BT-Drucksache 17/1578

Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlegen

Vom 4. Mai 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1578
17. Wahlperiode 04. 05. 2010

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm,
Dr. Rosemarie Hein, Ulla Jelpke, Jan Korte, Dr. Gesine Lötzsch, Cornelia Möhring,
Wolfgang Neskovic, Petra Pau, Jens Petermann, Raju Sharma, Kathrin Senger-
Schäfer, Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg
und der Fraktion DIE LINKE.

Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen vorlegen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Nach 30 Jahren Engagement der internationalen Behindertenbewegung entstand
die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK), die für Deutschland am 26. März
2009 völkerrechtlich verbindlich wurde.

Ziel der Konvention ist die volle und gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen
mit sichtbaren und/oder nicht sichtbaren Behinderungen. Dies setzt die unein-
geschränkte Geltung aller Menschen- und Bürgerrechte auch für Frauen und
Männer mit Behinderungen voraus. Die BRK begründet eine Abkehr vom
primären Ansatz der Fürsorge und der Definition vermeintlicher Defizite.

Behinderung wird in der Konvention als Wechselwirkung zwischen Menschen
mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren defi-
niert. Damit ist Behinderung nicht mehr als ein natürliches Faktum zu betrach-
ten, sondern als ein Resultat gesellschaftlichen Handelns (sozial konstruiert) zu
verstehen. Die aus vermeintlichen „Defiziten“ erwachsenden Behinderungen
sind demnach gesellschaftlich produziert, weshalb sie auch von Menschen selbst
beseitigt bzw. ausgeglichen werden können und müssen. Weil Beeinträchtigun-
gen somit als sozial konstruiert anerkannt werden, sind sie als strukturelles Un-
recht zu identifizieren.

Die Konvention hat das Potential, das Leben von Menschen mit und ohne
Behinderungen positiv zu verändern: mehr Teilhabe und freiere Persönlich-
keitsentfaltung durch Barrierenbeseitigung, Schaffung diskriminierungsfreier
Verhältnisse sowie das Verständnis von Vielfalt als Bereicherung.

Die Präambel betont, dass die Bedeutung in der Anerkennung des wertvollen
Beitrags liegt, den Menschen mit Behinderungen zum allgemeinen Wohl und

zur Vielfalt ihrer Gemeinschaft leisten. Eine Gesellschaft, die den Fähigkeiten
von Menschen mit Behinderungen Raum gibt und Aufmerksamkeit widmet, er-
fährt einen Zugewinn an Humanität und kultureller Vielfalt. Eine inklusive Ge-
sellschaft, wie sie in der BRK entworfen wird, integriert nicht, sondern schließt
Behinderung von vornherein als Bestandteil menschlichen Lebens mit ein. Es
geht um das „Sosein“, nicht um das „Anderssein“. Es geht um individuelle Frei-
heit jenseits von Normierung. Es geht um Ermöglichung statt Kompensierung.

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Menschen mit Behinderungen sind in Deutschland benachteiligt und werden
diskriminiert, wie statistische Angaben zur Situation von Menschen mit Behin-
derungen aufzeigen. Mit der Ratifizierung der BRK wird Teilhabe von Men-
schen mit Behinderungen jedoch als Menschenrecht anerkannt. Aus dieser Situ-
ation heraus ist die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention umgehend
in Angriff zu nehmen. Bei der Umsetzung handelt es sich um einen langwierigen
Prozess auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene sowie in allen gesellschaft-
lichen Bereichen. Als erster Schritt muss daher zunächst ein nationaler Aktions-
plan, wie in der Konvention gefordert, erstellt werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bis zum 30. November 2010 einen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Kon-
vention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorzulegen, der

1. folgende formale und prozessuale Anforderungen erfüllt:

● Die Struktur ist klar, systematisch und logisch gemäß dem „Handbook on
National Human Rights Plans of Action“ (2002: vgl. S. 7 bis 11; 72 ff.) zu
gestalten.

● Frauen und Männer mit Behinderungen, einschließlich Kinder, sowie die sie
vertretenden Organisationen werden in alle Phasen der Erarbeitung ver-
antwortlich einbezogen. Ihnen werden reale Partizipations-, Einfluss- und
Gestaltungsmöglichkeiten eingeräumt.

