BT-Drucksache 17/1761

Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen

Vom 19. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1761
17. Wahlperiode 19. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, Fritz
Kuhn, Kerstin Andreae, Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Kai Gehring, Katrin
Göring-Eckardt, Priska Hinz (Herborn), Uwe Kekeritz, Maria Klein-Schmeink, Tom
Koenigs, Beate Müller-Gemmeke, Dr. Konstantin von Notz, Omid Nouripour,
Brigitte Pothmer, Tabea Rößner, Claudia Roth (Augsburg), Krista Sager, Manuel
Sarrazin, Christine Scheel, Dr. Frithjof Schmidt, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn,
Dr. Harald Terpe, Josef Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Im Dezember 2008 verabschiedeten der Deutsche Bundestag mit den Stimmen
aller Fraktionen sowie der Bundesrat mit den Stimmen aller Bundesländer das
Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-
Behindertenrechtskonvention) sowie das dazugehörige Fakultativprotokoll
(A/RES/61/106) der Vereinten Nationen (United Nations – UN). Die beiden
völkerrechtlichen Verträge traten am 26. März 2009 in Deutschland in Kraft.

Die Bundesrepublik Deutschland gehörte schon im März 2007 zu den ersten
79 Ländern, die mit der Zeichnung des Übereinkommens (hier auch synonym
verwandt: der Konvention) die Absicht bekundeten, die nationale Gesetzgebung
so auszurichten, dass Menschen unabhängig von der Art und vom Schweregrad
ihrer Behinderung als vollwertige und gleichberechtigte Bürgerinnen und Bür-
ger ihres Landes anerkannt werden.

Die Verhandlungen um das Übereinkommen fielen in eine Zeit, in der wichtige
Meilensteine auf dem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit
Behinderung in der Bundesrepublik Deutschland gesetzt wurden. Mit der
Schaffung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), des Neunten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB IX) und des horizontalen Ansatzes in der Antidiskrimi-
nierungsgesetzgebung hatte die Bundesrepublik Deutschland international eine
Vorreiterrolle inne.

Das Inkrafttreten der Konvention eröffnet nun eine historische Chance zur kon-

sequenten Fortentwicklung dieser Politik. Das Übereinkommen ist somit auch
Ausdruck eines langjährig angestoßenen Paradigmenwechsels in der Behinder-
tenpolitik. Auch wenn das deutsche Recht für Menschen mit Behinderung im
internationalen Vergleich gut abschneidet, steht die deutsche Rechtsordnung
durch das Übereinkommen vor großen Herausforderungen.

Die UN-Konvention gilt als eines der bedeutendsten Dokumente in der Ge-
schichte der Entwicklung der Menschenrechte. In keiner internationalen Men-

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schenrechtskonvention kommt der sog. Empowerment-Ansatz so prägnant zum
Tragen wie in der Konvention über die Rechte von Personen mit Behinderungen.
Die formulierten Befähigungsansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminie-
rungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit
Behinderungen werden den Menschenrechtsdiskurs verändern. Zum ersten Mal
werden Menschenrechte in der völkerrechtlichen Rechtsetzung nicht aus-
schließlich als Abwehrrechte gegen den Staat begriffen.

Nach dieser, der ersten großen Menschenrechtskonvention des 21. Jahrhunderts,
stehen staatliche und gesellschaftliche Institutionen in der Pflicht, den Gestal-
tungs- und Handlungsraum von Menschen zu garantieren und durch aktives
Handeln möglich zu machen. Es gilt nach diesem Menschenrechtsdokument
nicht nur, die Menschenwürde durch das Unterlassen von staatlichen Übergrif-
fen zu garantieren, sondern gerade durch staatliches Tätigwerden überhaupt erst
zu ermöglichen. Viele Beobachterinnen und Beobachter gehen davon aus, dass
die Anspruchsrechte auf Befähigung ihre Wirkung auf weitere Gruppen – weit
über den Kreis der Menschen mit Behinderung hinaus – entfalten werden. Die
UN-Konvention gibt damit wichtige Impulse für eine Weiterentwicklung des in-
ternationalen Menschenrechtsschutzes.

