BT-Drucksache 17/12902

Rückwirkende Auszahlung von Ghetto-Renten

Vom 18. März 2013


Deutscher Bundestag Drucksache 17/12902
17. Wahlperiode 18. 03. 2013

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Volker Beck (Köln),
Jerzy Montag, Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Brigitte Pothmer,
Birgitt Bender, Katrin Göring-Eckardt, Britta Haßelmann, Sven-Christian Kindler,
Maria Klein-Schmeink, Dr. Tobias Lindner, Elisabeth Scharfenberg,
Beate Walter-Rosenheimer und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rückwirkende Auszahlung von Ghetto-Renten

Durch das im Jahr 2002 verabschiedete Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten
aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) ist die Anerkennung der von den
Opfern nationalsozialistischer Zwangsherrschaft in den Ghettos erbrachten
Arbeitsleistung nicht im Rahmen einer Entschädigungsleistung, sondern als
Rentenleistung geregelt worden. Hintergrund ist die Rechtsprechung des Bun-
dessozialgerichts (BSG) aus dem Jahr 1997, nach der für eine Beschäftigung im
Ghetto Lodz unter bestimmten Voraussetzungen Beitragszeiten zur gesetzlichen
Rentenversicherung vorliegen.

Dies sollte nach dem Willen des Gesetzgebers für alle in den Ghettos Beschäf-
tigten gelten und eine Rentenzahlung ab Juli 1997 ermöglichen. Bei der Umset-
zung des ZRBG ist es zu verschiedenen Auslegungen der von der Gesetzgebung
verabschiedeten Regelungen seitens der Rentenversicherungsträger und der
Sozialgerichtsbarkeit gekommen, die erst im Juni 2009 endgültig für rechtswid-
rig erklärt wurden. Nach diesem Urteil hat die Deutsche Rentenversicherung
sämtliche bis dahin abgelehnten Fälle erneut überprüft. Von 26 186 Fällen sind
daraufhin 23 818 positiv beschieden worden. Diese erhielten ihre Rente jedoch
nicht rückwirkend zum Jahr 1997, sondern nur rückwirkend ab dem Jahr 2005.
Die Bundesregierung erklärt dies mit der im allgemeinen Sozialrecht geltenden
Rückwirkung von maximal vier Jahren. Nach Urteilen des BSG vom 7. und
8. Februar 2012 wurde diese Haltung bestätigt. Von diesen Entscheidungen sind
etwa 22 000 noch lebende NS-Opfer betroffen.

Letztlich ist der Umstand, dass die meisten nach dem ZRBG Berechtigten erst
ab 2005 eine Rentenleistung erhalten können, auf die rückwirkend betrachtet
rechtswidrige Rechtsauslegung der Tatbestandsmerkmale des ZRBG zurück-
zuführen. Eine von der heutigen Rechtslage abweichende Anerkennung der
Rentenbezugszeiten bereits von 1997 an könnte nur durch eine erneute gesetz-

liche Regelung erfolgen.

Drucksache 17/12902 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie hoch wären die Rentennachzahlung und die laufende Rente bei einer
Rentenbewilligung im März 2013 auf Grundlage des ZRBG, je nachdem ob
die Rente am 1. Januar 2005 oder am 1. Januar 1997 beginnt für folgende Be-
troffene:

a) für eine Versicherte, verwitwet, Geburtsdatum 30. Juni 1923, die seit dem
23. November 1939 den Judenstern tragen musste, als Hilfsarbeiterin in
der Emaillenwarenfabrik im Ghetto Krakau (Ghettobeitragszeit vom
21. März 1941 bis 14. März 1943) arbeitete, danach in mehrere Konzen-
trationslager deportiert wurde und sich nach der Befreiung im Mai 1945
in einem westdeutschem DP-Lager bis zur Ausreise im September 1946
aufhalten musste und bei der außer Ersatzzeiten keine weiteren renten-
rechtlichen Zeiten nachgewiesen werden konnten,

b) für einen Versicherten mit Geburtsdatum 30. Juni 1931, der Februar 1940
im Ghetto Lodz inhaftiert und ab September 1942 dort als Hilfsarbeiter in
einer Textilfabrik gearbeitet hat (Ghettobeitragszeit vom 1. September
1942 bis 30. Juli 1944), danach ins Konzentrationslager Auschwitz depor-
tiert wurde und sich nach der Befreiung im Januar 1945 in einem west-
deutschen DP-Lager bis zu seiner Ausreise im Mai 1946 aufhalten musste
und bei dem außer Ersatzzeiten keine weiteren rentenrechtlichen Zeiten
nachgewiesen werden konnten,

c) für die Witwe (Jahrgang 1929) eines Versicherten (Geburtsdatum 30. Juni
1928; verstorben am 1. Juli 1997), der im Ghetto Theresienstadt als Ge-
hilfe in der Landwirtschaft arbeitete (Ghettobeitragszeit vom 24. Novem-
ber 1941 bis 8. Mai 1945), sich nach der Befreiung bis zur Ausreise im
August 1946 in einem westdeutschem DP-Lager aufhalten musste und bei
dem außer Ersatzzeiten keine weiteren rentenrechtlichen Zeiten nachge-
wiesen werden konnten?