● Es werden kurz-, mittel- und langfristig zu erreichende Ziele benannt.

● Klare Verantwortlichkeiten im Bund, den Ländern und Kommunen sowie zu
beteiligende zivilgesellschaftliche Gruppen werden festgelegt.

● Die für die Umsetzung notwendigen Ressourcen werden zugeteilt und in die
kommenden Haushaltsplanungen verbindlich eingebunden.

● Die Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen wird als Quer-
schnittsaufgabe aufgefasst, die weit über sozialpolitische Fragen hinausgeht.

● Evaluierungs- und Monitoringmechanismen werden für Bund, Länder und
Kommunen festgelegt.

● Eine umfassende Berichterstattung an den UN-Ausschuss für die Rechte von
Menschen mit Behinderungen gemäß Artikel 35 BRK wird vorgesehen.

● Für die Nichterfüllung von Umsetzungszielen sind Sanktionsmaßnahmen
vorzusehen;

2. folgende inhaltliche Anforderungen (die Reihenfolge hier ist keine priorisie-
rende Rangfolge) umfasst:

Begrifflichkeiten

Behinderung wird gemäß BRK (vgl. Präambel, Buchstabe e) als Wechselwir-
kung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und um-
weltbedingten Barrieren verstanden. Erst diese Wechselwirkungen bringen Be-
hinderungen hervor. Auch chronische Erkrankungen sind darunter zu fassen.
Dieser Behinderungsbegriff muss in alle bestehenden und künftigen Gesetze
Eingang finden. Der in der Konvention verwendete Begriff der „Inklusion“
muss für die deutsche Rechtsordnung diskutiert und erschlossen werden. Behin-
dertenpolitik ist als Menschenrechtsthema aufzufassen.

Bewusstseinsbildung

Es sind geeignete Maßnahmen, die über den Charakter von Imagekampagnen

hinausgehen, zu entwickeln (vgl. Artikel 8 BRK). Bewusstseinsbildungspro-
zesse sind für viele weitere Vorhaben zugleich Voraussetzung und Begleitmaß-

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1578

nahme. Die unterschiedlichen Maßnahmen müssen langfristig, zielgruppen-
orientiert und effektiv angelegt werden. Im politischen Prozess wird das Instru-
ment des „disability mainstreaming“ installiert. Vorbehalte zwischen Menschen
mit und ohne Behinderungen sind beiderseitig vorhanden und zur Kenntnis zu
nehmen. Diese sind als Barrieren zu identifizieren.

Diskriminierungsschutz

Ein menschenrechtlicher Diskriminierungsschutz wird für alle Lebensbereiche
vorgesehen (vgl. Artikel 5 BRK „Gleichberechtigung und Nichtdiskriminie-
rung“). Um diesen Schutz zu gewährleisten, insbesondere auch außerhalb des
Erwerbsarbeitsmarktes, muss die Bundesregierung die EU-Antidiskriminie-
rungsrichtlinie vom Juli 2008 unterstützen.

Zum Beispiel können nach geltendem Recht Menschen mit psychischen Erkran-
kungen bei Selbstgefährdung in ihrer Freiheit eingeschränkt bzw. gegen ihren
Willen behandelt werden. Dies stellt eine Diskriminierung gegenüber Menschen
ohne psychische Erkrankungen dar und eröffnet Möglichkeiten des Miss-
brauchs. Seitens Bund und Ländern gilt es, Wege aufzuzeigen und Zeitpläne zu
definieren, um Diskriminierungen zu überwinden und Missbrauch auszuschlie-
ßen.

