BT-Drucksache 17/2491

Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative

Vom 7. Juli 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/2491
17. Wahlperiode 07. 07. 2010

Antrag
der Abgeordneten Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, Katja Dörner,
Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, Jerzy Montag, Dr. Konstantin
von Notz, Tabea Rößner, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schützen durch bundesgesetzliche
Reformen und eine Bund-Länder-Initiative

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Zwangsverheiratungen verletzen die Würde der Betroffenen, ihre persön-
liche Freiheit und selbstbestimmte Lebensführung sowie den Grundsatz der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie verstoßen gegen deutsche
zivil- und strafrechtliche Vorschriften und stehen im Widerspruch zu zentra-
len Werten der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Euro-
päischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
sowie des deutschen Grundgesetzes.

2. Es ist klarer Konsens in unserer Gesellschaft, dass Zwangsverheiratungen
gesellschaftlich geächtet sind und nicht toleriert werden können und dürfen.
Deshalb müssen Zwangsverheiratungen konsequent rechtlich geahndet und
die Opfer geschützt werden.

3. Zwangsverheiratungen sind nicht an eine Religion (etwa den Islam) gebun-
den – wie dies in der Öffentlichkeit oft wahrgenommen und transportiert
wird. Zwangsverheiratungen sind vielmehr Phänomene traditionell patriar-
chalischer Gesellschaften oder Milieus.

4. Auch in Deutschland finden Zwangsverheiratungen statt. Über das Ausmaß
dieser Straftaten liegen bislang keine gesicherten Daten vor.

5. Von Zwangsverheiratungen sind zum ganz überwiegenden Teil Frauen be-
troffen. Täter bzw. Gehilfen von Zwangsehen sind zwar regelmäßig Männer,
mitunter werden hetero- oder homosexuelle Männer und Jugendliche aber
auch selber Opfer von Zwangsverheiratungen. In Deutschland besteht ein
eklatanter Mangel an Präventionsangeboten und Schutzeinrichtungen für
Jungen und Männer (bzw. für Paare) sowie an professionellen Anbietern
einer interkulturellen Täterarbeit.

6. Eigenständige Aufenthaltsrechte und wirksame Rückkehrrechte sind effek-
tive Maßnahmen, um Migrantinnen zu helfen, die von Zwangsverheiratun-
gen betroffen sind. Frauen- und Migrantinnenorganisationen haben ver-
sucht, entsprechende gesetzliche Änderungen zum Gegenstand des Nationa-
len Integrationsprogramms zu machen – ohne Erfolg.

Drucksache 17/2491 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

7. Der Bundesrat schlägt nun mit Unterstützung der Bundesregierung ein
„Zwangsverheiratungs-Bekämpfungsgesetz“ vor (Bundestagsdrucksache
17/1213). Dieser Vorschlag beschränkt sich im Wesentlichen auf strafrecht-
liche Änderungen und lässt die notwendigen aufenthaltsrechtlichen Aspekte
außer Betracht. Seit dem Jahr 2005 sind Zwangsverheiratungen als ein be-
sonders schwerer Fall der Nötigung unter Strafe gestellt (§ 240 Absatz 4
Satz 2 Nummer 1 des Strafgesetzbuchs – StGB). Die jetzt vorgeschlagene
Strafmaßerhöhung sowie die Umbenennung und Ausweitung dieses Straftat-
bestandes sind keine probaten Mittel, um jemanden von der Begehung einer
Zwangsehe abzuschrecken. Schließlich ist der Gesetzentwurf ohne Vorlie-
gen einer rechtstatsächlichen Untersuchung über die Effektivität des gelten-
den § 240 StGB nicht mehr als ein weiterer Fall schwarz-gelber Symbolpoli-
tik.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. einen Gesetzentwurf zur Stärkung der Rechte von betroffenen Frauen vorzu-
legen unter Berücksichtigung folgender Punkte:

a) In Deutschland geborene oder als Kind nachgezogene Ausländerinnen
und Ausländer, die seit fünf Jahren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis
sind, ist durch Änderung des § 35 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes
(AufenthG) nicht mehr nur auf Antrag hin, sondern von Amts wegen und
unabhängig von der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts eine
Niederlassungserlaubnis zu erteilen. Dieser unbefristete Aufenthaltstitel
soll auch dann nicht erlöschen, wenn sich die betreffende Person – z. B.
aufgrund einer Zwangsverheiratung – länger als sechs Monate im Aus-
land aufhält oder aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden
Grunde ausreist (Änderung des § 51 Absatz 2 AufenthG).

b) Jenen in Deutschland lebenden Einwanderinnen und Einwanderern, die
von der vorgenannten Regelung nicht erfasst werden, da sie die Voraus-
setzungen für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nicht erfüllen,
ist über eine Änderung der §§ 37 und 51 AufenthG immer dann eine le-
gale Wiedereinreise zu gestatten, wenn sie durch List, Gewalt oder Dro-
hung mit einem empfindlichen Übel zur Eingehung der Ehe ins Ausland
verbracht oder an der Rückkehr nach Deutschland gehindert wurden.

c) In § 31 Absatz 2 AufenthG sind Zwangsverheiratungen als Härtefall an-
zuerkennen.

d) Frauen, die von dem eigenständigen Aufenthaltsrecht gemäß § 31
AufenthG nicht erfasst werden, ist eine Aufenthaltserlaubnis im Rahmen
des § 25 AufenthG (verbunden – analog zu § 31 AufenthG – ein Arbeits-
marktzugang) zu erteilen, wenn sie sich aus einer erzwungenen Ehe be-
freien wollen. Bis zur Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis wer-
den diese Frauen von der Residenzpflicht (§ 61 AufenthG und § 56 des
Asylverfahrensgesetzes – AsylVfG), von der Verteilung (§ 15a AufenthG)
sowie von der Pflicht zum Verbleib in einer Gemeinschaftsunterkunft
(§ 53 AsylVfG) ausgenommen. Zudem ist für diese Frauen die Inan-
spruchnahme von medizinischen und therapeutischen Leistungen, die
über das in § 4 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) Normierte
hinausgehen, sicherzustellen.