2. Wie würde sich bei einer rückwirkenden Zahlung von Renten nach dem
ZRBG ab 1997 der Zugangsfaktor für Witwen- und Witwerrenten verändern?

3. Von wie vielen noch lebenden Anspruchsberechtigten geht die Bundesregie-
rung aus, wenn die Zahlbarmachung zum 1. März 2013 erfolgt und die Zah-
lungen rückwirkend zum 1. Juli 1997 vorgenommen werden?

Welche Lebenserwartung unterstellt die Bundesregierung für ihre Berech-
nungen?

4. In welcher Höhe belaufen sich jährlich die Aufwendungen für die Bundes-
republik Deutschland für die Zahlbarmachung von Ghetto-Renten rückwir-
kend seit dem Jahr 1997 (bitte jedes Jahr einzeln aufführen)?

5. Wie viele Betroffene bekommen aufgrund eines in Israel bis zum 30. Juni
2003 gestellten Rentenantrages im Rahmen des Deutsch-Israelischen Sozial-
versicherungsabkommens eine ZRBG-Rente nach der Entscheidung des
Bundessozialgerichtes vom 19. April 2011 (B 13 R 20/10 R)?

6. Wie viele Betroffene, die mit dem Formular ZRBG 930 über den Antrag auf
Neufeststellung ihrer Rente nach ZRBG informiert wurden, haben in Formu-
lar ZRBG 931 einer Neufeststellung zugestimmt, und wie viele haben sie in
Formular ZRBG 931 abgelehnt (bitte mit Geburtsjahrgängen ausweisen)?

7. Was spricht nach Auffassung der Bundesregierung dagegen, im Falle einer
rentenrechtlichen Lösung zur rückwirkenden Zahlbarmachung von Renten
aus der Beschäftigung in einem Ghetto ab dem Jahr 1997 in der Verwaltungs-
praxis auf die Formblätter ZRBG 930 und ZRBG 931 zurückzugreifen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/12902

8. Kennt das Rentenrecht Ausnahmen von der Anwendung der Vierjahresfrist
aus § 44 Absatz 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X)?

Wenn ja, welche, und unter welchen Voraussetzungen?

9. Welche Schlussfolgerungen und Konsequenzen zieht die Bundesregierung
aus dem vom Vizepräsidenten der Dachorganisationen der Holocaustüber-
lebenden Israels, Uri Chanoch, der selbst Überlebender und ehemaliger
Ghettoarbeiter ist, vorgetragene Anliegen der Betroffenen, dass sie die
rückwirkende Zahlung ab dem Jahr 1997 wollen?

10. Hat die Bundesregierung inzwischen eine Verständigung in der Frage her-
beigeführt, ob die Bundesregierung in dieser Legislaturperiode noch einen
Lösungsvorschlag in der Frage der rückwirkenden Zahlbarmachung von
ZRBG-Renten vorlegen wird, nachdem in der Mündlichen Fragestunde der
224. Sitzung des Deutschen Bundestages am Mittwoch den 27. Februar
2013 der Parlamentarische Staatssekretär des Bundesministeriums für Ar-
beit und Soziales (BMAS), Dr. Ralf Brausksiepe, dem Parlament keine
Auskunft auf die Frage erteilen konnte, und wenn ja, wird die Bundesregie-
rung einen Vorschlag vorlegen?

Wenn ja, welches Vorgehen wird mehrheitlich von der Bundesregierung be-
vorzugt, und wann ist mit einem Gesetzentwurf zu rechnen?

11. Welche Regierungsstellen sind in den Konsultationsprozess zur Lösung der
Ghettorentenfrage involviert?

12. Wie ist die Auffassung des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) in der
Frage der rückwirkenden Zahlbarmachung von Ghetto-Renten?

a) Sieht man im BMF nach der Öffentlichen Anhörung im Deutschen
Bundestag am 10. Dezember 2012 die Notwendigkeit, in der Frage der
Ghetto-Renten gesetzgeberisch oder anderweitig tätig zu werden, um
eine rechtliche und politische Lösung zugunsten der noch lebenden
Ghettoarbeiterinnen/Ghettoarbeitern herbeizuführen?

b) Welche Vor- bzw. Nachteile hätten nach Auffassung des BMF sowohl
die rentenrechtliche Lösung als auch die Entschädigungslösung?

c) Gibt es im BMF eine Präferenz für eine der beiden Lösungen?

