BT-Drucksache 17/11379

Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Verurteilten

Vom 7. November 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11379
17. Wahlperiode 07. 11. 2012

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Kai Gehring, Ingrid Hönlinger, Memet Kilic,
Tom Koenigs, Jerzy Montag, Dr. Konstantin von Notz, Claudia Roth (Augsburg),
Dr. Gerhard Schick, Wolfgang Wieland, Josef Philip Winkler und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung der nach 1945 in beiden
deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen
Verurteilten

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung für die nach 1945 in beiden
deutschen Staaten wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen Ver-
urteilten vorzuschlagen.

Berlin, den 6. November 2012

Renate Künast, Jürgen Trittin und Fraktion

Begründung

In der Bundesrepublik Deutschland galt die von den Nationalsozialisten 1935
verschärfte Gesetzgebung zur strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Hand-
lungen (§§ 175 und 175a des Strafgesetzbuchs – StGB) bis zur Strafrechtsre-
form von 1969 weiterhin fort. Demnach waren sämtliche sexuelle Handlungen,
einschließlich erotisch interpretierbarer Annäherungen, unter Männern strafbar.
Darüber hinaus bestanden bis zur endgültigen Abschaffung des § 175 StGB
am 31. Mai 1994 unterschiedliche strafrechtliche Schutzaltersgrenzen für homo-
und heterosexuelle Handlungen.

In der Deutschen Demokratischen Republik kehrte man nach einem Urteil des
Obersten Gerichts 1950 zu der vornationalsozialistischen Fassung des § 175
StGB zurück. Dies bedeutete, dass beischlafähnliche homosexuelle Handlungen
bestraft wurden. Mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches der DDR
am 1. Juli 1968 waren einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwach-

senen Männern nicht mehr strafbar, doch bestanden auch hier nach § 151 StGB
(DDR) weiterhin unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für homo- und hetero-
sexuelle Handlungen.

Dies mussten in beiden Teilen Deutschlands tausende von Männern erfahren, die
aufgrund ihrer Homosexualität verurteilt wurden. In der Bundesrepublik Deutsch-
land lag die Zahl der Verurteilungen bis zur Strafrechtsreform 1969 bei ca.
50 000 (vgl. Rainer Hoffschildt, in: Invertito 4, Jahrbuch für die Geschichte der

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Homosexualitäten, Hamburg, S. 140 bis 149). Für das Gebiet der DDR sind Fall-
zahlen schwer zu ermitteln; als nachgewiesen angesehen werden können 1 292
Verurteilungen in den Jahren 1946 bis 1959 (vgl. Günter Grau: Zur strafrecht-
lichen Verfolgung der Homosexualität in der DDR, in: § 175 StGB. Rehabilitie-
rung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Hrsg.: Senatsverwal-
tung für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, S. 49 f., www.berlin.de/
lads/gglw/publikationen).

Zu der strafrechtlichen Verfolgung kam die gesellschaftliche Ausgrenzung der
Betroffenen, die oftmals ihren Beruf aufgeben mussten und ins soziale Abseits
gedrängt wurden, hinzu. Über die Verurteilungen hinaus waren weitere Ver-
fahren anhängig. Auch diese Betroffenen wurden in ihren Persönlichkeitsrech-
ten verletzt. Bereits die reine Strafandrohung beeinträchtigte alle homosexuell
orientierten Männer in der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Als beson-
dere Härte muss den Betroffenen erschienen sein, dass in der Bundesrepublik
Deutschland die unter nationalsozialistischer Herrschaft verschärfte Fassung
des § 175 StGB aufrechterhalten wurde und sich somit nationalsozialistisches
Unrecht über den Bestand des von den Nationalsozialisten errichteten Un-
rechtsstaats in der Bundesrepublik Deutschland perpetuierte. Die Verschärfung
von 1935 hatte zu einer immensen Ausweitung der Verfolgung geführt, die auch
in der Bundesrepublik Deutschland mit großer Heftigkeit fortgesetzt wurde.