e) Die Antragsfrist zur Aufhebung einer durch Drohung erzwungenen Ehe
wirdaufdreiJahreverlängert (§ 1317desBürgerlichenGesetzbuchs–BGB).

f) § 1318 Absatz 5 BGB ist dahin gehend zu ändern, dass derjenige Ehe-
gatte, der die Drohung zur Eheschließung ausgeübt hat oder von ihr
wusste, von dem gesetzlichen Erbrecht ausgeschlossen wird, es sei denn,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/2491

dass zur Zeit des Erbfalls die Aufhebbarkeit der Ehe nicht mehr hätte gel-
tend gemacht werden können.

g) Durch Änderung des § 1318 BGB ist sicherzustellen, dass das Opfer ei-
ner Zwangsehe im Falle der Aufhebung der Ehe grundsätzlich einen Un-
terhaltsanspruch auch dann erhält, wenn die Drohung ohne Wissen des
anderen Ehegatten von einem Dritten ausgeübt wurde.

h) In Fällen von Zwangsverheiratung ist ein Wahlrecht für die Antragstelle-
rin im Hinblick auf die örtliche Zuständigkeit des Gerichts einzuräumen.
§ 122 des Gesetzes über das Verfahren in Familiensachen und in den An-
gelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (FamFG) sollte für diese
Fälle nicht ausschließlich gelten, sondern den Opfern von Zwangsverhei-
ratung auch eine gerichtliche Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Auf-
enthalt des Antragsgegners einräumen. Das sollte auch für Rechtsstreitig-
keiten in Kindschaftsverfahren gemäß § 152 FamFG gelten;

2. durch eine Klarstellung in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Auf-
enthaltsgesetz vom 26. Oktober 2009 der Abschiebeschutz nach § 60 Absatz 1
AufenthG und daraus resultierend die Zuerkennung eines Flüchtlingsstatus
nach § 25 Absatz 2 AufenthG sicherzustellen für Personen, denen im Her-
kunftsland eine Zwangsehe droht bzw. die im Herkunftsland aus einer
Zwangsehe geflohen sind;

3. eine Untersuchung über die Effektivität der geltenden strafrechtlichen Rege-
lungen durchzuführen. Hierbei sollen insbesondere die Ermittlungs- und Ge-
richtspraxis zum Straftatbestand der Zwangsehe gemäß § 240 Absatz 4 Satz 2
Nummer 1 StGB ausgewertet werden und die Notwendigkeit weitergehen-
der Strafrechtsänderungen geprüft werden;

4. im Hinblick auf die Opfer schützenden Regelungen im deutschen materiel-
len Recht sollen die Kollisionsnorm über die Eheschließung und die Allge-
meinen Ehewirkungen gemäß den Artikeln 13 und 14 des Einführungsgeset-
zes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB) dahin gehend zu überprüfen,
ob eine Änderung erforderlich ist, um den Anwendungsbereich des deut-
schen materiellen Rechts zum Schutz der Opfer von Zwangsverheiratungen
auf die Anfechtung, Aufhebung und Scheidung der Ehe zu erweitern;

5. zusammen mit den Ländern Methoden für eine standardisierte Erfassung
und Dokumentation der Fälle von Zwangsverheiratungen zu entwickeln;

6. innerhalb der Bundesregierung eine Steuerungseinheit „Zwangsverheiratun-
gen“ zu bilden, um z. B. Hilfsangebote in deutschen Auslandsvertretungen
zu koordinieren. Das Auswärtige Amt soll die Auslandsvertretungen folgen-
dermaßen anweisen: Wenn in Deutschland lebende Frauen für eine Zwangs-
verheiratung in das Ausland verschleppt werden, dann soll es künftig vor-
rangige Aufgabe deutscher Auslandsvertretungen sein, diese Frauen –
unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – bei einer Wiedereinreise nach
Deutschland zu unterstützen;

7. die Gründung einer dauerhaften Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsver-
heiratungen“ zu initiieren;

8. mit den Ländern im Rahmen einer Kooperationsvereinbarung verbindliche
Regelungen für das regelmäßig notwendige länderübergreifende Handeln zu
vereinbaren, damit den Opfern von Zwangsverheiratungen möglichst
schnell und unbürokratisch geholfen werden kann. Diese Vereinbarung soll
die Intervention und Prävention regeln.

a) Im Bereich Intervention soll die Kooperationsvereinbarung klare und
verbindliche Handlungsanweisungen und Zusammenarbeitsregelungen
nicht nur für Polizeibehörden und Fachberatungs- und Unterstützungs-
einrichtungen, sondern auch für andere Landesbehörden (Melde-, Aus-

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länder- und Jugendämter), für Träger öffentlicher Sozialleistungen und
für die Bundesagentur für Arbeit festlegen.

Inhaltlich soll die Kooperationsvereinbarung insbesondere folgende
Punkte enthalten:

● verbindliche und eindeutige Regelungen zur länderübergreifenden
Festlegung der örtlichen bzw. sachlichen Zuständigkeit der Träger
öffentlicher Sozialleistungen sowie klare Abgrenzung zwischen Leis-
tungen der Jugendhilfe und Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende für junge Volljährige;

● schnelle Bereitstellung einer sicheren und zumindest zeitweilig anony-
men Unterkunft (mindestens ein bis zwei pauschalfinanzierte Notauf-
nahmeplätze für von Zwangsverheiratung betroffene Mädchen und
Frauen in jedem Bundesland);

● langfristige finanzielle Sicherung von Online- und anderen Fachbera-
tungsstellen sowie Schutzeinrichtungen;

● Anonymisierung bzw. das vollständige Sperren von Daten, die ein
Aufdecken der geschützten Identität bzw. des geschützten Wohnortes
ermöglichen;

● Unterstützung bei der Beschaffung von Passpapieren bzw. aufenthalts-
rechtlich notwendigen Unterlagen;

● sicherer Zugang zu Schule, Ausbildung oder Beruf;

● starke und geschützte Position im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren
durch Ausweitung bereits bestehender Zeugenschutzprogramme.

