BT-Drucksache 17/1278

Förderung von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern

Vom 26. März 2010


Deutscher Bundestag Drucksache 17/1278
17. Wahlperiode 26. 03. 2010

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, Birgitt Bender, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln),
Viola von Cramon-Taubadel, Katrin Göring-Eckardt, Ulrike Höfken, Katja Keul,
Maria Klein-Schmeink, Tom Koenigs, Markus Kurth, Agnes Malczak, Jerzy Montag,
Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Manuel Sarrazin,
Christine Scheel, Dr. Frithjof Schmidt, Hans-Christian Ströbele und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Förderung von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern

Die Förderung sozialer Sicherungssysteme in Entwicklungsländern muss zentra-
ler Bestandteil der deutschen Entwicklungszusammenarbeit sein. Das Recht auf
soziale Sicherung ist in Artikel 22 der allgemeinen Erklärung der Menschen-
rechte festgeschrieben und im internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale
und kulturelle Rechte verankert. Soziale Sicherheit schließt dabei explizit Sozial-
versicherungen ein.

Der Deutsche Bundestag hat die Bundesregierung in der 16. Legislaturperiode in
einem Antrag aufgefordert, die Entwicklungs- und Schwellenländer beim Auf-
bau und bei Reformen von sozialen Sicherungssystemen zu unterstützen und so-
ziale Sicherung als Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit
zu implementieren. Das vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen-
arbeit und Entwicklung (BMZ) verfasste Sektorkonzept soziale Sicherung gibt
einen guten Rahmen für die weitere Arbeit und spricht die wichtigsten Punkte an.
Nun bedarf es einer konkreten Planung des BMZ, wie die Förderung sozialer
Sicherungssysteme in Entwicklungsländern langfristig und nachhaltig umge-
setzt werden soll.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Was hat die Bundesregierung unternommen, um die Forderung des Deutschen
Bundestages (aus dem Jahr 2008 von den Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN, CDU/CSU und DIE LINKE. getragenen Antrag, Bundestags-
drucksache 16/7747) nachzukommen, die Bedeutung des Schwerpunktes so-
ziale Sicherheit auch institutionell im BMZ zu verankern?

2. Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung seit der Aufforderung des Bun-

destages (Bundestagsdrucksache 16/7747) ergriffen, um die Förderung so-
zialer Sicherungssysteme in Entwicklungs- und Schwellenländern inhaltlich
und konzeptionell voranzutreiben und zu präzisieren?

Welche qualitativen Fortschritte wurden hierbei erzielt?

Drucksache 17/1278 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

3. Wie bringt die Bundesregierung deutsche Expertise in den internationalen
Diskurs über die Zukunft sozialer Sicherungssysteme ein, der organisations-
übergreifend zum Beispiel durch die WHO, die ILO oder die Weltbank ge-
führt wird?

4. Wie arbeitet die Bundesregierung mit internationalen Initiativen wie der
„Access to insurance initiative“, „Providing for Health“ (p4h), „HelpAge In-
ternational“ oder „Leapfrog Investments“ zusammen?

5. Hat die Bundesregierung, wie im Antrag 2008 gefordert, Konzepte sozialer
Sicherung entwickelt, die sich vor allem auf besonders vulnerable Gruppen
(z. B. Beschäftigte im informellen Sektor, (Aids-)Waisen oder alte Menschen)
beziehen?

