BT-Drucksache 17/11041

Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar verbessern

Vom 17. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/11041
17. Wahlperiode 17. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
Dr. Martina Bunge, Heidrun Dittrich, Klaus Ernst, Ulla Jelpke, Katja Kipping,
Jan Korte, Jutta Krellmann, Cornelia Möhring, Petra Pau, Jens Petermann,
Yvonne Ploetz, Kathrin Senger-Schäfer, Raju Sharma, Dr. Petra Sitte,
Frank Tempel, Kathrin Vogler, Halina Wawzyniak, Harald Weinberg,
Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Lebenssituation der durch Contergan geschädigten Menschen mit einem Dritten
Conterganstiftungsänderungsgesetz und weiteren Maßnahmen spürbar
verbessern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Vor 40 Jahren, am 31. Oktober 1972, nahm die Conterganstiftung für behin-
derte Menschen (bis 19. Oktober 2005 Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kin-
der“/Stiftungsgesetz) ihre Tätigkeit auf. Nachdem die Herstellerin des Schlaf-
mittels Contergan, die Firma Grünenthal GmbH, 100 Mio. DM (rd. 51. Mio.
Euro) an die Conterganopfer zahlte, welche in die Stiftung überführt wurden,
erließ der deutsche Staat faktisch ein Enteignungsgesetz (§ 23 Absatz 1 des Ge-
setzes über die Errichtung einer Stiftung „Hilfswerk für behinderte Kinder“ –
BehKiStiftG/Errichtungsgesetz). Damit wurden sämtliche Ansprüche der Con-
tergankinder gegen die Schädigungsfirma Grünenthal GmbH, ihre Eigentümer
und Angestellten per Bundesgesetz zum Erlöschen gebracht. Seither liegt die
finanzielle Gesamtverantwortung für die Contergangeschädigten bei der Bun-
desrepublik Deutschland.

Aus der Übernahme der Gesamtverantwortung durch die Bundesrepublik
Deutschland ergibt sich ein Anspruch der geschädigten Personen und ihrer An-
gehörigen nach dem Sozialen Entschädigungsrecht. Diesem Recht wird bisher
nur unzureichend entsprochen. Notwendig sind die Gewährung von Leistungen
nach dem Bundesversorgungsgesetz, sofern sie nicht über das Conterganstif-
tungsgesetz oder andere Gesetze und Verordnungen des Bundes zur Verfügung
gestellt werden.

Menschen mit Conterganschäden und ihre Interessenvertretungen sind in den
Gremien der Conterganstiftung unterrepräsentiert. Die Vertreterinnen und Ver-
treter der Bundesregierung haben die Mehrheit im Stiftungsrat und Stiftungs-

vorstand und üben die Rechtsaufsicht/Kontrolle über die Stiftung aus. Mitglie-
der des Bundestages sind in Stiftungsgremien nicht vertreten.

In der Beschlussempfehlung des Bundestages vom 20. Januar 2009 (Bundes-
tagsdrucksache 16/11625) heißt es: „Heute leiden die Betroffenen zunehmend an
schmerzhaften Spätfolgen durch die jahrelange Fehlbelastung von Wirbelsäule,
Gelenken und Muskulatur und auch eine Überbeanspruchung der Zähne. Hinzu
kommen psychische Belastungen und berufliche Beeinträchtigungen.“ Die Le-
benssituation der Betroffenen ist also seit mindestens vier Jahren bekannt. Sie hat

Drucksache 17/11041 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

sich seit dem weiter verschärft und ist mit der Studie des Instituts für Geronto-
logie der Universität Heidelberg inzwischen auch wissenschaftlich belegt.

Die Bundesregierung erhielt mit Annahme des Antrages der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD und FDP auf Bundestagsdrucksache 16/11223 acht Aufträge.
Diese wurden nur teilweise, zeitlich verzögert und zum Teil unzureichend er-
füllt. Weiterhin gibt es zahlreiche Beschwerden von Betroffenen über Verfah-
ren, Zeitdauer und mangelnde Transparenz bei der Bearbeitung von Anträgen
durch die Conterganstiftung. Unakzeptabel ist auch, wenn im Ausland lebende
Conterganopfer schlechter behandelt werden, als in Deutschland lebende. Zu-
nehmend wird deutlich, dass die in der Geschichte begründete Zuständigkeit
für die Conterganstiftung und die Conterganopfer beim Bundesministerium für
Familie, Senioren, Frauen und Jugend (es waren vor 40 Jahren Kinder) in fal-
schen Händen liegt und in das für Behindertenpolitik zuständige Bundesminis-
terium für Arbeit und Soziales übergeben werden sollte.

Eine offizielle Entschuldigung durch die Verursacher und Beteiligten am Con-
terganskandal gegenüber den Contergangeschädigten, ihren Müttern und wei-
teren Angehörigen steht bis heute aus.

Die Firma Grünenthal GmbH und die Eigentümer sind bis heute in Folge des
am 31. Oktober 1972 in Kraft getretenen Stiftungsgesetzes und im Verhältnis
zu den von ihnen zu leistenden Schadensersatzansprüchen und Schmerzensgel-
dern sowie im Zuge der mit dem Stiftungsgesetz einhergehenden Enteignungs-
vorschrift des § 23 (Errichtungsgesetz) nur sehr unzureichend an den finanziel-
len Folgekosten beteiligt worden.

Die bisher gezahlten „Conterganrenten“ und weitere finanzielle Leistungen
reichten nicht, um bestehende Nachteilsausgleiche zu kompensieren. Finanzi-
elle Nachteile für die Betroffenen und ihre Angehörigen kamen zu den direkten
Schädigungen in Folge von Contergan hinzu. „Schmerzensgeld“ wurde bisher
nicht gezahlt.