b) Im Bereich Prävention soll die Bundesregierung in Kooperation mit den
Ländern und Frauen- und Migrantinnen-/Migrantenorganisationen Aufklä-
rungskampagnen entwickeln und finanzieren und hierbei

● darauf hinwirken, dass an Schulen die Themen Zwangsverheiratung
und häusliche Gewalt in die Lehrpläne aufgenommen und im Unter-
richt angemessen thematisiert werden, dass Lehrerinnen und Lehrer
entsprechend fortgebildet und sensibilisiert werden und dass Anlauf-
stellen geschaffen werden, an die sich Schülerinnen und Schüler wen-
den können, wenn sie direkt oder indirekt von Zwangsverheiratungen
und häuslicher Gewalt betroffen sind;

● spezielle Beratungsangebote für Mütter und Väter in der Fläche anbie-
ten, in denen gewaltpräventive Erziehungsmethoden sowie die Bedeu-
tung von Akzeptanz selbstbestimmter Lebensentwürfe vermittelt werden;

● niedrigschwellige und interkulturelle Empowermentangebote speziell
für Mädchen in der Fläche anbieten, in welchen sie lernen können, ihre
Rechte wahrzunehmen und sich gegen Übergriffe zur Wehr zu setzen;

● kultursensible und gendergerechte Beratung und Hilfsangebote
speziell für Jungen in der Fläche anbieten, die als Täter und Verbün-
dete – aber mitunter auch als Opfer – von Zwangsverheiratungen be-
troffen sind;

● die Chancen nutzen, die sich aus den vielen Initiativen gegen Zwangs-
verheiratungen ergeben – mit dem Ziel, gemeinsam eine aktive und
koordinierte Öffentlichkeitsarbeit in dieser Sache zu betreiben.

Berlin, den 6. Juli 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/2491

Begründung

Zwangsverheiratungen sind schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen. Sie
sind in Deutschland zu Recht unter Strafe gestellt und geächtet.

Eine Zwangsverheiratung liegt dann vor, wenn mindestens einer der Eheleute
durch die Ausübung von Gewalt oder durch Drohung zum Eingehen einer Ehe
gezwungen wird. Die notwendige Abgrenzung zwischen einer Zwangsverhei-
ratung und einer sog. arrangierten Ehe ist – auch nach Ansicht des Bundes-
ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) – „schwie-
rig“ („Zwangsverheiratung bekämpfen – Betroffene wirksam schützen“, S. 4).
Denn die Erfahrung zeigt, dass bei einer arrangierten Eheanbahnung immer
wieder mit vielfältigen Formen sozialen, psychischen bzw. emotionalen Drucks
versucht wird, die freie Willensentscheidung der künftigen Partner zu beein-
trächtigen. Hierdurch entsteht ein „Graubereich“ zwischen arrangierten und er-
zwungenen Ehen (so G. Straßburger in: „Zwangsverheiratung in Deutschland“,
Berlin 2007, S. 82 f.), auf den insbesondere mit frühzeitigen Präventionsange-
boten (s. u.) reagiert werden sollte.

Die angeblichen Versuche der großen Koalition Migrantinnen, die von Zwangs-
verheiratungen betroffen sind, zu helfen, waren nicht problemadäquat. Anstatt
die Aufenthaltsrechte dieser Frauen zu stärken, begnügte sich Schwarz-Rot mit
halbherzigen Änderungen der entsprechenden Verwaltungsvorschriften. Da-
neben wurden eine Telefonhotline freigeschaltet, die Projektförderung für eine
Onlineberatungsstelle bewilligt und ein Flyer erstellt. 2007 hat das BMFSFJ
einen Forschungsband herausgegeben und 2009 eine rechtlich unverbindliche
Handreichung vorgelegt („Zwangsverheiratung bekämpfen – Betroffene wirk-
sam schützen“, Berlin 2009) – mehr nicht.

Auch die Ankündigungen im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP
(S. 107 f.) sind vollmundig. Aber einziges Ergebnis ist bislang: Im Juni 2010
hat die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung einen – erneut nur unver-
bindlichen – „Leitfaden für Schulen zum Umgang mit Zwangsverheiratungen“
präsentiert.

Dieser Antrag schlägt der Bundesregierung nun ganz konkrete Maßnahmen
vor, um umfassend gesetzgeberisch tätig zu werden. Zudem soll die Bundes-
regierung die Initiative ergreifen, um zusammen mit den Ländern und nicht-
staatlichen Akteurinnen und Akteuren ein koordiniertes Vorgehen in den Berei-
chen Prävention und Intervention zu gewährleisten.

Wir beziehen uns bei unseren Vorschlägen maßgeblich auf

● den Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN aus der 16. Wahlpe-
riode (Bundestagsdrucksache 16/61),

● die Ergebnisse der diesbezüglichen Anhörung des Bundestagsausschusses
für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (am 19. Juni 2006) zum Thema
„Bekämpfung von Zwangsverheiratungen“ (www.bundestag.de),

● die Positionspapiere der drei bisherigen Bundesfachkonferenzen Zwangs-
verheiratung sowie

● die detaillierten Empfehlungen des von der Europäischen Kommission
(„Daphne“) geförderten Projekts „Aktiv gegen Zwangsverheiratung“ (Ham-
burg 2009).

1. Vorlage eines Gesetzentwurfs

Vorbemerkung

Die effektivste Hilfe für von Zwangsverheiratung betroffene oder bedrohte Mi-
grantinnen sind sichere Aufenthalts- und Rückkehrrechte. Die große Koalition

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hatte Gesetzesänderungen zugunsten gefährdeter Migrantinnen stets abgelehnt.
Sie war lediglich bereit, einige der hier vorgeschlagenen Änderungen in die
Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26. Oktober
2009 aufzunehmen. Dies ist jedoch – auch einer Analyse des bundesweiten
Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und der Gewalt an Frauen im Mi-
grationsprozess (KOK e. V.) vom März 2010 zufolge – unzureichend. Denn all-
gemeine Verwaltungsvorschriften dienen lediglich dazu, eine einheitliche Rechts-
anwendung der Behörden zu gewährleisten. Sie wenden sich unmittelbar nur an
die zuständigen Behörden. Für Bürgerinnen und Bürger begründen Verwal-
tungsvorschriften keine einklagbaren subjektiven Rechte und sind für Gerichte
auch nicht bindend. Deswegen waren sich die Fraktionen FDP und BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN in der 16. Wahlperiode darüber einig, dass zum wirksamen
Schutz der Frauen gesetzliche Änderungen im Aufenthaltsrecht notwendig sind
(vgl. Bundestagsdrucksachen 16/61 und 16/1156).