6. In welcher Weise will die Bundesregierung gewährleisten, dass Frauen in den
Mittelpunkt sozialer Sicherheit gerückt werden und ihre Benachteiligung
konsequent abgebaut wird?

a) Wie will die Bundesregierung Systeme sozialer Sicherung auf jene – oft
informellen – Sektoren und Beschäftigungsfelder ausdehnen, in denen
Frauen vorrangig beschäftigt sind?

b) Wie gedenkt die Bundesregierung im Bereich der sozialen Sicherheit auf
frauenspezifische Benachteiligungen (begrenzter Zugang zu existenzsi-
chernder Erwerbsarbeit, fehlende rechtliche Gleichstellung, mangelnde
Möglichkeiten der Organisation in eigenen Solidaritätsnetzen) zu reagieren?

c) Wie bezieht die Bundesregierung konzeptionell den Umstand ein, dass ins-
besondere Frauen in den Entwicklungsländern von einer Erosion traditio-
neller Absicherungen betroffen sind?

d) Welche konkreten Konzepte hat die Bundesregierung zur nachhaltigen
Verbesserung des sozialen Schutzes und der sozialen Sicherheit von
Frauen entwickelt, insbesondere im Hinblick auf

– eine Verbesserung der rechtlichen Rahmenbedingungen und Maß-
nahmen zur rechtlichen Gleichstellung von Frauen im Eigentums-, Ehe-
und Scheidungsrecht,

– Programme zur rechts- und sozialpolitischen Beratung für Frauen,

– Unterstützung von Frauenorganisationen zur Förderung von selbstorga-
nisierten Solidaritätsnetzen und deren Vernetzung,

– einen gender-sensitiven Ausbau der formellen Sicherungssysteme
(z. B. Berücksichtigung von Mutterschutzleistungen etc.)?

e) Gibt es Pläne der Bundesregierung, Systeme der sozialen Sicherung stärker
mit dem von Frauen stark nachgefragten und erfolgreichen Konzept der
Mikrofinanzierung und auch mit gemeinschaftsbasierten Versicherungen zu
koppeln, wie es beispielsweise bei SEWA in Indien erfolgreich geschieht?

f) Inwiefern gibt es in den Planungen der Bundesregierung ein auf Frauen-
belange ausgerichtetes integriertes Konzept von Beschäftigungspolitik
und sozialer Sicherung in den Entwicklungsländern?

g) Sind soziale Sicherungssysteme (vor allem Krankenversicherungssys-
teme) Teil der Strategie der Bundesregierung zur Erreichung der MDGs 4
und 5 (MDG = Millenium Developments Goals)?

h) Wie schätzt die Bundesregierung die Auswirkungen sozialer Sicherungs-
systeme auf die Erreichung der MDGs 4 und 5 (Kinder- und Müttergesund-
heit) ein?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/1278

7. Welche Strategie hat die Bundesregierung, um zukünftig die Finanzierung
der Förderung sozialer Sicherung international zu sichern, und welche natio-
nale Zielgröße strebt die Bundesregierung zur Förderung der sozialen Siche-
rung in Entwicklungsländern an?

8. Wie unterstützt die Bundesregierung den Prozess der Bewusstseinsbildung
in Regierungen und Bevölkerungen in vielen Partnerländern im Hinblick auf
die Etablierung sozialer Sicherungssysteme?

9. Wie und mit welchen Entwicklungs- und Schwellenländern arbeitet die Bun-
desregierung zusammen, um Konzepte und konkrete Maßnahmen langfris-
tiger sozialer Sicherung zu entwickeln, die auf die Bedingungen in den Part-
nerländern zugeschnitten sind?

10. Wie stark ist die Nachfrage bei den Partnerländern nach Beratung und Unter-
stützung von deutscher Seite zum Aufbau von sozialen Sicherungssyste-
men?

Besitzt die deutsche Entwicklungszusammenarbeit genügend Kapazitäten,
um Anfragen zeitnah bedienen zu können?

11. Welche Entwicklungs- und Schwellenländer hat die Bundesregierung bzw.
die GTZ in den letzten 2 Jahren beim Aufbau sozialer Sicherungssysteme be-
raten bzw. unterstützt?

In welcher Form fand die Beratung bzw. Unterstützung jeweils statt?