Teilhabesicherung

Hierfür müssen einkommens- und vermögensunabhängige Regelungen getrof-
fen werden, die ein selbstbestimmtes Leben von Menschen mit Behinderungen
sichern. Kern der Leistungserbringung sollte eine bedarfsgerechte persönliche
Assistenz in allen Lebenslagen und -phasen sowie gesellschaftlichen Bereichen
sein (vgl. die Artikel 19, 29, 30 BRK). Die konkrete Ausgestaltung der Leis-
tungserbringung ist zu diskutieren, insbesondere ob die Leistungserbringung aus
einer Hand erfolgen sollte, für die als eine Form ein optimiertes Persönliches
Budget in Frage käme oder alternativ die individuellen Bedarfe durch den
Ausbau der sozialen Infrastruktur gesichert werden. Denkbar wäre auch eine
Kombination beider Maßnahmen. Die Anspruchsherleitung muss nach dem
Finalitätsprinzip erfolgen, d. h. ausgehend vom aktuellen Status der Behinde-
rung anstatt von ihrer Ursache und dem entsprechenden behinderungsbedingten
Bedarf.

Inklusives Bildungssystem

Bund und Länder sollten zügig Maßnahmen ergreifen, um von der Kindertages-
betreuung über die Schule und die Berufsbildung bis zur Hochschule, ein-
schließlich der Weiterbildung und des lebenslangen Lernens, ein inklusives Bil-
dungssystem zu schaffen, in dem Menschen mit und ohne Behinderungen
gemeinsam lernen und individuell gefördert werden (Artikel 24 BRK). Gemein-
schaftsschulen sollten als Ganztagsschulen ein Lebens- und Erfahrungsraum für
alle Kinder und Jugendlichen sein, der vielfältige Begegnungen, Anregungen,
Dialoge und das Lernen miteinander wie nebeneinander ermöglicht. Sie ver-
bieten Kategorisierungen, Etikettierungen, Stigmatisierung und Ausgrenzung
von Kindern und begreifen Vielfalt als wünschenswert und produktiv. Das
Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern nach Artikel 104b des Grund-
gesetzes (GG) muss aufgehoben und eine grundgesetzliche Grundlage dafür
muss geschaffen werden, dass der Bund seine Verantwortung für die Herstellung
von Chancengleichheit im Bildungssystem wahrnehmen kann.

Umfassende Barrierefreiheit

Die Beseitigung von Barrieren aller Art ist eine der Grundvoraussetzungen für

das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen mit und ohne Beeinträch-
tigungen. Daher ist als eine Sofortmaßnahme die Vermeidung der Errichtung

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neuer (baulicher, kommunikativer, kognitiver oder sonstiger) Barrieren festzu-
schreiben. Das geltende Recht bietet dafür Ansätze. Was ihm bisher fehlt, sind
spürbare Sanktionen bei Zuwiderhandlung. Parallel zur Barrierenvermeidung
muss die Beseitigung bestehender Barrieren energischer vorangetrieben werden.
Hierfür können sowohl gesetzgeberische Maßnahmen als auch Sonderpro-
gramme, Fördermöglichkeiten und sonstige geeignete Maßnahmen festgeschrie-
ben wie auch (Übergangs-)Fristen festgelegt werden. (Artikel 3 Buchstabe f,
Artikel 9, 20 BRK). Das „universelle Design“ (Artikel 2 Absatz 6 BRK) wird
zum gestalterischen Grundprinzip erklärt.

Berufliche Teilhabe

Ziel muss die gleichberechtigte berufliche Teilhabe (Artikel 27 BRK „Arbeit
und Beschäftigung“) sein und dabei vor allem das Recht auf die Möglichkeit,
durch Erwerbsarbeit ein existenzsicherndes Einkommen in und außerhalb von
Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zu erzielen.

Selbstbestimmtes Wohnen

Selbstbestimmtes Wohnen mitten in der Gemeinde (Artikel 19, 22, 23 BRK) ist
zu fördern. Menschen mit Behinderungen muss die freie Wahl der Wohnform
ohne Wirtschaftlichkeitsnachweis oder Zumutbarkeitsprüfung ermöglicht wer-
den. Der Kostenvorbehalt, wie er in den Leistungen der Eingliederungshilfe
vorgesehen ist (§ 9 Absatz 2 SGB XII), wird abgeschafft. Im Falle einer ange-
dachten Neufassung der Heimgesetze, die in Landeshoheit gestaltet werden,
sind allgemeingültige Rahmenvorgaben zu finden. Parallel dazu sind ambulante
Unterstützungsdienste flächendeckend zu ermöglichen.