Einzelbegründung

a) Gemäß § 35 Absatz 1 AufenthG erhalten in Deutschland geboren oder als
Kind nachgezogene Ausländerinnen, die seit fünf Jahren im Besitz einer
Aufenthaltserlaubnis sind, auf Antrag eine Niederlassungserlaubnis. Ein An-
spruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis besteht allerdings nicht,
wenn der Lebensunterhalt nicht ohne Inanspruchnahme von Leistungen
nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oder Jugendhilfe
nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch gesichert ist, es sei denn, die Aus-
länderin befindet sich in einer Ausbildung, die zu einem anerkannten schu-
lischen oder beruflichen Bildungsabschluss führt. Um sicherzustellen, dass
beim Schutz vor einer Heiratsverschleppung ins Ausland keine vermeid-
baren Schutzlücken entstehen, sollen folgende Änderungen eingeführt wer-
den:

Durch Änderung des § 35 Absatz 1 AufenthG sollen diese als Kind in
Deutschland aufgewachsenen Ausländerinnen künftig nicht mehr nur auf
eigenen Antrag hin, sondern schon von Amts wegen eine Niederlassungs-
erlaubnis erhalten. Da sich Mädchen und junge Frauen, die in traditionell-
patriarchalen Familien aufwachsen, häufig weder in einer Ausbildung befin-
den noch ihren Lebensunterhalt eigenständig sichern können, soll darüber
hinaus ein Anspruch auf Erteilung der Niederlassungserlaubnis unabhängig
von der eigenständigen Lebensunterhaltssicherung bestehen.

Schließlich soll diese Niederlassungserlaubnis durch Änderung des § 51 Ab-
satz 2 Satz 2 AufenthG auch dann nicht erlöschen, wenn sich die betreffende
Person – z. B. aufgrund einer Zwangsverheiratung – länger als sechs Monate
im Ausland aufhält oder aus einem seiner Natur nach nicht vorübergehenden
Grunde ausreist.

b) Dies entspricht dem Anliegen der Anträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 16/761) und der FDP-Fraktion (Bundes-
tagsdrucksache 16/1156). Die Effektivität dieser Regelung wird (ähnlich wie
bei Nummer 1c und 1d) entscheidend davon abhängen, inwieweit das Aus-
wärtige Amt es sich tatsächlich zum eigenen Anliegen macht, in Fällen von
„Heiratsverschleppungen“ in Drittstaaten Opfer von Zwangsverheiratungen
– unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit – bei einer Wiedereinreise nach
Deutschland zu unterstützen (vgl. Nummer 4 des Petitums und der Begrün-
dung). Die Bezeichnung der Zwangsehe als Härtefall im Sinne von § 37 Ab-
satz 2 AufenthG in der Verwaltungsvorschrift (Nummer 37.2.1.2) reicht für
den Schutz der Opfer nicht aus.

c) Hiermit wird das in der Verwaltungsvorschrift nur sehr zaghaft formulierte
Anliegen (Nummer 31.2.2.2.1) im Aufenthaltsgesetz klar verankert.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 7 – Drucksache 17/2491

d) ● Die Notwendigkeit, geduldeten Frauen bzw. Frauen mit einer Aufent-
haltsgestattung, die sich aus einer erzwungenen Ehe befreien wollen, eine
Aufenthaltserlaubnis nach § 25 AufenthG zu erteilen, ergibt sich aus dem
Umstand, dass nur Personen mit einem rechtmäßigen Aufenthaltsstatus
das eigenständige Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG erhalten können.

● Die Notwendigkeit, die von Zwangsheirat betroffenen Frauen bis zur Er-
teilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis von der Residenzpflicht ge-
mäß § 61 AufenthG und § 56 AsylVfG zu befreien, verdeutlicht folgen-
der Einzelfall: Sazan B.-A. war aus Angst vor ihrem gewalttätigen Mann
in ein Münchner Frauenhaus geflüchtet. Bleiben konnte sie dort nicht,
weil sie aufgrund ihres Duldungsstatus der Residenzpflicht unterlag.
Sazan B.-A. musste daher das Frauenhaus verlassen und in ihre Wohnung
zurückkehren. Einen Monat später wurde sie ermordet (taz, 10. und
12. Oktober 2007). So etwas darf sich nie wiederholen.

● Frauen, die vor einer Zwangsverheiratung flüchten, müssen in speziellen
Schutzeinrichtungen untergebracht werden. Die Pflicht, in einer Gemein-
schaftsunterkunft zu wohnen, steht dem entgegen und sollte daher ent-
fallen.

● Die medizinische Versorgung ist nach dem Asylbewerberleistungsgesetz
auf die unabweisbar notwendige Behandlung „akuter Erkrankungen und
Schmerzzustände“ beschränkt. Sonstige (hier z. B. psychotherapeutische)
Leistungen stehen nach § 6 AsylbLG nur im Ermessen der zuständigen
Behörde und werden in der Praxis so gut wie gar nicht bewilligt. Insbe-
sondere junge Frauen und Mädchen, die vor Zwangsverheiratungen
flüchten, sind aber dringend auf medizinische und therapeutische Unter-
stützung angewiesen. Der uneingeschränkte Zugang zu dieser Hilfe darf
ihnen nicht verwehrt werden.

e) Dies entspricht dem Anliegen der Anträge der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN (Bundestagsdrucksache 16/761) und der FDP-Fraktion (Bundes-
tagsdrucksache 16/1156) sowie dem Gesetzentwurf des Bundesrates für ein
„Zwangsheirat-Bekämpfungsgesetz“ (Bundestagsdrucksache 17/1213).