Die Bundesregierung entwickelt derzeit einen nationalen Aktionsplan, der den
Handlungsbedarf, der durch die UN-Konvention entsteht, offenlegen sowie
einen Fahrplan zur Umsetzung präsentieren soll. Gleichzeit vertritt die Bundes-
regierung jedoch die Auffassung, dass die UN-Behindertenrechtskonvention
keinen gesetzgeberischen Änderungsbedarf mit sich brächte. Auf Grund dieses
offensichtlichen Widerspruchs ist es besonders wichtig, Inhalt, Umfang, Prozess
und zeitliche Perspektive eines solchen Aktionsplanes zu kontrollieren. In be-
stimmten gesellschaftlichen Bereichen gibt es schon heute eindeutig gesetzge-
berischen Handlungsbedarf.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung deshalb auf:

1. Um stärker als bisher den Abbau von Barrieren sowie den Ausbau der Instru-
mente zur Ermöglichung von Teilhabe und Befähigung, d. h. das Ziel der In-
klusion, in den Mittelpunkt zu stellen, muss der Begriff der Behinderung als
Prozess in Interaktion mit gesellschaftlichen Bedingungen gefasst werden.
Hierfür bedarf es eines modernen Behinderungsbegriffes, der die Beeinträch-
tigungen im Wechselverhältnis von Funktionseinschränkungen, Anforde-
rungsstrukturen des gesellschaftlichen Umfeldes, benachteiligenden und
ausgrenzenden Bedingungen sowie benachteiligendem Verhalten der Gesell-
schaft beschreibt. Der Behinderungsbegriff nach der Internationalen Klassi-
fikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF)
unterscheidet Schädigungen, Aktivitätseinschränkungen und Partizipations-
verluste, die im Wechselverhältnis von Funktionsverlusten und Kontext-
faktoren entstehen. Der Behinderungsbegriff in § 2 Absatz 1 SGB IX und im
BGG muss im Sinne der ICF und der UN-Behindertenrechtskonvention wei-
terentwickelt und mit dem Einstufungsinstrumentarium der ICF unterlegt
werden. In den Prozess der Implementierung sind Menschen mit Behinde-
rung bzw. chronischer Erkrankung und ihre Verbände von Beginn an einzu-
beziehen und an der Umsetzung der Vorgaben zu beteiligen.

2. Es ist notwendig, einen nationalen Aktionsplan zu entwickeln, der gemein-
sam mit Bund, Ländern und den Interessenvertretungen behinderter Men-
schen den Handlungsbedarf, der durch die UN-Konvention entsteht, offen-
legt sowie einen Fahrplan zur Umsetzung präsentiert. Die Bundesregierung
ist aufgefordert, festzustellen, dass sich die deutsche Rechtslage eben noch
nicht im Einklang mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen

mit Behinderung befindet und dementsprechend gesetzgeberischen Ände-
rungsbedarf zu erkennen und aufzuzeigen. In diesem Zusammenhang muss

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1761

die zwischen den Staaten Deutschland, Österreich, Schweiz und Lichtenstein
abgestimmte Übersetzung der UN-Konvention ins Deutsche überarbeitet
werden und dabei die so genannte Schattenübersetzung von „Netzwerk Arti-
kel 3“, die zentrale Übersetzungsfehler behebt, zur Anwendung kommen.

Es ist zudem dringend erforderlich, so genannte Focal Points nach Artikel 33
der UN-Konvention zur Prüfung des jeweiligen Regierungshandelns auf
seine Vereinbarkeit mit der Konvention in allen Bundes- sowie Landesminis-
terien einzurichten.

3. Bund, Länder, Betroffene und ihre Verbände müssen zusammenkommen und
Entwicklungspläne erstellen, wie die Inklusion von Kindern mit zusätzli-
chem Förderbedarf zukünftig in den Kindertagesstätten und an allen Regel-
schulen möglich werden kann. So bedarf es noch der Änderungen vieler
Schulgesetze sowie der Gesetze zur Ausführung des Kinder- und Jugendhil-
fegesetzes in den Ländern, so dass echte Wunsch- und Wahlrechte auf den
Besuch einer inklusiven Kindertagesstätte und einer allgemeinen Schule be-
stehen. Außerdem müssen Maßnahmen für barrierefreie Lernbedingungen,
Nachteilsausgleiche bzw. Assistenz getroffen werden. Bundesländer müssen
dafür sorgen, dass Studienordnungen den besonderen Bedürfnissen der
Studierenden mit Behinderung gerecht werden. Auch ein Masterabschluss
oder eine Promotion müssen Menschen mit Behinderung entsprechend den
geltenden allgemeinen Zulassungsregeln und der gesicherten Finanzierung
entsprechender Assistenzen offenstehen.