Selbstvertretungsanspruch

Den Betroffenen und ihren Selbsthilfeorganisationen ist ein sehr hoher Stellen-
wert einzuräumen (Artikel 4 Absatz 3, Artikel 33 BRK). Es ist also festzulegen,
in welcher Weise Betroffenenverbände ihren Sachverstand verbindlich und
institutionell abgesichert regelmäßig in jedwede sie betreffende Entscheidungs-
vorbereitung, Entscheidungsfindung und Entscheidung sowie die anschließende
Umsetzung bzw. Ausführung einbringen können. Diese Festlegung muss für alle
staatlichen Institutionen gelten, darüber hinaus aber auch in gesellschaftlichen
Bereichen (Parteien, Vereine, Gewerkschaften, städtebauliche Planungen, sport-
liche oder touristische Infrastruktur usw.) wirken. Dies betrifft auch die spätere
Umsetzungs- und Überwachungsphase.

Geeignete Statistik

Zur Erarbeitung einer geeigneten Statistik (Artikel 31 BRK „Statistik und Daten-
sammlung“) ist die Einrichtung einer interdisziplinär arbeitenden Arbeitsgruppe
unter Beteiligung von Betroffenenverbänden, Ministerien, Universitäten, dem
Statistischen Bundesamt sowie den statistischen Landesämtern vorzusehen. Die
Daten müssen geschlechtsspezifisch weiter ausdifferenziert werden und barrie-
refrei zugänglich sein. Die Lebenssituation von Menschen mit Behinderungen
mit ihren spezifischen Problemlagen wird anhand dieser Informationen sichtbar
gemacht.

Gesundheit

Es ist aufzuzeigen, wie ein inklusives Gesundheitssystem realisiert werden kann
und welche Akteure dafür in erster Linie verantwortlich sind. Das Ziel muss eine
adäquate sowie nicht diskriminierende Gesundheitsversorgung sein (vgl. Arti-
kel 25 BRK – „Gesundheit“). Dafür müssen Maßnahmen entwickelt werden, die

barrierefreie und gemeindenahe Versorgungsangebote sowie eine bedarfs-
gerechte Heil- und Hilfsmittelversorgung ermöglichen. Die Finanzierung dieser

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1578

vielfältigen Bedarfe wäre mit einer solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerver-
sicherung am besten gesichert.

Frauen mit Behinderungen

Hinsichtlich ihrer spezifischen Bedürfnisse aufgrund ihrer Mehrfachdiskrimi-
nierung sind Frauen mit Behinderungen (Artikel 6 BRK) entsprechend der
bereits bestehenden Verpflichtung der Bundesregierung zur Anwendung des
„gender mainstreaming“ besonders zu berücksichtigen. Es werden Maßnahmen
formuliert, die ihrer Mehrfachdiskriminierung entgegenwirken.

Armut und Behinderung

In einer inklusiven Gesellschaft wäre die Koppelung Behinderung und Armut
aufgelöst. Das Armutsrisiko würde zwar für alle Menschen gleichermaßen
bestehen, wäre insgesamt aber wesentlich verringert. Es bedarf strategischer
Anstrengungen, um die in Artikel 28 BRK „Angemessener Lebensstandard und
sozialer Schutz“ verbrieften Rechte zu gewährleisten. Besonderes Augenmerk
muss dabei auf spezifische Bedarfe gelegt werden, die aufgrund von vielfältigen
Erscheinungen entstehen können und im Sinne eines Nachteilsausgleichs seitens
des Staates gedeckt werden müssen.

Berlin, den 4. Mai 2010

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Die Terminsetzung zum 30. November 2010 ist durch zwei Eckpunkte begrün-
det. Erstens soll der Aktionsplan gründlich vorbereitet sein. Das ihn erarbeitende
Gremium benötigt einen gewissen Zeitraum dafür. Zweitens sollte aber auch
feststehen, wann die Konzeption ausgearbeitet vorliegt. Wenn der Plan bis spä-
testens Ende November 2010 vorliegt, kann er am Welttag der Menschen mit
Behinderungen (3. Dezember) öffentlich gewürdigt bzw. kritisch bewertet wer-
den, sowohl vom Deutschen Bundestag als auch von den Selbsthilfeorganisa-
tionen der Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen.