12. Welche Konzepte sozialer Grundsicherung favorisiert die Bundesregierung
und warum?

a) Wie unterstützt die Bundesregierung eine langfristige, sich im Partner-
land selbst tragende Finanzierung einer allgemeinen Grundsicherung im
Rahmen der ILO-Ziele zur Einführung sozialer Grundabsicherung für
Kinder, alte Menschen, und Menschen mit Behinderungen?

b) Welche Bedeutung und Relevanz misst die Bundesregierung dabei bei-
tragsfinanzierten und nichtbeitragsfinanzierten Systemen in Bezug auf
besonders vulnerable Zielgruppen und deren soziale Lage zu?

13. Wie beurteilt die Bundesregierung die Rolle von Social Cash Transfers zur
Armutsreduktion in Entwicklungsländern?

a) Gibt es nach Meinung der Bundesregierung erkennbare Unterschiede in
der Wirkung von SCT-Projekten oder -Programmen in Mittel- und Nied-
rigeinkommensländern?

Gegebenenfalls welche?

b) Hält die Bundesregierung nur umfassende Programme (wie z. B. bolsa
familia in Brasilien) für aussagekräftig oder auch Einzelprojekte (wie
z. B. das in Kalomo, Zambia, von 2005 bis 2007 von der GTZ durchge-
führte)?

c) Welche ähnlich angelegten Projekte hat die deutsche Entwicklungszu-
sammenarbeit (EZ) bisher durchgeführt oder tut es noch?

d) Hat es bezüglich des Projekts in Kalomo Evaluationen seitens der deut-
schen EZ gegeben, sind diese öffentlich zugänglich, und wie beurteilt die
Bundesregierung sie?

e) Warum wurde das Projekt in Kalomo nicht von deutscher Seite fortge-
führt, und wie beurteilt die Bundesregierung die Fortführung unter Lei-
tung von Care International?

f) Hat sich nach Meinung der Bundesregierung insbesondere das Auswahl-
kriterium der Berechtigten im Kalomo-Projekt (Familien ohne arbeits-

fähige(n) erwachsene(n) Ernährerin/Ernährer) bewährt?

Drucksache 17/1278 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

g) Gibt es nach Meinung der Bundesregierung relevante verallgemeinerbare
Unterschiede in der Wirkung von „unconditional“ oder „conditional
SCT“?

14. Ist der Bundesregierung das Basic Income Grant (BIG)-Projekt in Otjivero/
Omitara (Namibia) bekannt, das von zivilgesellschaftlichen Organisationen
auf Spendenbasis durchgeführt wird, und wie beurteilt die Bundesregierung
die Ergebnisse?

a) Ist der Bundesregierung bekannt, dass die von der namibischen Regie-
rung einberufene Steuerkommission (Namibian Tax Consortium) 2002
einen Vorschlag für ein allgemeines BIG-Programm für die gesamte na-
mibische Bevölkerung vorgeschlagen und dessen Kosten berechnet hat?

b) Hat es seitens irgendwelcher namibischer Stellen bezüglich des Namtax-
Vorschlages oder des Otjivero-Projekts Kontakte zur Bundesregierung
oder der deutschen EZ gegeben, und wie hat sich die deutsche Seite posi-
tioniert?

c) Ist der Bundesregierung bekannt, dass Namibia diesbezüglich Verhand-
lungen u. a. mit der Weltbank geführt hat?

d) Hat es in der Weltbank Entscheidungen diesbezüglich gegeben, an denen
die deutsche Seite beteiligt war?

Wie hat sie sich gegebenenfalls dabei verhalten?

e) Ist die Bundesregierung bereit, die Fortführung des Projekts und entspre-
chende zivilgesellschaftliche Bemühungen gegebenenfalls zu unterstüt-
zen?

15. Plant die Bundesregierung die verstärkte Förderung privater Krankenversi-
cherungen in Entwicklungsländern, und wenn ja, in welcher Form?

a) Welche Rolle würde hier der deutschen Versicherungswirtschaft zukom-
men?

b) Plant die Bundesregierung die Förderung privater Mikro-Krankenversi-
cherungen in Entwicklungsländern (Zuschnitt auf Arme, kleiner Beitrag,
geringe Leistungen), und wenn ja, in welcher Form?

c) Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, um bei privaten Kran-
kenversicherungen den Ausschluss Armer und Mittelloser zu verhin-
dern?

d) Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, um eine negative Risi-
koauslese zu verhindern und gerade Kranken oder Menschen mit hohem
Krankheitsrisiko den Zugang zu ermöglichen?

