BT-Drucksache 17/2757

Informationspolitik zum Afghanistan-Einsatz

Vom 16. August 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2757
17. Wahlperiode 16. 08. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Frithjof Schmidt, Omid Nouripour, Katja Keul, Tom Koenigs,
Agnes Malczak, Marieluise Beck (Bremen), Hans-Christian Ströbele, Kerstin Müller
(Köln), Ute Koczy, Volker Beck (Köln), Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken,
Ingrid Hönlinger, Thilo Hoppe, Uwe Kekeritz, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth
(Augsburg), Manuel Sarrazin, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Informationspolitik zum Afghanistan-Einsatz

Nach mittlerweile neunjährigem Einsatz bleibt die Lage in Afghanistan unüber-
sichtlich und besorgniserregend. Aufbauerfolgen in zivilen Bereichen einerseits
stehen andererseits Berichte über zunehmende gewaltsame Auseinandersetzun-
gen mit Aufständischen, zahlreiche getötete Zivilisten und Soldatinnen und
Soldaten sowie eine Zurückeroberung einzelner Distrikte und Provinzen durch
bewaffnete Aufständische gegenüber. Der Deutsche Bundestag und die Öffent-
lichkeit erwarten von der Bundesregierung transparente und verlässliche Infor-
mationen über die Situation in Afghanistan. Zumal das Bundesverfassungs-
gericht in zwei Entscheidungen vom 17. Juni 2009 (2 BvE 3/07) und 1. Juli
2009 (2 BvE 5/06) den Auskunftsanspruch der einzelnen Abgeordneten auch
bezüglich sensibler Informationen gestärkt hat. Danach wird auch dem Infor-
mationsrecht des Parlaments insgesamt nicht mehr dadurch genügt, dass die
Bundesregierung wie in der Vergangenheit stellvertretend parlamentarische
Geheimgremien, Fraktionsvorsitzende, Obleute oder sonstige einzelne Abge-
ordnete ihrer Wahl vertraulich unterrichtet.

Die nun auf der Internetplattform WikiLeaks veröffentlichten militärischen Ge-
heimdokumente über den Einsatz in Afghanistan werfen Fragen nach dem
Kenntnisstand der Bundesregierung und deren Informationsbereitschaft auf.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche der auf WikiLeaks veröffentlichten Informationen zum Einsatz US-
amerikanischer Spezialkräfte im Regionalbereich Nord waren der Bundes-
regierung bisher nicht bekannt und warum nicht?

2. Inwiefern muss die Bundesregierung bisher gemachte Aussagen im Deut-
schen Bundestag und den Ausschüssen daraufhin korrigieren?

3. Welche Konsequenzen zur Verbesserung der Unterrichtung des Parlamentes

über die Auslandseinsätze und Sicherheitslage in Afghanistan zieht die Bun-
desregierung aus der durch die WikiLeaks-Veröffentlichung zu Tage getrete-
nen Informationsdiskrepanz, insbesondere in Hinblick auf Auskünfte über

a) die Anzahl ziviler Opfer von Sicherheitsvorfällen,

b) Angriffe auf die ANP (Afghan National Police) und ANA (Afghan Na-
tional Army),

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c) die Anzahl getöteter und verletzter afghanische Sicherheitskräfte,

d) die Anzahl getöteter und verletzter Aufständischer (OMF – Opposing
Militant Forces),

e) den Einsatz amerikanischer Spezialtruppen im deutschen Einsatzgebiet.

4. Welche Maßnahmen unternimmt die Bundesregierung, die Informationen
der WikiLeaks-Dokumente einzuordnen, um der Bevölkerung und dem Par-
lament ein differenziertes Bild der Lage in Afghanistan zu geben, das Auf-
schluss über die Situation in einzelnen Regionen zulässt?

5. Inwiefern plant die Bundesregierung die Informationspolitik von Einsätzen
auf NATO-Ebene mit den anderen Bündnispartnern zu thematisieren, und
welche Position vertritt sie dabei?

6. Welche Informationen wurden der Bundesregierung in der Vergangenheit
über konkrete Operationen von US-Spezialkräften (speziell Task Force
(TF) 373) im Regionalbereich Nord in Afghanistan durch US-amerikani-
sche Stellen zur Verfügung gestellt?

7. Welche Versuche hat die Bundesregierung im Einzelnen unternommen, um
Erkenntnisse über Anzahl und Inhalt der Einsätze von US-Spezialkräften
im Regionalbereich Nord in Afghanistan zu bekommen, und wie wurde sie
dabei durch US-amerikanische Behörden unterstützt?

8. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung beispielsweise inzwischen
über die Operation „Wadie-Kauka“ von US-Spezialkräften von Anfang No-
vember 2009 im Regionalbereich Nord in Afghanistan in Sicht- und Hör-
weite des Bundeswehrstützpunktes Kunduz, bei der mehrere Tage lang Dör-
fer bombardiert wurden?

a) Wie viele Personen wurden getötet, verletzt oder gefangen genommen?

b) Wie viele Zivilistinnen und Zivilisten wurden getötet oder verletzt?

c) Inwiefern war an der Operation auch die in Masar-e-Sharif stationierte
US-Einheit TF 373 beteiligt?

d) Inwiefern galt die Operation auch Zielpersonen, die auf einer der vom
Sprecher der Bundesregierung am 28. Juli 2010 genannten Listen ent-
halten waren?

e) Wann wurde die Bundesregierung über die Operation, und wann über
deren Ziele und Erfolg unterrichtet?

9. Welche Unterstützungsleistungen erbringt die Bundeswehr in Afghanistan
für Spezialkräfte wie die TF 373?

Wie genau gestaltet sich die Zusammenarbeit zwischen TF 373 und der
Bundeswehr?

Inwiefern führen TF 373 und TF 47 gemeinsame Operationen durch oder
solche, die sich in einer zeitlichen und räumlichen Nähe zueinander befin-
den?

10. Inwiefern waren deutsche Soldaten jemals an „Capture or Kill“-Operatio-
nen der US-Spezialkräfte wie der TF 373 beteiligt, und wenn ja, in welchem
Maße?

11. Wie viele Tote und Verletzte sind als Resultat von Operationen der TF 373
und anderer TF, die außerhalb des ISAF-Mandates (ISAF – Internationale
Sicherheitsunterstützungsgruppe in Afghanistan) operieren, zu beklagen
(bitte nach TF, Einsatz, Soldaten, Zivilisten aufschlüsseln)?
12. Welche Aufgaben hat die Bundeswehr-Spezialeinheit TF 47?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2757

13. Seit wann existiert diese Spezialeinheit und mit welchen Sonderbefugnis-
sen?

14. Welche Stärke hat derzeit die Spezialeinheit TF 47?

15. Führt diese Spezialeinheit Operationen gegen Personen aus den Zielperso-
nenlisten durch?

16. Wie viele Festnahmen oder Festsetzungen wurden durch Soldaten dieser
Sondereinheiten bisher vorgenommen?

Welchen Anteil hatten deutsche Soldaten an den Festnahmen, und was ist
der Bundesregierung über den weiteren Verbleib der Gefangenen bekannt,
falls diese sich nicht im eigenen Gewahrsam befinden?

17. Wurden Personen, die von der TF 47 gefangen genommen oder festgesetzt
wurden, anders behandelt, an einem anderen Ort festgehalten und an andere
Stellen übergeben, als sonstige von der Bundeswehr festgesetzte Personen?

18. Wie oft kam es im Rahmen von Operationen der TF 47 zum Einsatz von
Luft-Nahunterstützung?

19. In welchen Distrikten fanden die Einsätze der TF 47 jeweils statt?

20. In welchem Zahlenverhältnis steht die Zahl der Einsätze der TF 47 zur Er-
greifung von Personen auf der „Joint Prioritized Effects List“ (JPEL) zu den
Einsätzen anderer zu diesem Zweck operierenden Task Force?

21. Unterhält die Bundeswehr neben der Task Force 47 weitere Spezialeinhei-
ten oder ist an solchen beteiligt?

22. Welche derzeit nach Auffassung des Bundesministers der Verteidigung,
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (vgl. PHOENIX, 26. Juni 2010/
1. August 2010) noch fehlenden bzw. unzureichenden Rechtsgrundlagen
genau für deutsche Einsatzkräfte in Afghanistan oder außerhalb Deutsch-
lands müssen nun geschaffen werden?

23. Bewertet die Bundesregierung im Lichte der auf WikiLeaks veröffentlich-
ten Dokumente das Vorgehen der amerikanischen Truppen außerhalb von
ISAF in Afghanistan als völkerrechtskonform?

24. Welche Listen zur Bestimmung von Zielen und Nicht-Zielen („targets“ und
„non-targets“) in Afghanistan, wovon es laut Sprecher des Bundesminis-
teriums der Verteidigung am 29. Juli 2010 insgesamt sechs geben soll, sind
der Bundesregierung bekannt?

25. Seit wann gibt es nach Kenntnis der Bundesregierung solche Listen von
Zielpersonen für Einsätze der Alliierten in Afghanistan?

26. Welche Zwecke, Inhalte und Kriterien haben diese Listen jeweils?

27. In wessen militärischer und politischer Verantwortung werden diese Listen
jeweils geführt?

a) Wer darf Ziele bzw. Nicht-Ziele für die jeweiligen Listen benennen?

b) Wer ist an der anschließenden Abstimmung beteiligt, und wer entschei-
det letztlich über diese Benennungen bzw. deren Aufnahme in die Ziel-
personenlisten und eine Priorisierung?