Wenn ja, welche und warum?

Wenn nein, warum nicht?

d) Liegen dem BMF Abschätzungen über die Höhe der Kosten der rückwir-
kenden Zahlung von Renten nach dem ZRBG ab 1997 vor?

13. Wie ist die Auffassung des BMAS in der Frage der rückwirkenden Zahlbar-
machung von Ghetto-Renten?

a) Sieht man im BMAS nach der Öffentlichen Anhörung im Deutschen
Bundestag am 10. Dezember 2012 die Notwendigkeit, in der Frage der
Ghetto-Renten gesetzgeberisch oder anderweitig tätig zu werden, um
eine rechtliche und politische Lösung zugunsten der noch lebenden
Ghettoarbeiterinnen/Ghettoarbeitern herbeizuführen?

b) Welche Vor- bzw. Nachteile hätten nach Auffassung des BMAS sowohl
die rentenrechtliche Lösung als auch die Entschädigungslösung?

c) Gibt es im BMAS eine Präferenz für eine der beiden Lösungen?

Wenn ja, welche und warum?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 17/12902 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

d) Liegen dem Bundesarbeitsministerium Abschätzungen über die Höhe
der Kosten der rückwirkenden Zahlung von Renten nach dem ZRBG ab
1997 vor?

14. Wie ist die Auffassung der Bundeskanzlerin bzw. des Bundeskanzleramtes
in der Frage der rückwirkenden Zahlbarmachung von Ghetto-Renten?

a) Sieht man im Bundeskanzleramt nach der Öffentlichen Anhörung im
Deutschen Bundestag am 10. Dezember 2012 die Notwendigkeit, in der
Frage der Ghettorenten gesetzgeberisch oder anderweitig tätig zu wer-
den, um eine rechtliche und politische Lösung zugunsten der noch leben-
den Ghettoarbeiterinnen/Ghettoarbeitern herbeizuführen?

b) Welche Vor- bzw. Nachteile hätten nach Auffassung des Bundeskanzler-
amtes sowohl die rentenrechtliche Lösung als auch die Entschädigungs-
lösung?

c) Gibt es im Bundeskanzleramt eine Präferenz für eine der beiden Lösun-
gen?

Wenn ja, welche und warum?

Wenn nein, warum nicht?

d) Liegen dem Bundeskanzleramt Abschätzungen über die Höhe der Kos-
ten der rückwirkenden Zahlung von Renten nach dem ZRBG ab dem
Jahr1997 vor?

15. Beabsichtigt die Bundesregierung an der bei der Verabschiedung des ZRBG
im Jahr 2002 getroffenen Grundsatzentscheidung des Deutschen Bundes-
tages festzuhalten, „Ghetto-Arbeit“ als reguläre Beschäftigung in der Ren-
tenversicherung ab dem Jahr 1997 abzugelten, und wie kann das vollum-
fänglich gewährleistet werden?

16. Sieht die Bundesregierung in der Umsetzung des ZRBG einen wesentlichen
Schritt zur Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen?

Wenn ja warum?

Wenn nein, warum nicht?

17. Wie reagiert die Bundesregierung auf das Bitten der israelischen Regierung,
in dieser Angelegenheit tätig zu werden (SPIEGEL ONLINE vom 8. Fe-
bruar 2013 „Wiedergutmachung: NS-Ghettoarbeiter sollen rückwirkend
Rente erhalten“)?

18. Aus welchem Grund wird die Lösung zur rückwirkenden Zahlbarmachung
von Renten nach dem ZRBG ab dem Jahr 1997, die am 17. Januar 2013
zwischen dem BMAS und der israelischen Regierung gefunden wurde (epd-
Meldung vom 13. März 2013), nicht umgesetzt?

19. Wird es noch vor der Bundestagswahl Regierungskonsultationen mit Israel
geben?

Wenn ja, wann?

Wenn nein, warum nicht?

20. Plant das Bundeskanzleramt, unabhängig vom Zeitpunkt, die Lösung in der
Ghettorentenfrage zum Thema der nächsten deutsch-israelischen Regie-
rungskonsultationen zu machen?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/12902

21. Hat es bereits einen Antrittsbesuch des israelischen Botschafters in
Deutschland, Jakov Hadas, bei der Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel ge-
geben?

Wenn nein, warum nach Kenntnis der Bundesregierung nicht?

Wenn ja, war das Thema Ghetto-Renten Gegenstand des Gesprächs?

Berlin, den 18. März 2013

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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