16. Plant die Bundesregierung die verstärkte Förderung lokaler, solidarischer,
gemeinschaftsbasierter Krankenversicherungen (z. B. nach dem Modell der
„santé mutuelle“ in Ruanda)?

a) Wie beurteilt die Bundesregierung die Entwicklung einer „caisse commu-
nautarie de solidarité“ im Raum Thiès (Senegal) und die Weiterentwick-
lung zu einer „mutuelles de santé“ samt den Auswirkungen auf die Ge-
sundheitsversorgung in der Region?

b) Sieht die Bundesregierung in diesen Ansätzen auch eine Möglichkeit mit-
telfristig den Ausbau zu einer universellen, verpflichtenden Krankenver-
sicherung zu schaffen?

c) Wie könnte ein solcher Weg aussehen; gibt es strategische Konzepte für
eine solche Ausweitung?

17. Plant die Bundesregierung die verstärkte Förderung solidarischer gesetz-
licher Krankenversicherungen (verpflichtende Mitgliedschaft, solidarische

Finanzierung über Beiträge oder Steuern), und wenn ja, in welcher Form?

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 5 – Drucksache 17/1278

18. Welche Entwicklungs- und Schwellenländer hat die Bundesregierung beim
Aufbau von Alterssicherungssystemen beraten bzw. unterstützt?

Handelte es sich dabei jeweils um den Aufbau von umlagefinanzierter
Alterssicherung, kapitalgedeckter Alterssicherung oder um steuerfinan-
zierte Grundsicherung?

a) Bei welchen dieser Teilbereiche (umlagefinanzierte Rente, kapitalge-
deckte Alterssicherung bzw. Zusatzversorgung, steuerfinanzierte Grund-
sicherung im Alter) sieht die Bundesregierung Schwerpunkte ihrer Bera-
tung bzw. Unterstützung beim Aufbau von Alterssicherungssystemen in
Entwicklungs- und Schwellenländern, und warum?

b) Plant die Bundesregierung eine verstärkte Unterstützung bzw. Beratung
beim Aufbau kapitalgedeckter Alterssicherung in Entwicklungs- und
Schwellenländern?

c) Plant die Bundesregierung die verstärkte Förderung von universellen Al-
terssicherungssystemen in Form staatlich garantierter Renten, oder zielt
sie stärker auf umlagefinanzierte Systeme, und für welche Bevölkerungs-
gruppen kämen diese in Betracht?

d) Welche Ansätze verfolgt die Bundesregierung, um bei umlagefinanzier-
ten Systemen der Alterssicherung den Ausschluss Armer und Mittelloser
zu verhindern?

19. Sieht die Bundesregierung einen Zusammenhang zwischen global zuneh-
mender Kapitaldeckung in Alterssicherungssystemen und der Finanzmarkt-
krise?

Wenn ja, welche Schlussfolgerungen zieht die Bundesregierung für die För-
derung von sozialen Sicherungssystemen in Entwicklungsländern?

20. Welche Bedeutung misst die Bundesregierung universellen Alterssiche-
rungssystemen in Bezug auf die weiteren familiären Strukturen und Über-
lebensstrategien zu?

21. Welche Konzepte verfolgt die Bundesregierung, um neben Grundsicherung,
Krankenversicherung und Rentenversicherung auch weitere im Sektorkon-
zept Soziale Sicherung durch das BMZ erwähnte Risiken, wie zum Beispiel
Dürre, Hagel, Hochwasser, Wirbelstürme, Flutkatastrophen oder Erdbeben,
absicherbar zu machen?

Berlin, den 26. März 2010

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

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