In beiden Teilen Deutschlands herrschte zumindest bis 1968/1969 durch die
Kriminalisierung der Homosexualität ein sozialpolitisches Klima, welches ho-
mosexuelle Menschen diskriminierte, diese an den Rand der Gesellschaft
drängte und damit erheblich in einem maßgeblichen Teil ihrer Persönlichkeit
einschränkte. Sieht man von der „Unter-Strafe-Stellung“ ab, waren von dieser
Ausgrenzung gleichermaßen schwule Männer wie auch lesbische Frauen be-
troffen. Im Unterschied zu der Homosexuellenverfolgung in der NS-Zeit liegen
über die Zeit nach 1945 praktisch keine Forschungsergebnisse oder Zeitzeugen-
berichte vor. Das widerfahrene Unrecht und Leid werden bisher von den Betrof-
fenen – zu ihrem eigenen Schutz – vor Angehörigen und der Gesellschaft weit-
gehend tabuisiert.

Am 7. Dezember 2000 brachte der Deutsche Bundestag im Zusammenhang mit
der Debatte um die Ergänzung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialisti-
scher Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege in einer einstimmig mit den Stim-
men aller Fraktionen verabschiedeten Resolution sein Bedauern über das durch
die Homosexuellenverfolgung in beiden Teilen Deutschlands erfolgte Unrecht
zum Ausdruck (vgl. Plenarprotokoll 14/140, Bundestagsdrucksache 14/4894).
Die Verschärfung des § 175 des Reichsstrafgesetzbuches (RStGB) im Jahr 1935
wird als Ausdruck nationalsozialistischen Gedankenguts anerkannt und betont,
dass die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung eine Verletzung der Men-
schenwürde homosexueller Bürger darstellte. Mit der Ergänzung des Gesetzes
zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege
vom 23. Juli 2002 (Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Aufhebung natio-
nalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege – NS-AufhÄndG –,
BGBl. I S. 2714) wurden pauschal diejenigen Urteile aufgehoben, die unter na-
tionalsozialistischer Herrschaft nach den §§ 175 und 175a Nummer 4 RStGB
ergangen waren. Darüber hinaus erfolgte am 1. September 2004 eine Änderung
der „Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von natio-
nalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegs-
folgengesetzes (AKG-Härterichtlinien)“ vom 7. März 1988 (BAnz. S. 20921).
Damit wurden auch Personen, die nach den §§ 175 und 175a Nummer 4 RStGB
verurteilt worden waren, in die Lage versetzt, einen Anspruch auf Entschädi-
gung geltend zu machen.
Im Ergebnis führte diese Politik zu einem Widerspruch. Wer im Nationalsozia-
lismus nach den §§ 175, 175a Nummer 4 RStGB verurteilt wurde, ist reha-

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bilitiert und hat unter Umständen das Recht auf eine materielle Entschädigung
durch die Bundesrepublik Deutschland als Nachfolgestaat. Wer dagegen später
wegen der identisch gefassten Strafrechtsparagraphen verurteilt wurde, ist nicht
rehabilitiert und kann keine Haftentschädigung geltend machen.

Der Beschluss des Bundestages aus dem Jahr 2000 darf nicht als bloße Deklara-
tion ohne Konsequenzen bleiben. Es bedarf einer gesellschaftlichen Rehabilitie-
rung der Betroffenen.

Es ist zumindest eine gesellschaftliche Aufarbeitung durch eine Erforschung
und Dokumentation der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer und
der sich daraus ergebenden Stigmatisierung in der Bevölkerung unerlässlich.

Jörg Risse (vgl. Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, Baden-
Baden, Nomos 1998, S. 77 ff.) hat in seiner Heidelberger Dissertation bereits
1996 festgestellt, dass die Homosexualität nach dem Allgemeinen Persönlich-
keitsrecht (Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes) zu schützen sei.