f) Dieser Vorschlag entspricht dem Anliegen des Antrags der FDP-Fraktion
(Bundestagsdrucksache 16/1156) sowie dem Gesetzentwurf des Bundesrates
für ein „Zwangsheirat-Bekämpfungsgesetz“ (Bundestagsdrucksache 17/1213).

g) Die Änderung entspricht dem Gesetzentwurf des Bundesrates für ein „Zwangs-
heirat-Bekämpfungsgesetz“ (Bundestagsdrucksache 17/1213). Sie ist not-
wendig, weil im Falle der Eheaufhebung bislang ein Unterhaltsanspruch zu-
gunsten des genötigten Ehegatten nur dann besteht, wenn die Drohung von
dem anderen Ehegatten oder mit dessen Wissen erfolgt ist. Somit können
Opfer von Zwangsverheiratungen einen Unterhaltsanspruch nicht geltend ma-
chen, die von ihrer eigenen Familie bedroht wurden, sowie solche, die die
Kenntnis ihres Ehegatten nicht nachweisen können. Zur finanziellen Absiche-
rung der Opfer soll daher ein Unterhaltsanspruch ohne Kenntnis der Drohung
seitens des anderen Ehegatten gewährt werden. Der nicht genötigte Ehegatte
wird durch die Änderung nicht unangemessen benachteiligt, da ihn dieselbe
Rechtsfolge im Falle einer Scheidung treffen würde. Sollten beide Ehegatten
Opfer einer Zwangsehe geworden sein, muss überprüft werden, inwieweit eine
Unterhaltszahlung seitens des Unterhaltsverpflichteten zu zahlen ist.

h) Die Änderung ist notwendig, um zu verhindern, dass Dritte oder auch der
Antragsgegner durch Betreiben eines familiengerichtlichen Verfahrens
Kenntnis vom Wohnort des Opfers einer Zwangsverheiratung erlangen. Dies
entspricht auch dem Anliegen des Antrags der FDP-Fraktion aus der letzten
Wahlperiode (Bundestagsdrucksache 16/1156). Durch ein Wahlrecht des

Drucksache 17/2491 – 8 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Gerichtsstandes wird dem Gedanken Rechnung getragen, dass das Opfer
eventuell auch ein Interesse daran hat, einen kurzen Gerichtsweg zu haben.

2. Änderung der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz

Hiermit wird ein Vorschlag der o. g. „Handreichung“ des BMFSFJ (S. 33) auf-
gegriffen. Das Bundesministerium weist dort darauf hin, dass von Zwangshei-
rat bedrohte bzw. betroffene Frauen eine Verfolgungshandlung gemäß § 60 Ab-
satz 1 Satz 3 AufenthG geltend machen und hierüber den Flüchtlingsstatus
gemäß § 25 Absatz 2 AufenthG erhalten könnten. Tatsächlich wird aber weder
im Aufenthaltsgesetz noch in Nummer 60.1.2. der Verwaltungsvorschrift zum
Aufenthaltsgesetz (VwVAufenthG) Bezug auf das Verfolgungsmerkmal „Zwangs-
verheiratung“ genommen. Die Bundesregierung hat auf eine Schriftliche Frage
des Abgeordneten Memet Kilic (Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ledig-
lich erklärt, eine solche Klarstellung in den VwVAufenthG „prüfen“ zu wollen
– allerdings stünde eine Überprüfung der VwVAufenthG „derzeit nicht an“
(Bundestagsdrucksache 17/2286, Frage 9).

3. Evaluierung des Straftatbestandes

Ohne eine rechtstatsächliche Untersuchung über die Effektivität des geltenden
§ 240 Absatz 4 Satz 2 Nr. 1 StGB stehen Vorschläge zur Änderung des Straf-
rechts (Einführung eines eigenen Tatbestandes „Zwangsverheiratung“, Ände-
rungen des Strafrahmens bzw. Einordnung von Zwangsverheiratungen unter
das sog. Weltrechtsprinzip) auf keiner ausreichenden Grundlage.

4. Prüfung des internationalen Privatrechts

Nach der unter Nummer 5 vorgeschlagenen Datenerfassung und deren Auswer-
tung soll die Bundesregierung den Änderungsbedarf der eherechtlichen Kolli-
sionsnorm für die Aufhebung, Anfechtung und Scheidung der Ehe im inter-
nationalen Privatrecht überprüfen. Es ist davon auszugehen, dass sich das
anwendbare Recht nach den Artikeln 13 und 14 EGBGB richtet. Danach knüpft
das anwendbare Recht vorrangig an die Staatsangehörigkeit an. Folglich sind
die deutschen Regelungen zur Aufhebung, Anfechtung und Scheidung der Ehe
nicht anwendbar, wenn die Ehegatten eine ausländische Staatsangehörigkeit be-
sitzen. Sollte sich herausstellen, dass die ganz überwiegende Anzahl der Opfer
von Zwangsehen sowie deren Ehegatten einem ausländischen Staat angehören,
würden die vorteilhaften deutschen Regelungen zur Auflösung der Ehe den
Opfern von Zwangsverheiratungen keinen Schutz bieten können. Zu prüfen ist
daher, ob eine Sonderregelung erforderlich ist, die die ehelichen Wirkungen
dem Recht des gewöhnlichen Aufenthalts unterwirft und damit die Anwendung
deutschen Rechts für die Aufhebung, Anfechtung und Scheidung der Ehe er-
möglicht.

5. Datenerfassung

Nach wie vor ist die Datengrundlage über das Ausmaß von Zwangsverheiratun-
gen in Deutschland unzureichend. Im Interesse einer wirksamen Interventions-
und Präventionsarbeit sollte die Bundesregierung daher zusammen mit den
Ländern für Behörden sowie für Beratungs- und Unterstützungseinrichtungen
Formulare entwickeln, die eine standardisierte Erfassung und Dokumentation
von Zwangsverheiratungen ermöglichen. Dies entspricht auch den Vorschlägen
des o. g. „Daphne“-Projekts.

