BT-Drucksache 17/11588

Reisen für alle - Für einen sozialen Tourismus

Vom 20. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11588
17. Wahlperiode 20. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm,
Steffen Bockhahn, Roland Claus, Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig,
Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch, Thomas Lutze, Jens Petermann,
Ingrid Remmers, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair,
Jörn Wunderlich und der Fraktion DIE LINKE.

Reisen für alle – Für einen sozialen Tourismus

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Tourismus ist für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens. Be-
dürfnisse nach Erholung, Bildung, Gesundheit, Kultur, Sport und Naturerleben
werden vielfach durch Reisen realisiert. Teilhabe am Tourismus eröffnet die
Möglichkeit des persönlichen Wirkens für Verständigung zwischen den Völkern
und Frieden.

Reisen nimmt seit vielen Jahren einen vorderen Platz bei der Freizeitgestaltung
ein, was sich auch in der Bedeutung des Tourismus als Wirtschaftsfaktor wider-
spiegelt. Dem hohen direkten Anteil des Tourismus von 4,4 Prozent an der
Bruttowertschöpfung und dem ständigen Ausbau der touristischen Infrastruktur
stehen allerdings erhebliche Defizite bei der Teilhabe großer Bevölkerungsgrup-
pen an den verschiedenen touristischen Angeboten gegenüber. Der Superlativ
„Reiseweltmeister“ sagt nichts über die soziale Struktur des deutschen Touris-
mus aus. Seit einigen Jahren spiegelt sich die Vertiefung der sozialen Spaltung
unserer Gesellschaft verstärkt auch im Tourismus wider.

Trotz erfolgreicher Formen des geförderten Tourismus, wie z. B. der Jugendher-
bergen oder finanziell unterstützter Kinder-, Jugend- und Familienreisen, kann
ein großer Teil der Bevölkerung nicht in den Urlaub fahren. Nach der 28. Deut-
schen Tourismusanalyse der Stiftung für Zukunftsfragen lag die Reiseintensität,
also der Anteil der Bevölkerung ab 14 Jahren, welcher mindestens eine Urlaubs-
reise mit einer Dauer von wenigstens fünf Tagen unternommen hat (laut De-
finition der Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e. V.), im Jahr 2011 bei
53 Prozent. Bereits im Jahr 2010 konnte sich nur noch jeder Fünfte der Gering-
verdienenden eine Urlaubsreise leisten. Nur gut jede zweite Familie verreiste im

Jahr 2010 für mindestens fünf Tage. Seit dem Jahr 1990 ist das ein Rückgang
von 11 Prozent. In sechs von 16 Bundesländern wurden in den letzten Jahren die
finanziellen Mittel zur Förderung der Familienerholung völlig gestrichen. Im
Jahr 2009 waren Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel (22 Prozent) der Haus-
halte, in denen Kinder unter 16 Jahren lebten, finanziell unerschwinglich.

Drucksache 17/11588 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

Bedenklich ist die Tendenz: Die Bundesrepublik Deutschland entfernt sich
damit von einem sozial nachhaltigen Tourismus im Sinne des Globalen Ethik-
kodexes der Welttourismusorganisation (WTO), der „die Aussicht auf direkten
und persönlichen Zugang zur Entdeckung und dem Genuss der Ressourcen des
Planeten für alle Bewohner der Welt“ als ein Recht darstellt, „das allen Bewoh-
nern der Welt gleichermaßen offen steht.“

Der Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen von der Teilhabe am Tourismus
steht auch im Gegensatz zu dem in den tourismuspolitischen Leitlinien der Bun-
desregierung formulierten Ziel: „Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen
oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen können.“

Die Schaffung von Reisemöglichkeiten für Menschen mit geringerem Einkom-
men wäre nicht nur ein bedeutender sozialer Fortschritt, sondern könnte dazu
beitragen, Arbeitsplätze zu schaffen und die ökonomischen Effekte des Touris-
mus weiter zu vergrößern. Diese Orientierung findet sich auch in einer Reihe
von EU-Dokumenten.

Die Bundesregierung hat die Aufforderung des Europäischen Wirtschafts- und
Sozialausschusses, „mit angemessenem Einsatz von Mitteln und engagierten
Unterstützungsmaßnahmen allen Unionsbürgerinnen und Bürgern, vor allem je-
nen mit geringerer Kaufkraft, den Zugang zum Tourismus wirklich zu öffnen“
(Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss – EWSA, 2005), weitgehend
ignoriert. Dazu zählt auch die Ablehnung der Zusammenarbeit mit der Inter-
national Social Tourism Organisation (ISTO). Der ISTO gehören gegenwärtig
140 Mitgliedsorganisationen in 35 Ländern an. Am Programm Calypso (2008
bis 2011) mit dem Ziel, Jugendlichen, Senioren, Menschen mit Behinderungen
und einkommensschwachen Familien in der Nebensaison eine verbilligte Reise
ins Ausland zu ermöglichen, beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland
nicht. Ablehnung fand auch der Vorschlag des EU-Kommissars für Industrie und
Unternehmertum und Vizepräsident der Europäischen Kommission Antonio
Tajani an die 27 EU-Staaten für eine bessere Auslastung der Tourismusangebote
in Europa durch die Förderung von Seniorenreisen in der Nebensaison.