4. Um die Ansprüche zur gesundheitlichen Versorgung, die aus der UN-Behin-
dertenrechtskonvention erwachsen, zu verwirklichen, müssen qualitativ
hochwertige, barrierefreie und gemeindenahe Versorgungsangebote für alle
Menschen mit Behinderung geschaffen werden.

Unter der Beteiligung von Behinderten- und Patientenvertreterinnen und
- vertretern müssen das Gesundheitssystem barrierefrei und bedarfsgerecht
ausgestaltet, die Prävention vorangetrieben sowie die Hilfsmittelversorgung
verbessert werden. Es ist zu prüfen, wie der Auftrag des SGB IX, für mehr
Zusammenarbeit in der Leistungserbringung und für mehr Kooperation zwi-
schen den Leistungsträgern in der Rehabilitation zu sorgen, in der Praxis bes-
ser umgesetzt werden kann. Nach wie vor sind erhebliche Widerstände und
Umsetzungsdefizite auf Seiten verschiedener Rehabilitationsträger zu über-
winden. Hier sind Schnittstellenprobleme zu identifizieren und zu überwin-
den.

5. Um die „volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für
alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von
Behinderung zu gewährleisten und zu fördern“, muss das Allgemeine Gleich-
behandlungsgesetz europarechtskonform überarbeitet werden. Darüber hin-
aus soll die Bundesregierung ihre Blockadehaltung bezüglich der 5. Antidis-
kriminierungsrichtlinie der Europäischen Union beenden und sich für deren
zügige Verabschiedung einsetzen.

6. Es ist notwendig, intensiv zu untersuchen, inwiefern sich durch die Behinder-
tenrechtskonvention neue Anforderungen an die rechtlichen Regelungen und
die Praxis des deutschen Betreuungsrechts ergeben. Es ist darüber hinaus
Aufgabe von Wissenschaft und Politik, auf der Grundlage der UN-Behinder-
tenrechtskonvention Modelle rechtlicher Assistenz zu entwickeln. Vor dem
Hintergrund der Anforderungen aus der UN-Behindertenrechtskonvention
gehören sowohl die Rechtsanwendung, d. h. die Praxis zur Unterbringung
und Behandlung ohne Einverständnis oder gegen den Willen Betroffener auf
den Prüfstand, als auch die entsprechenden Regelungen im Bürgerlichen Ge-
setzbuch und in den Psychisch-Kranken-Gesetzen.

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7. Zur Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes müssen alle Menschen mit Be-
hinderung – unabhängig von der Art oder Schwere ihrer Behinderung – in
die Lage versetzt werden, selbst entscheiden zu können, in welcher Form sie
am Arbeitsleben teilhaben möchten. Sie müssen individuell gefördert und
bei Bedarf nach dem Prinzip des Nachteilsausgleichs dauerhaft unterstützt
werden. Dies muss auch in Form eines dauerhaften Minderleistungsausglei-
ches (Lohnkostenzuschuss) möglich sein sowie in Formen der unterstützten
Beschäftigung.

8. Damit Frauen mit Behinderung, die nicht selten einer Mehrfachdiskriminie-
rung unterliegen, das gleiche Recht auf die freie Entfaltung ihrer Persönlich-
keit und einer persönlichen Entwicklung in privaten wie in beruflichen Be-
reichen ausüben können, bedarf es einer vollständigen und konsequenten
Ausrichtung der Politik an den Prinzipien von Gender Mainstreaming. Es ist
Aufgabe von Politik und Gesellschaft darauf zu achten, dass dieses als
hoher Standard eingehalten und geschützt wird. Nur so kann den Anforde-
rungen aus Artikel 6 der UN-Behindertenrechtskonvention nachgekommen
werden.