6. Kooperation innerhalb der Bundesregierung

Vorbild für die Steuerungseinheit der Bundesregierung sollte die sog. Forced
Marriage Unit (FMU) der britischen Regierung sein. Diese arbeitet seit 2005

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 9 – Drucksache 17/2491

systematisch mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren zusammen (insbe-
sondere auch mit den unterschiedlichen Communities). Sie hat zielgruppenspe-
zifische Handlungsleitlinien für unterschiedliche Berufsgruppen erarbeitet. Die
FMU leistet u. a. in Pakistan, Bangladesh und Indien Aufklärungsarbeit. Au-
ßerdem handelt sie, wenn britische Staatsangehörige zur Zwangsverheiratung
ins Ausland verbracht werden (Unterstützung bei der Klageeinrichtung vor bri-
tischen Gerichten bis hin zu Rettungsmissionen im Ausland und Unterstützung
bei Rückkehrflügen).

Die Steuerungseinheit der Bundesregierung sollte ein erweitertes Hilfsangebot
in deutschen Auslandsvertretungen koordinieren. Vordringlich wäre z. B. eine
verbindliche Weisung des Auswärtigen Amts dahin gehend, dass es in Fällen
von „Heiratsverschleppungen“ vorrangige Aufgabe deutscher Auslandsvertre-
tungen ist, Migrantinnen bei ihrer Wiedereinreise nach Deutschland zu unter-
stützen. Um Zwangsverheiratungen zu erkennen und die Frauen bei der Wie-
dereinreise zu unterstützen, soll das Personal in den Auslandsvertretungen
fortgebildet und sensibilisiert werden. Mit dieser Zielrichtung sollen die deut-
schen Auslandsvertretungen in den einschlägigen Drittstaaten eng mit staat-
lichen Stellen sowie mit nichtstaatlichen Frauen- und Menschenrechtsorga-
nisationen zusammenarbeiten. Bislang hat das Auswärtige Amt diesbezüglich
nichts unternommen (vgl. die Kleine Anfrage von der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 16/10526).

7. Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsverheiratungen“

Frauen, die sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen, muss schnell,
kompetent, effektiv und langfristig geholfen werden. Die Umsetzung von
Schutzmaßnahmen erfordert in aller Regel länderübergreifendes Handeln.
Hierfür gibt es aber zwischen Bund, Ländern und NGO weder Kooperations-
strukturen noch entsprechende Leitlinien.

Seit 1997 gibt es die – sehr erfolgreich arbeitende – Bund-Länder-AG (AG =
Arbeitsgruppe) „Frauenhandel“. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund er-
scheint eine Initiative der Bundesregierung zur Gründung einer entsprechenden
Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Zwangsverheiratungen“ seit langem überfällig.

In den meisten Bundesländern haben sich bereits Strukturen entwickelt, inner-
halb derer staatliche Behörden und nichtstaatliche Fachberatungs- und Unter-
stützungseinrichtungen gegen Zwangsverheiratungen bzw. zur bestmöglichen
Unterstützung der Opfer zusammenarbeiten. Berlin, Bremen, Hamburg, NRW,
Hessen und Baden-Württemberg haben in den letzten Jahren auch Handlungs-
empfehlungen oder -konzepte veröffentlicht.

Es mangelt jedoch an einer länderübergreifenden Vernetzung. Diese Lücke soll
die vorgeschlagene Bund-Länder-AG schließen. Sie soll ein Forum sein, um
das in den Ländern vorhandene Wissen und die bestehenden Ansätze zu syn-
chronisieren, damit die bestehenden landeseigenen, aber auch länderübergrei-
fenden Interventions- und Präventionsansätze aufeinander abgestimmt und
weiterentwickelt werden können. Operatives Ziel dieser AG soll der Abschluss
einer Kooperationsvereinbarung sein.

8. Kooperationsvereinbarung „Zwangsverheiratungen“

Seit 2007 existiert ein aktualisiertes Kooperationskonzept für den Schutz von
Opferzeugen/-zeuginnen im Bereich des Menschenhandels, die regelmäßig nicht
in das Programm des Zeugenschutz-Harmonisierungsgesetzes aufgenommen
werden können oder wollen. Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht,
wenn die Bundesregierung – wie im Bereich des Frauenhandels – nun auch für
die Opfer von Zwangsverheiratungen ein Kooperationskonzept vorschlägt.
Diese Vereinbarung soll die Bereiche Intervention und Prävention regeln.

Drucksache 17/2491 – 10 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

8.1. Intervention

Im Bereich Intervention soll die Kooperationsvereinbarung klare und verbindli-
che Handlungsanweisungen enthalten. Adressaten dieser Vereinbarung sollen
nicht nur Polizeibehörden und Fachberatungs- und Unterstützungseinrichtun-
gen sein, sondern auch andere Landesbehörden (Melde-, Ausländer- und Ju-
gendämter), die Träger öffentlicher Sozialleistungen und die Bundesagentur für
Arbeit.

Inhaltlich soll das Schutzkonzept folgende Punkte umfassen:

a) Sicherstellung flächendeckender Schutzeinrichtungen

● Die Bundesregierung steht in der Pflicht, endlich eine bedarfsgerechte In-
frastruktur zu gewährleisten, zu der alle von häuslicher Gewalt betroffe-
nen Frauen freien Zugang haben (vgl. Bundestagsdrucksache 17/259).

● Als Teil dessen wird für die Opfer von Zwangsverheiratungen ein
flächendeckendes Netz interkulturell ausgerichteter, leistungsfähiger
Schutz- und Kriseneinrichtungen benötigt.

● Die Bundesfachkonferenz Zwangsverheiratung fordert z. B. ein bis zwei
pauschalfinanzierte Notaufnahmeplätzen für von Zwangsverheiratung
betroffene Mädchen und Frauen pro Bundesland.

● Sichergestellt werden muss auch eine langfristige Fortführung der von
„Papatya“ bundesweit angebotenen Onlineberatung SIBEL. Deren Mo-
dellprojektfinanzierung durch das BMFSFJ läuft dieses Jahr aus, ohne
dass eine Anschlussfinanzierung durch die Länder gesichert ist.