Die Regierungskoalition vertritt die Auffassung, dass in Deutschland viel und
genug auch für die Förderung von Reisen für Bevölkerungsgruppen mit gerin-
gem Einkommen getan wird. Diese Behauptung kann sich jedoch auf keinerlei
belastbare Analysen stützen. Es gibt in Deutschland kaum aussagefähige Statis-
tiken zur sozialen Struktur des Tourismus.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

bis zum Ende der 17. Wahlperiode ein Programm zur Durchsetzung eines in
Europa vorbildlichen sozialen Tourismus für fünf Jahre vorzulegen. Es soll sich
am Globalen Ethikkodex für den Tourismus orientieren, der diesen als Faktor
nachhaltiger Entwicklung definiert. Es soll die tourismuspolitischen Leitlinien
der Bundesregierung sowie die Hinweise des Europäischen Wirtschafts- und
Sozialausschusses berücksichtigen. Es soll helfen, die Empfehlungen des Welt-
sozialtourismuskongresses des Jahres 2010 in Rimini umzusetzen. Dessen Teil-
nehmerinnen und Teilnehmer forderten die staatlichen Stellen auf nationaler,
regionaler und kommunaler Ebene auf, Strategien zur Förderung des Sozial-
tourismus zu entwickeln.

Im Programm sollen folgende Schwerpunkte enthalten sein:

– Stärkung von Verantwortung und Kompetenzen des Bundes für einen sozia-
len Tourismus und Verbesserung der interministeriellen Zusammenarbeit;

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11588

– Berücksichtigung eines angemessenen Budgets für Erholungsurlaub für
Bedarfsgemeinschaften und Familien mit Kindern im Rahmen der Regel-
bedarfssätze des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie des
SGB XII;

– Bereitstellung von Mitteln für die stärkere Finanzierung von Projekten des
sozialen Tourismus;

– Durchsetzung einer einheitlichen statistischen Berichterstattung zur Ent-
wicklung des Sozialtourismus unter Nutzung regelmäßiger Befragungen
bzw. Erhebungen zu Reiseintensität und Reiseverhalten bei Kinder-, Jugend-
und Familienreisen, Reisen von Alleinerziehenden mit Kindern, Seniorenrei-
sen sowie zum barrierefreien Tourismus;

– Schaffung der Voraussetzungen für die wissenschaftliche Begleitung der Ent-
wicklung des Sozialtourismus und zur Aufnahme dieses Themengebietes in
alle touristischen Aus- und Weiterbildungen an Universtäten, Hoch- und
Fachschulen sowie im Rahmen der Berufsausbildung;

– Initiierung und Förderung genossenschaftlich organisierter Formen des So-
zialtourismus unter Nutzung der Erfahrungen des Schweizer REKA-Systems
(REKA: genossenschaftlich organisierte Reisekasse der Schweiz);

– Festlegungen zu Finanzierung und jährlich obligatorischen Durchführung
von Klassenfahrten für die Schülerinnen und Schüler;

– verstärkte finanzielle Förderung des Familienurlaubs sowie von Reisen
Alleinerziehender mit Kindern in Deutschland und in Länder der EU über das
bisherige Maß hinaus, um das Niveau vergangener Jahre wieder zu erreichen.
Hierzu gehört die Wiederaufnahme der Landesförderung für Familienreisen
in sechs Bundesländern. Dazu wird die Bundesregierung aufgefordert, mit
diesem Anliegen an die entsprechenden Bundesländer heranzutreten, z. B. im
Rahmen einer konzertierten Aktion des Bundes sowie der Bundesländer
„Alle Familien sollen reisen können!“;

– Mitarbeit von Institutionen der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der
ISTO;

– Verallgemeinerung progressiver Erfahrungen auf dem Gebiet eines sozialen
Tourismus und Propagierung dieser im Rahmen der Internationalen Touris-
musbörse (ITB), nationaler Veranstaltungen sowie im Internet;

– Erweiterung bestehender Unterbringungsmöglichkeiten durch gemeinsame
Investitionen von öffentlichen Institutionen, Verbänden und Gewerkschaften
sowie die verbesserte Auslastung bereits bestehender Urlaubs- und Über-
nachtungsmöglichkeiten z. B. in Kindererholungszentren/KiEZe, Jugendher-
bergen, Naturfreundehäusern, Urlaubsmöglichkeiten des Deutschen Gewerk-
schaftsbundes und seiner Mitgliedsgewerkschaften, Urlaubs- und Erholungs-
unterkünften von Sozialverbänden, Einrichtungen der Sozialwerke des
Bundes, Vereinen, Kirchen und privaten Anbietern.

Sofern die Bundesländer für die Realisierung einzelner Aufgaben zuständig
sind, soll die Bundesregierung in geeigneter Weise an diese herantreten.

Berlin, den 20. November 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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