9. Um Barrierefreiheit herstellen und somit den Anforderungen aus Artikel 9
der UN-Behindertenrechtskonvention nachkommen zu können, bedarf es
gesetzlicher Fristen zur Herstellung von Barrierefreiheit und einer Stärkung
der Verbände im Rahmen des BGG. Darüber hinaus bedarf es weiterer
Forschung in den Bereichen assistiver – d. h. individuell angepasster, assis-
tierender – und allgemeiner Technologie. So müssen sowohl die Anstren-
gungen und Bemühungen in den Bereichen, die den Individuen direkt zuzu-
ordnen sind, und bei der Schädigung von Körperfunktionen oder - strukturen
ansetzen als auch im Sinne des „Universal Designs“ in den Bereichen der
Gestaltung von Produkten, Dienstleistungen und Umgebungen verstärkt
werden. Dies gilt explizit auch für die barrierefreie Informations- und Kom-
munikationstechnologie.

10. Es muss gesetzlich ausgeschlossen werden, dass Menschen mit Behinde-
rung gegen ihren Willen in eine bestimmte Wohneinrichtung kommen kön-
nen. Der Gesetzgeber muss seine rechtlichen Normen klar ordnen, um Arti-
kel 19 der UN-Behindertenrechtskonvention nach einem selbstbestimmten
Leben Geltung zu verschaffen. Obwohl in § 9 Absatz 1 SGB IX das
Wunsch- und Wahlrecht bei der Entscheidung über Leistungen und bei der
Ausführung von Leistungen zur Teilhabe festgeschrieben ist, wird es von
den Kostenträgern mit Hilfe einer konkurrierenden Norm, dem so genann-
ten Mehrkostenvorbehalt (§ 13 Absatz 1 Satz 3 SGB XII) vielfach effektiv
ausgehebelt. Im Ergebnis bestimmt der Sozialhilfeträger und nicht der
Mensch mit Unterstützungsbedarf den Wohn- und Lebensort.

11. Im Rahmen der Umsetzung der Konvention ist zu prüfen, ob die einschlägi-
gen Bestimmungen mit dem Recht auf Teilhabe am politischen und öf-
fentlichen Leben in Einklang stehen. Artikel 29 der UN-Behindertenrechts-
konvention verpflichtet die Vertragsstaaten, Menschen mit Behinderungen
politische Rechte sowie die Möglichkeit zu garantieren, diese gleichberech-
tigt mit anderen auszuüben. Dies gilt unmittelbar oder durch frei gewählte
Vertreterinnen und Vertreter. Das schließt auch das Recht und die Möglich-
keit ein, zu wählen und gewählt zu werden. Problematisch erscheint unter
diesen Vorgaben der gänzliche Ausschluss vom Wahlrecht bei einigen ge-
setzlich Betreuten, für die eine Betreuung in allen Angelegenheiten bestellt
ist (§ 13 Absatz 2 des Bundeswahlgesetzes).

12. Die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung sind stärker in die Ent-
wicklungszusammenarbeit und in die Sicherheitspolitik einzubeziehen.

Probleme von Menschen mit Behinderung sollen stärker bei der Erstellung
von Armutsstrategien (Poverty Reduction Strategy Papers) berücksichtigt

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werden. Bei Regierungsverhandlungen, die sich mit Fragen des Aufbaus so-
zialer Sicherungssysteme befassen, müssen die Belange behinderter Men-
schen integriert werden. Die Beratungsangebote von Nichtregierungsorga-
nisationen und der Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit sollen auf
diesem Gebiet ausgebaut und finanziell besser ausgestattet werden.

Das Entstehen von Behinderungen muss präventiv unter anderem durch die
Sicherheitspolitik angegangen werden. Friedenssicherung und Abrüstung
sollen Konflikte und deren Folgen für die Zivilbevölkerung schon im Vor-
feld verhindern, denn sie verursachen einen Großteil der Behinderungen. In
diesem Sinne ist auch weiterhin ein umfassendes Gesetz zum Verbot von
Streumunition geboten.

Berlin, den 18. Mai 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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