Da für diese Maßnahmen vielfach die Länder zuständig sind, müssen innerhalb
der Bund-Länder-AG „Zwangsverheiratungen“ als Ausdruck der gesamtstaatli-
chen Verantwortung die Finanzierungszusagen der Länder sichergestellt wer-
den. Eine Koordinierung dieses Prozesses durch die Bundesregierung ist drin-
gend notwendig.

b) Koordinierung der Lebensunterhaltssicherung

Opfern von Zwangsverheiratungen muss so schnell wie möglich geholfen wer-
den. Dies ist für die betroffenen Frauen von existentieller Bedeutung. Tatsäch-
lich aber blockieren sich die Leistungsbehörden – gerade bei den regelmäßigen
länderübergreifenden Schutzmaßnahmen – über Wochen und Monate gegensei-
tig: Auf Seite 28 stellt die o. g. „Handreichung“ des BMFSFJ fest, dass immer
wieder viel Zeit vergeudet wird, weil eine Fülle sozialrechtlich „durchaus kom-
plizierter Regelungen“ existieren bzw. „erhebliche bürokratische Hürden“ be-
stehen, die – wenn überhaupt – dann „oft nur durch sehr viel Überzeugungsar-
beit bei den Behörden“ zugunsten der betroffenen Frauen gelöst werden
können. Diese Probleme betreffen z. B. die Feststellung der sachlichen bzw.
örtlichen Zuständigkeit von Trägern öffentlicher Sozialleistungen oder das Ver-
hältnis von Leistungen der Jugendhilfe zu den Leistungen der Grundsicherung
für Arbeitsuchende.

Frauen, die vor einer Zwangsverheiratung flüchten, befinden sich in einer phy-
sischen und psychischen Extremlage. Für langwierige, bürokratische Zustän-
digkeitsstreitigkeiten haben weder sie noch die Schutzeinrichtungen Zeit.

Eine „Handreichung“, die unter Hinweis auf die Gesetzeskommentare an den
guten Willen der Verwaltung appelliert, reicht in keiner Weise aus. Vielmehr
sollen Bund und Länder in der angestrebten Kooperationsvereinbarung für ih-
ren jeweiligen Zuständigkeitsbereich verbindliche Handlungsanweisungen für
die Behörden vorgeben.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 11 – Drucksache 17/2491

c) Unmittelbare Schutzmaßnahmen

● Die Kooperationsvereinbarung soll klären, wie Opfer von Zwangsverhei-
ratungen bei der Beschaffung von Passpapieren bzw. aufenthaltsrechtlich
notwendigen Unterlagen effektiv unterstützt werden können und wie der
sichere Zugang zu Schule, Ausbildung und Beruf sichergestellt werden
kann.

● Von herausragender Bedeutung ist die Anonymisierung bzw. das voll-
ständige Sperren von Daten, die ein Aufdecken der geschützten Identität
bzw. des geschützten Wohnortes des untergetauchten Opfers ermögli-
chen. Die Kooperationsvereinbarung soll insoweit verbindlich vorgeben,
dass und wie die lückenlose Geheimhaltung der personenbezogenen Da-
ten betroffener Frauen von allen staatlichen und nichtstaatlichen Einrich-
tungen zu gewährleisten ist.

● Auch Opfer von Zwangsverheiratungen benötigen in Ermittlungs- und
Gerichtsverfahren besonderen Schutz, vergleichbar mit dem, der in ande-
ren Opfer- und Zeugenschutzprogrammen gewährleistet wird.

● Und schließlich soll die Kooperationsvereinbarung spezielle Betreuungs-
und Schutzkonzepte für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachbe-
ratungsstellen und Kriseninterventionseinrichtungen vorsehen.

d) Sensibilisierung

Die Kooperationsvereinbarung „Zwangsverheiratungen“ soll – wie ihr Pendant
im Bereich „Menschenhandel“ – die Aus- und Fortbildung der Mitarbeiter der
zuständigen Behörden im Hinblick auf den Umgang mit Opfern von Zwangs-
verheiratungen/Ehrverbrechen standardisieren.

8.2. Präventionsmaßnahmen

a) Schulen

Den Schulen kommt bei der Präventionsarbeit eine herausragende Rolle zu:
Mit der Kooperationsvereinbarung sollen Bund und Länder darauf hinwirken,
dass die Themen Zwangsehe und häusliche Gewalt in die Lehrpläne aufgenom-
men werden. Lehrerinnen und Lehrer sollen auf diese Thematik hin sensibili-
siert und fortgebildet werden. Schließlich sollen an Schulen Anlaufstellen ge-
schaffen werden, an die sich nicht nur potentielle bzw. tatsächliche Opfer von
Zwangsverheiratungen wenden können, sondern auch deren Geschwister und
Freundinnen und Freunde.

Ein großes Problem sind in diesem Zusammenhang Schülerinnen, die gegen ih-
ren Willen aus den Ferien gar nicht oder als verheiratete Frauen zurückkehren.
Schulen sind ein Ort, an dem diese jungen Frauen Ängste äußern können müs-
sen, Informationen erhalten und Vorsichtsmaßnahmen einüben können. Vor-
sichtsmaßnahmen sind etwa das Hinterlassen von Telefonnummern, Auslands-
adressen, das Rückkehrdatum bzw. das Hinterlassen einer Erklärung der
Schülerin beim Jugendamt.

Der im Juni 2010 von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung vorge-
legte „Leitfaden für Schulen zum Umgang mit Zwangsverheiratungen“ enthält
hierzu – trotz seiner Unverbindlichkeit – viele sinnvolle Anregungen und
durchdachte Empfehlungen.

b) Beratungsangebote für Eltern

Um Zwangsverheiratungen vorzubeugen, sind die Länder gehalten, in der Flä-
che in Kooperation mit Frauen- bzw. Migrantinnenorganisationen spezielle,
kultursensible Integrationsangebote für Mütter und Väter anzubieten, in denen
gewaltpräventive Erziehungsmethoden vermittelt werden sowie die Bedeutung
von Akzeptanz selbstbestimmter Lebensentwürfe. Der Bund soll dies mit Pro-
jektförderungsmitteln unterstützen.

