundpflege als auch Dienstleistungen im Bereich der
hauswirtschaftlichen Betreuung nach SGB XI anbieten?

b) Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über die Anzahl der am-
bulanten Pflegedienstleistungen vor, die ausschließlich Dienstleistungen
in jeweils einem der unter Frage 6 genannten Leistungsbereichen nach
SGB XI anbieten?

12. Inwiefern ist es aus Sicht der Bundesregierung sachgerecht, dass die Min-
destlohnverordnung in ihrem Anwendungsbereich die nach § 14 Absatz 4
SGB XI zu den Pflegeleistungen gehörenden hauswirtschaftlichen Dienst-
leistungen auslässt?

13. a) Welche Kenntnisse liegen der Bundesregierung über die soziale Situa-
tion und durchschnittliche Entlohnung von zusätzlichen Betreuungskräf-
ten in Pflegeheimen nach § 87b SGB XI vor?

b) Wie will die Bundesregierung gewährleisten, dass sich in stationären
Pflegeeinrichtungen keine Vermischung der Tätigkeitsprofile der De-
menzbetreuung und der Pflegetätigkeiten im Leistungsbereich der
Grundpflege nach § 14 SGB XI vollzieht?

c) Welche Kenntnisse hat die Bundesregierung über die Anzahl der statio-
nären Pflegeeinrichtungen, bei denen die Pflege demenzkranker Perso-
nen im Vordergrund des Zweckes der Einrichtung stehen?

14. Inwiefern ist es aus Sicht der Bundesregierung sachgerecht, dass die Min-
destlohnverordnung in ihrem Anwendungsbereich den Bereich der De-
menzbetreuung auslässt?

15. Wie wird sichergestellt, dass mit der Umsetzung des Pflegemindestlohns,
der insbesondere auf Pflegehilfskräfte abzielt, keine Absenkung des allge-
meinen Lohnniveaus für Pflegefachkräfte einhergeht?

16. Welche Definition von Praktikantentätigkeit wird für die Pflegearbeitsbe-
dingungenverordnung zu Grunde gelegt und schließt dies Praktikantinnen
und Praktikanten mit ein, welche auf eigener Initiative, und damit nicht im

Rahmen von berufsvorbereitenden, beruflichen oder schulischen Lehrgän-

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gen bzw. Maßnahmen, ein Praktikum in einer Pflegeeinrichtung absolvie-
ren?

17. Wie rechtfertigt die Bundesregierung die abweichende Tarifierung des
Branchenmindestlohns nach Ost und West?

18. Wie wird aus Sicht der Bundesregierung eine Angleichung der regional
unterschiedlichen Pflege-Mindestlöhne zu erreichen sein?

19. Nach welchen Kriterien erfolgt die von der Bundesregierung geplante Eva-
luation der Wirkungen der Branchenmindestlöhne nach einem Jahr (bitte
Kriterien auflisten)?

Inwiefern gibt es eine Differenzierung der Kriterien nach Branche?

20. Was veranlasst die Bundesregierung davon auszugehen, dass die Finanz-
kontrolle Schwarzarbeit (FKS), als die für Verstöße gegen Mindestlohnvor-
schriften zuständige Behörde, über die hinreichenden personellen und sach-
lichen Ressourcen wie auch operativen Kompetenzen verfügt, um die ihr
zugewiesene Kontrollfunktion effektiv ausüben zu können?

21. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Mindestlöhne in der Pflege
nur eine unterste Grenze zur Verhinderung von Dumpinglöhnen sind und es
einer generellen Strategie bedarf, um die Attraktivität der Pflegeberufe
bspw. durch eine gute Bezahlung zu steigern?

Falls ja, welche Maßnahmen plant die Bundesregierung?

Berlin, den 12. August 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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