Welche sind die dafür zugrunde liegenden Kriterien?

c) Welche Verbindlichkeit haben bei den jeweiligen Listen etwaige Auf-
lagen der vorschlagenden bzw. benennenden Stellen (z. B. „only capture
alive“/„no kill“) für die anderen an Erstellung oder Abarbeitung der Lis-
ten beteiligten Stellen bzw. Nationen?
Wie weit gehen die Befugnisse des sogenannten Red-Card-holders?

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d) Welche Zweckbindungsauflagen haben deutsche Stellen bei ihren Be-
nennungen auf den jeweiligen Listen bisher dahingehend gestellt, dass
von ihnen auf ISAF- oder NATO-Listen benannte Personen nicht auf
andere, z.B. nationale Listen mit abweichender (z. B. Tötungs-)Vorgabe
übernommen werden dürfen?

e) Falls deutsche Stellen derlei Auflagen bisher unterließen, aus welchem
Grund geschah dies?

28. Trifft es zu, dass innerhalb der Bundeswehr rechtliche Bedenken gegenüber
der deutschen Benennung von Zielpersonen auf entsprechende Listen be-
standen, und wenn ja, konnten diese inzwischen ausgeräumt werden?

Wenn ja, wie?

29. Wie viele Personen sind auf deutsche Veranlassung oder durch die Aufklä-
rungsarbeit deutscher Spezial- und Nachrichtendienstkräfte auf die Joint
Prioritized Effects List gesetzt wurden?

a) Wie viele sind davon als Capture, und wie viele als Capture or Kill, und
wie viele als Kill gekennzeichnet?

b) Wie viele dieser Personen sind später aus welchen Gründen auf deutsche
Veranlassung wieder von der Liste gestrichen worden?

c) Trifft es zu, dass – wie die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom
29. Juli 2010 auf Seite 2 berichtet – seit dem Sommer 2009 auf deutsche
Veranlassung acht Namen auf die „Joint Prioritized Effects List“ (JPEL)
gesetzt wurden?

30. Was ist der Bundesregierung über den Verbleib und das Schicksal der von
deutschen Stellen für die Aufnahme in eine Zielpersonenliste benannten
Personen bekannt?

31. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass Operationen der US-Streit-
kräfte mittels Drohnen gegen Personen aus einer der Listen von Ziel-
personen nicht zu deren Festnahme oder Festsetzung führen sollen, sondern
zur Tötung?

32. In wie vielen Fällen wurde nach Kenntnis der Bundesregierung mittels
Drohnen und Raketen gegen gelistete Zielpersonen vorgegangen, und mit
welchen Ergebnissen?

33. Unterstützt die Bundesregierung die Strategie und Taktik, gezielt Aufstän-
dische zu töten, und wie bewertet sie diese Strategie vor dem Hintergrund
einer möglichen Verhandlung mit Aufständischen über eine politische
Lösung des Konflikts?

a) Wenn nein, was unternimmt die Bundesregierung dagegen?

b) Wenn ja, auf welcher Rechtsgrundlage erfolgen diese gezielten Tötun-
gen?

34. Trifft es zu, dass – wie die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer Ausgabe vom
29. Juli 2010 auf Seite 2 berichtet – die USA keine Informationen über
gezielte Tötungen an Deutschland und die NATO liefern?

a) Wenn nein, wie gewährleistet die Bundesregierung, dass die Personen,
welche auf deutsche Veranlassung auf die JPEL gesetzt wurden, nicht
durch US-Spezialkräfte getötet werden, sondern lediglich verhaftet wer-
den?

b) Wenn ja, hält die Bundesregierung es für rechtlich zulässig, Personen auf
eine Liste wie die „Joint Prioritized Effects List“ setzen zu lassen, ob-

wohl ihr nicht bekannt ist, was mit diesen Personen tatsächlich ge-
schieht?

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35. Trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass Personen, die ver-
dächtigt wurden, an Anschlägen auf Bundeswehrfahrzeuge im April dieses
Jahres beteiligt gewesen zu sein, inzwischen von US-Spezialeinheiten ge-
zielt getötet wurden?

36. Waren diese Zielpersonen in eine der vorgenannten Listen aufgenommen
worden, und wenn ja, in welche, und auf wessen Vorschlag?

37. Wie bewertet die Bundesregierung die rechtlichen Rahmenbedingungen
des Einsatzes vor dem Hintergrund der veröffentlichten Informationen?

38. Welche Gefahren für Projekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
und der auf diesem Gebiet vor Ort arbeitenden Personen sieht die Bundes-
regierung in Folge der öffentlich gewordenen Informationen?

Berlin, den 16. August 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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