Zu Abschnitt II Nummer 1

Nach Artikel 33 BRK „Innerstaatliche Durchführung und Überwachung“ wurde
auf nationaler Ebene das Deutsche Institut für Menschenrechte für die För-
derung, den Schutz und die Überwachung des Übereinkommens mandatiert.
Gleiches ist angesichts der föderalen Strukturen der Bundesrepublik Deutsch-
land mit geteilten politischen Verantwortungsbereichen für die Landesebene
nachzuholen. Daneben sind Koordinierungsmechanismen einzurichten sowie
sogenannte focal points, also staatliche Anlaufstellen für Angelegenheiten im
Zusammenhang mit der Durchführung dieses Übereinkommens.

Die nationale Monitoringstelle zur Umsetzung der BRK weist darauf hin, dass
Erfahrungen in anderen Ländern zeigen, dass die systematische und kohärente
Umsetzung menschenrechtlicher Übereinkommen begünstigt wird, wenn die
staatlichen Akteure planerisch und im engen Austausch mit den Betroffenen
vorgehen. Ein nationaler Aktionsplan sieht dies vor. Für die Entwicklung und
Durchführung einer nationalen Strategie ist zentral, dass diese Prozesse trans-

parent ablaufen und Menschen mit Behinderungen und die sie vertretenden
Organisationen verantwortlich einbezogen werden. Ausdrückliches Ziel solcher

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Mechanismen ist ein nichtkonfrontativer Prozess der gemeinsamen Umsetzung
unter Einbezug aller Beteiligten.

Bisher betrachtet die deutsche Politik das Feld der Behindertenpolitik vorwie-
gend als ein sozialpolitisches, gelegentlich auch nur als gesundheitspolitisches
Thema. Dem muss entgegengewirkt werden, da im Sinne eines „disability main-
streamings“ jegliche Politikprozesse im Hinblick auf die Auswirkungen auf
Menschen mit Behinderungen befragt werden sollten. Behindertenpolitik ist ein
Querschnittsthema, das alle Politikfelder betrifft und aus der Menschen- und
Bürgerrechtsperspektive zu bearbeiten ist.

Zu Abschnitt II Nummer 2

Zum 31. Dezember 2007 waren in Deutschland laut Statistischem Bundesamt
insgesamt rund 6,9 Millionen schwerbehinderte Menschen registriert (vgl. Mi-
kroszensus 2005). Menschen mit Behinderungen mit einem Behinderungsgrad
von unter 50 Prozent werden im Mikrozensus nicht erfasst. Die Zahl der Men-
schen mit Behinderungen insgesamt wird aktuell auf ca. 8,6 Millionen geschätzt;
das entspricht 10,5 Prozent der Bevölkerung (vgl. Mikrozensus 2005).

Der Konvention liegt ein Verständnis von Behinderung zugrunde, das auch
durch soziale Problemlagen definiert ist:

Behinderungen sind in Deutschland ein Armutsrisiko. Menschen mit Schwer-
behinderungen sind mit einer Arbeitslosenquote von 14,9 Prozent häufiger
arbeitslos als Menschen ohne Behinderungen (Bundesagentur für Arbeit – BA –,
September 2009). Mindestens die Hälfte der beschäftigungspflichtigen Arbeit-
geberinnen und Arbeitgeber erfüllen ihre Pflichtquote nicht im vollen Umfang.
Der Durchschnittsverdienst einer/eines Werkstattbeschäftigten liegt bei 159 Euro
(2008) (vgl. www.bagwfbm.de).

Von 52 009 Jugendlichen mit Behinderungen, die sich 2008 in Ausbildung be-
fanden, wurden lediglich 14 293 in anerkannten Ausbildungsberufen ausgebil-
det. Die anderen starten ihr Berufsleben entweder in einer Werkerausbildung
oder in einer außerbetrieblichen Ausbildung im Rahmen des „Benachteiligungs-
programms“ der BA nach § 240 SGB III (vgl. Berufsbildungsbericht 2009,
S. 18 ff., Bundestagsdrucksache 16/16640).