II. Der Deutsche Bundestag bittet alle contergangeschädigten Menschen und
ihre Angehörigen für ihnen angetanes Unrecht und Leid um
Entschuldigung.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die contergangeschädigten Menschen und ihre Angehörigen um Entschuldi-
gung zu bitten und darauf hinzuwirken, dass dies auch die Familie Wirtz als
Eigentümer der Firma Grünenthal GmbH, die Justiz und das Land Nord-
rhein-Westfalen tun;

2. einen Gesetzentwurf für ein Drittes Conterganstiftungsänderungsgesetz vor-
zulegen, welches folgende wesentliche Zielstellungen umfasst:

a) Der Stiftungsrat ist mehrheitlich mit demokratisch legitimierten Vertrete-
rinnen und Vertretern der Contergangeschädigten aus dem In- und Aus-
land zu besetzen. Die Vertreterinnen und Vertreter des Bundes sind durch
den Deutschen Bundestag zu benennen.

b) Der Stiftungsvorstand wird vom Stiftungsrat berufen.

c) Conterganrenten und Kapitalentschädigungen, die nach § 12 Absatz 2
des Conterganstiftungsgesetzes beantragt wurden bzw. werden, sind
rückwirkend zu zahlen. Über die Grundlagen für die rückwirkende Be-
rechnung entscheidet der Stiftungsrat.

d) Die monatlichen Entschädigungsleistungen werden rückwirkend zum

1. Januar 2012 um 300 Prozent erhöht.

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/11041

e) Behinderungsbedingte Nachteilsausgleiche sowie Kosten für bedarfsge-
rechte sowie einkommens- und vermögensunabhängige Assistenz- und
Pflegeleistungen sowie Umbaumaßnahmen in der Wohnung und am
PKW im Sinne der Handlungsempfehlungen 6, 7 und 9 der Universität
Heidelberg sind, solange diese nicht durch die Leistungen aus den Sozial-
gesetzen kompensiert werden, durch zusätzliche Leistungen aus der Con-
terganstiftung zu erstatten. Maßstab ist dabei das Soziale Entschädi-
gungsrecht.

f) Folgeschäden werden im Sinne der ersten Handlungsempfehlung der
Universität Heidelberg anerkannt. Die „medizinische Punktetabelle“ zur
Bewertung der Körperschäden ist entsprechend zu überarbeiten und auf
maximal 200 Punkte zu erweitern.

g) Sämtliche Stiftungsleistungen werden anhand der Geldwertentwicklung
dynamisiert. Sie gelten als Schonvermögen, auch für die Erben der jewei-
ligen leistungsberechtigten Personen.

h) Die Art der Auszahlung der Stiftungsleistungen ist durch den Leistungs-
berechtigten frei und jederzeit wählbar als (teilweise) Rente oder (teil-
weise oder gesamte) Kapitalisierung ohne jeweilige Abzinsung. Die Ka-
pitalisierbarkeit der Stiftungsleistungen sollte mindestens bis zum Alter
von 85 Jahren möglich sein.

i) Ein Schmerzensgeld, abgestuft nach dem aktuellen Punktesystem, ausge-
hend von 1 Mio. Euro = 100 Schadenspunkte, ist zu zahlen.

j) Die Rechtsaufsicht und weiteren Zuständigkeiten gehen vom Bundesmi-
nisterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zum (für Behinder-
tenpolitik zuständigen) Bundesministerium für Arbeit und Soziales.

k) Der Name der Conterganstiftung für behinderte Menschen ist so zu än-
dern, dass daraus hervorgeht, dass es eine Stiftung für die Opfer des Con-
terganskandals ist, zum Beispiel: „Stiftung Contergan/Thalidomid ge-
schädigter Menschen“;

3. kurzfristig unter Berücksichtigung der Handlungsempfehlungen der Univer-
sität Heidelberg und der Konkretisierungen des Stiftungsrates eine angemes-
sene medizinische Versorgung einschließlich der zahnärztlichen Versorgung
und der Bereitstellung von Heil- und Hilfsmitteln zu gewährleisten und mit-
telfristig entsprechende dezentrale, medizinische Kompetenz- bzw. Versor-
gungszentren einzurichten;

4. darauf hinzuwirken, dass die Firma Grünenthal GmbH bzw. die Familie
Wirtz angemessen an der Begleichung der Kosten beteiligt wird. Denkbar
wären zum Beispiel die Einzahlung von 30 Prozent des Jahresgewinns der
Unternehmen der Familie Wirtz an die Conterganstiftung für behinderte
Menschen sowie die Einzahlung von Erlösen aus Unternehmensveräußerun-
gen bis zur Höhe der durch den Bund seit 1972 geleisteten Zahlungen;

5. einen Forschungsauftrag zur Geschichte und Herkunft des in „Contergan“
verwendeten Wirkstoffes sowie zur Geschichte des Conterganskandals bis
zum Jahr 2005 unter aktiver Einbeziehung bzw. Mitwirkung der Betroffenen
auszulösen;

6. eine wissenschaftliche Untersuchung von Spätschäden unter Einbeziehung
des Betroffenenwissens durchzuführen, die sich auf eine Fehlanlage von Ge-
fäßen, Nerven, Muskeln und inneren Organen bezieht;

Drucksache 17/11041 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
7. eine wissenschaftliche Untersuchung von bisher nicht anerkannten Ur-
sprungs- und Folgeschäden physischer und psychischer Art unter Einbezie-
hung der Betroffen (einschließlich der Angehörigen) durchzuführen.

Berlin, den 17. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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