Drucksache 17/2491 – 12 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

c) Empowermentangebote für Mädchen

Kinder und Jugendliche brauchen ein starkes Selbstbewusstsein und Wider-
standsfähigkeit – nicht zuletzt, um „Nein“ sagen zu können. Ich-Stärkung und
Thematisierung auch von Sexualität und sexuellem Selbstbestimmungsrecht
können helfen, dass Kinder und Jugendliche sich gegen unzulässige Beeinflus-
sung bzw. Übergriffe zur Wehr zu setzen. Es ist daher eine zentrale Aufgabe der
Länder, unterstützt durch die Bundesregierung, flächendeckend und möglichst
in Kooperation mit Frauen- bzw. Migrantinnenorganisationen niedrigschwel-
lige und interkulturelle Angebote speziell für Mädchen anzubieten. Der Bund
soll dies mit Projektförderungsmitteln unterstützen.

d) Jungen

Im Interesse einer effektiven Präventionsarbeit müssen Bund und Länder insbe-
sondere auch die Jungen in den Blick nehmen. Denn sie sind in dreifacher Hin-
sicht von Zwangsverheiratungen betroffen

● als potentieller Verbündeter der Täter bzw. der Opfer: Speziell in traditio-
nell-konservativen Familien werden die Söhne zu einer Übernahme patriar-
chaler Rollenmuster erzogen. Dies ist ein Grund, warum Jungen – mit Bil-
ligung der Eltern und Verwandten – gegenüber ihren Schwestern und
Freundinnen gewalttätig werden. Gleichzeitig ist es Teil dieses Erziehungs-
modells, dass auch die Jungen Gefahr laufen, selber Opfer häuslicher Ge-
walt zu werden. Benötigt werden kultursensible und gendergerechte Projekt-
angebote in der Fläche, in denen Jungen z. B. lernen können, ihr Selbst-
bewusstsein zu stärken, um widerstehen zu können und – z. B. gegenüber
ihren Schwestern – eben nicht zu Tätern zu werden, sondern ihnen beizu-
stehen. Ein gelungenes Beispiel hierfür ist die Postkartenkampagne des
Berliner Vereins MadonnaMädchenPower „Ehre ist für die Freiheit meiner
Schwester zu kämpfen“;

● als Täter: Wer verhindern will, dass Väter, Brüder und Cousins sich an
Zwangsverheiratungen beteiligen, muss sich mit den Tätern auseinander-
setzen. Wie die Erfahrungen der „Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit
Häusliche Gewalt e. V.“ zeigen, besteht in Deutschland im Bereich der inter-
kulturellen Täterarbeit eine eklatante Unterversorgung. Professionelle An-
bieter, wie z. B. das „männerbüro“ in Hannover, kann man deutschlandweit
an einer Hand abzählen. Ziel der Kooperationsvereinbarung muss es sein,
diese Angebotsstruktur deutlich auszuweiten;

● als Opfer: Von Zwangsverheiratungen sind zum ganz überwiegenden Teil
Frauen betroffen. Mitunter werden aber auch heterosexuelle Männer bzw.
homosexuelle Frauen und Männer dazu gezwungen, gegen ihren Willen zu
heiraten. Zudem geraten auch Freunde einer jungen Frau, die zwangsver-
heiratet werden soll, in das Visier einer gewaltbereiten Familie. Diese jun-
gen Männer bzw. das Paar insgesamt sind an Leib und Leben bedroht bzw.
sozial existentiell gefährdet. Allen vollmundigen Ankündigungen der
Bundesregierung zum Trotz gibt es aber weder für hetero- oder homo-
sexuelle Männer noch für Paare bundesweit auch nur eine einzige spezielle
Schutzeinrichtung (vgl. die Kleine Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN auf Bundestagsdrucksache 16/12573).

e) MigrantInnen-Communities

Die Bekämpfung von Zwangsverheiratung und Gewalt kann nur erfolgreich
sein, wenn die MigrantInnen-Communities selbst sich diesen Kampf zur Auf-
gabe machen. Meinungsführer/-führerinnen und Personen mit hoher Glaubwür-
digkeit müssen deutlich machen, dass Gewalt und Zwang von der Community
nicht geduldet werden.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 13 – Drucksache 17/2491

Hier gibt es bereits erste positive Beispiele:

● der Zentralrat der Muslime in Deutschland e. V. und die Türkische Ge-
meinde in Deutschland haben sich klar gegen Zwangsverheiratungen posi-
tioniert;

● zum anderen sind in den letzten Jahren aus den MigrantInnen-Communities
heraus eine Reihe von NGOs gegründet worden, wie z. B. Hennamond e. V.,
MaDonna Mädchenkultur e. V. oder das Projekt „HEROES – Gegen Unter-
drückung im Namen der Ehre“ (eine Initiative des Berliner Vereins Stroh-
halm e. V.);

● mehrere sog. Schuren in Bremen, Hamburg und Niedersachsen haben Erklä-
rungen gegen Gewalt gegen Frauen veröffentlicht;

● das Kölner Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen hat
zu dieser Thematik einen Flyer herausgegeben („Wenn du nicht willst, sag
NEIN!“);

● der Berliner Verein „Inssan“ hat bereits vor Jahren die Postkartenaktion
„Zwangsverheiratungen sind ein Verbrechen“ initiiert;

● die Muslimische Jugend in Deutschland war ebenfalls aktiv;

● diverse Internetportale ergreifen Partei für von Zwangsverheiratung bedrohte
Frauen (z. B. bei den unabhängigen und liberalen Seiten „Qantara.de“ und
„ufuq.de“, aber auch „muslimische-stimmen.de“, „HUDA – Netzwerk für
muslimische Frauen e. V.“ oder „Nafisa – Frauen – Gesellschaft – Islam“).

Mit diesem Engagement wird ein für die MigrantInnen-Community in Deutsch-
land erfreulich deutliches, gesellschaftspolitisches Signal gesetzt. Bund und Län-
der sollten die Chancen nutzen, die sich aus diesen Initiativen ergeben. Gemein-
sam mit ihnen sollte zum Schutz der Frauen und Mädchen auf die MigrantInnen-
Communities in Deutschland Einfluss genommen werden.

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