Lernende mit Behinderungen werden zu 84 Prozent in Sonderschulen (soge-
nannte Förderschulen) unterrichtet, obwohl sowohl das Bundesgleichstellungs-
gesetz (BGG) von 2002 Barrierefreiheit an Schulen und § 2 Absatz 1 des Allge-
meinen Gleichstellungsgesetzes (AGG) einen diskriminierungsfreien Zugang
zur Bildung für alle fordern (vgl. Nationaler Bildungsbericht 2008, Bundestags-
drucksache 16/10206). Deutschland ist damit eines der Schlusslichter in Europa.

Anspruch und Wirklichkeit fallen im deutschen Behindertenrecht nicht nur im
Bereich Bildung auseinander. Das Benachteiligungsverbot für Menschen mit
Behinderungen nach Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 GG ist nach objektiven Maß-
stäben, wie es die genannten statistischen Eckdaten aufzeigen, nicht verwirk-
licht. Deshalb besteht dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf zur Um-
setzung der BRK auf Bundes- und Länderebene.

Bewusstseinsbildung soll in dem Aktionsplan einen wichtigen Stellenwert ein-
nehmen, da sie notwendig ist, um den Willen zu Veränderungen zu befördern.
Dabei muss stets deutlich werden, dass die Umsetzung der Konvention allen
nützt und keine Klientelpolitik darstellt. Die bewusstseinsbildenden Maß-
nahmen sollen den praktischen Umsetzungsprozess nicht ersetzen, aber im
Sinne eines Katalysators begleiten. Wir brauchen alle „Einfühlchancen“ in die
jeweilig anderen.
Die Konvention entwickelt einen Diskriminierungsschutz mit Blick auf eine in-
klusive und damit barrierefreie Gesellschaft weiter und stuft die Verweigerung

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angemessener Vorkehrungen als Diskriminierung ein. Die BRK fordert die An-
erkennung der wertvollen – bestehenden und potentiellen – Beiträge ein, die
Menschen mit Behinderungen für eine insgesamt positive Entwicklung erbrin-
gen.

Nach der BRK ist der Wert der menschlichen Vielfalt zu achten. In allen gesell-
schaftlichen Bereichen soll Behinderung als Bestandteil menschlichen Zusam-
menlebens verstanden und anerkannt werden. Mit den Begriffen der Inklusion
und der uneingeschränkten Teilhabe geht die Konvention über die im deutschen
Recht verwendeten Termini hinaus.

Deshalb sollen z. B. Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam lernen
können. Die Konvention verlangt in Artikel 24 „Bildung“ die Gewährleistung
eines inklusiven Bildungssystems. Einem aktuellen Gutachten von Prof. Dr.
Eibe Riedel zufolge besteht bereits schon jetzt, nach Inkrafttreten der Konven-
tion, das Recht auf diskriminierungsfreien Zugang zum System der Regelschule
(vgl. Riedel 2010, S. 49 bis 55). Die Bundesregierung ist verpflichtet, die ent-
sprechenden Vorkehrungen zu treffen. Die Aufnahme von Kindern an einer „all-
gemeinen“ Schule muss in den Landesschulgesetzen unverzüglich als Rechtsan-
spruch gesetzlich festgeschrieben werden. Hinderliche Kostenvorbehalte
müssen abgeschafft werden, damit nicht aus Kostengründen Schülerinnen und
Schüler gezwungen werden, ihr Dasein in „Sondereinrichtungen“ zu fristen.
Längerfristig ist das Ziel ins Auge zu fassen, das Sonderschulsystem überflüssig
zu machen. Individuelle Förderung muss zum „Normalfall“ werden.

Die BRK geht davon aus, dass Betroffene als Expertinnen und Experten in eige-
ner Sache nicht nur (gruppen-)egoistische Sonderinteressen vertreten, sondern
dem Nutzen-für-alle-Prinzip folgend, Lösungsvorschläge bzw. Konzepte unter-
breiten, die weit über den engen Kreis der unmittelbar Profitierenden hinaus
großen Nutzen stiften.

Es geht um das „Sosein“, nicht um das „Anderssein“. Es geht um individuelle
Freiheit jenseits von Normierung. Es geht um Ermöglichung statt Kompen-
sierung.

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