Die Betroffenen verdienen Unterstützung bei der Bewältigung der Folgen, ins-
besondere Begleitung im Falle von Traumatisierungen.

Aus Anlass zweier Anträge der Oppositionsparteien im Deutschen Bundestag
(Bundestagsdrucksachen 16/10944 und 16/11440) war die Frage der Aufhe-
bung der einschlägigen Strafurteile in den Jahren 2008 und 2009 Gegenstand
von Debatten im Deutschen Bundestag. Gegen eine Aufhebung der nach 1945
ergangenen Urteile wurden von den damaligen Regierungsparteien insbeson-
dere Bedenken hinsichtlich der befürchteten Verletzung des Gewaltenteilungs-
prinzips und der Rechtsstaatlichkeit, zu der auch die Rechtssicherheit gehört,
vorgetragen. Eine im Auftrag des Senats von Berlin erstellte Expertise kommt
dagegen zu dem Ergebnis, dass eine Rehabilitierung der aufgrund strafrecht-
licher Verfolgung auf Grundlage der §§ 175 und 175a StGB sowie der nach
§ 151 StGB der DDR Verurteilten auch durch Aufhebung der Urteile rechtlich
zulässig ist (vgl. Prof. Dr. Dr. Hans-Joachim Mengel: Expertise „Strafrechtliche
Verfolgung homosexueller Handlungen in Deutschland nach 1945. Zur Rehabi-
litierung und Entschädigung der nach § 175 und § 175a wegen homosexueller
Handlungen in der BRD und der DDR Verurteilten. Verfassungsrechtliche, ver-
fassungspolitische und völkerrechtliche Erwägungen. Hrsg.: Senatsverwaltung
für Arbeit, Integration und Frauen, Berlin 2012, www.berlin.de/lads/gglw/
publikationen). Ein solcher Schritt des Gesetzgebers verstoße weder gegen Ver-
fassungsnormen noch gegen den Ordre public. Es würden auch keine Rechte
Dritter und keine grundlegend tragenden Prinzipien der rechtlichen und politi-
schen Ordnung wie das Prinzip der Gewaltenteilung verletzt. Im Gegenteil, das
Vertrauen in die Selbstschutzprinzipien des Rechtsstaats werde erhöht. Die Auf-
hebung solle auch für Urteile gelten, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR
Homosexuelle wegen einvernehmlicher Handlungen bestraften. Hinsichtlich
von Urteilen, die nicht nur auf Grundlage der §§ 175 und 175a StGB ergangen
sind, sondern die auch auf Grundlage von Schutzbestimmungen für die Rechte
Dritter (z. B. Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen, sexueller Missbrauch
Minderjähriger analog den Bestimmungen für heterosexuelle Handlungen) er-
gangen sind, sei im Einzelfall eine Teilaufhebung zu prüfen (vgl. Prof. Dr. Dr.
Hans-Joachim Mengel, a. a. O.).

Unterstützt wird das Anliegen der Rehabilitierung auch durch die Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Die
Bundesrepublik Deutschland war der Europäischen Menschenrechtskonvention
bereits im Jahr 1952 beigetreten. In zahlreichen Urteilen macht der EGMR seit
1981 deutlich, dass eine Gesetzgebung, die homosexuelle Handlungen unter
Strafe stellt, menschenverachtend ist (vgl. Dudgeon v. Northern Ireland, no.
7525/76, Norris v. Irland, no. 10581/83, und Modinos v. Zypern, no. 15070/89).

Es wird den Betroffenen ein entscheidender Teil ihrer Persönlichkeit abgespro-

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chen. Gleiches gilt für Gesetze, die unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für se-
xuelle Handlungen zwischen Menschen gleichen und verschiedenen Ge-
schlechts festsetzen.

Die formelle Aufhebung der einschlägigen Strafurteile sowie eine daraus resultie-
rende Entschädigung sind deshalb ernsthaft von der Bundesregierung zu prüfen.

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