BT-Drucksache 17/10989

Die Ursachen der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln wirksam bekämpfen

Vom 16. Oktober 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10989
17. Wahlperiode 16. 10. 2012

Antrag
der Abgeordneten Karin Binder, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann,
Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn, Roland
Claus, Katrin Kunert, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Dr. Gesine
Lötzsch, Thomas Lutze, Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers,
Dr. Ilja Seifert, Kersten Steinke, Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der
Fraktion DIE LINKE.

Die Ursachen der Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln
wirksam bekämpfen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Lebensmittel werden in großem Umfang vernichtet und verschwendet. Es wird
geschätzt, dass weltweit etwa ein Drittel der erzeugten Nahrungsgüter auf dem
Müll landet. In Wohlstandsländern wie Deutschland wird sogar nur die Hälfte
der Lebensmittel verzehrt. In armen Ländern entstehen Verluste oft aus der all-
täglichen Not heraus. Kriegerische Konflikte verhindern die Ernte oder es fehlen
die technischen Voraussetzungen für verlustarmes Ernten, Lagern oder Vertei-
len. Hierzulande ist die Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln ein
Problem der zu geringen Wertschätzung infolge des erzeugten Überflusses. Statt
einer bedarfsgerechten Lebensmittelerzeugung, die alle Menschen gleicherma-
ßen erreicht und Verantwortung in Erzeugerländern übernimmt, stehen wir einer
wachstumsgetriebenen Wirtschaftsweise gegenüber, die auf Dumpingpreise
ausgerichtet ist und teilweise große Überschüsse verursacht. Strategien zur Ver-
meidung von Lebensmittelabfällen müssen auch dieses systembedingte Grund-
problem aufgreifen.

Wichtig ist es, dass die gesamte Kette von der landwirtschaftlichen Erzeugung
über die Verarbeitung und den Handel bis hin zur Gastronomie und zu Privat-
haushalten in eine Strategie zur Vermeidung der Vernichtung und Verschwen-
dung von Lebensmitteln einbezogen wird. Auch Lagerung und Transport sind zu
berücksichtigen. Daneben muss der Frage nachgegangen werden, wie nicht ver-
miedener Lebensmittelmüll sinnvoll verwendet werden kann. Generell sollte
beim Umgang mit Lebensmittelüberschüssen gelten: Vermeiden und Verschen-
ken geht vor Verfüttern und Verfeuern.
Bereits in die Erzeugung von Lebensmitteln fließen große Mengen an Wasser,
Energie, Dünger, Futter und Arbeitskraft. Was für unsere Ernährung bestimmt
ist, sollte deshalb auch auf den Teller gelangen. Durch strenge Vorgaben der Le-
bensmittelindustrie und des Handels kommt es aber zu einer größeren Voraus-
wahl landwirtschaftlicher Erzeugnisse. Die Waren werden den Bedingungen der
maschinellen Weiterverarbeitung und des globalen Handels unterworfen. Ein

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Teil genießbarer Lebensmittel kommt daher nicht zum Verkauf und wird verfüt-
tert, verfeuert oder entsorgt.

Eine Hauptursache für die Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln
ist hierzulande im ruinösen Wettbewerb der Lebensmittelbranche begründet.
Die Unternehmen versuchen, in einer schrumpfenden Gesellschaft weiter stei-
gende Gewinne zu erzielen. Die Entwicklung findet ihren Ausdruck in der zu-
nehmenden Marktbeherrschung durch den Discounterhandel mit schmalem An-
gebot, einheitlich vorverpackten Waren und knapp kalkulierten Gewinnspannen.
Auffällig ist, dass die Vernichtung und Verschwendung von Lebensmitteln in
dem Ausmaß zunimmt, in dem auch der Discounterhandel und die Konzentra-
tion auf wenige große Unternehmen zunehmen. Durch Niedrigstpreise und ag-
gressive Werbung entwerten Industrie und Handel viele Lebensmittel. Kundin-
nen und Kunden werden in ihrem Einkaufsverhalten manipuliert und zu unnöti-
gen Käufen verleitet. Der tatsächliche Wert von Esswaren ist oft nicht mehr
nachvollziehbar. In der Folge werden Verbraucherinnen und Verbraucher zum
Wegwerfen der Produkte verleitet. Ein großer Anteil der Lebensmittelabfälle,
die scheinbar bei den privaten Haushalten anfallen, hat seine Ursache deshalb
bei der Industrie und im Handel.

Auch die Verbraucherinnen und Verbraucher haben ihren Anteil am unnötigen
Lebensmittelmüll. Die Gründe für das Wegwerfen genießbarer Lebensmittel
sind vielfältig und oft in der Alltagssituation begründet. Eine gute Einkaufspla-
nung, die angemessene Wertschätzung der Esswaren und Zeit zum gemeinsa-
men Vorbereiten und Einnehmen der Mahlzeiten kommen oft zu kurz. Voraus-
setzung für die Minderung der Wegwerfrate sind hier gute Informationen über
die Zusammensetzung, Haltbarkeit und Zubereitung von Esswaren.

An Kindertagesstätten und Schulen muss das Thema Essen auf den Lehrplan ge-
setzt werden. Dazu gehört es nicht nur, ausgewogene Ernährung und gemein-
same Zubereitung zu lernen. Auch der kritische Konsum und der Umgang mit
irreführenden Versprechungen der Lebensmittelwirtschaft gehören in den Un-
terricht. Projektpartner oder Sponsoren dürfen weder unmittelbar noch verdeckt
Einfluss auf Lerninhalte und Kaufinteressen bei Minderjährigen ausüben. Un-
ternehmen müssen konsequent von den Kindertagesstätten und Schulen fernge-
halten werden.

Auch in der Gastronomie muss dem Wegwerfen von Lebensmitteln wirksamer
begegnet werden. Oft sind Gerichte im Restaurant zu groß. Unterschiedliche
Portionsgrößen werden nur selten angeboten. Kinder- oder Seniorenteller stellen
ein sehr eingeschränktes Angebot dar und weichen vom üblichen Kartenangebot
ab. Auch das Mitnehmen nicht verzehrter Reste ist hierzulande nicht üblich. Be-
sonders verschwenderisch sind Buffetangebote. Hier wird oft mehr als die
Hälfte der Esswaren entsorgt.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

mit folgenden Maßnahmen der Vernichtung und Verschwendung von Lebens-
mitteln entgegenzuwirken:

1. Erzeuger- und Verarbeitungsbetriebe sowie Groß- und Einzelhandel sollen
dazu angehalten werden, Maßnahmen gegen die Vernichtung und Ver-
schwendung von Lebensmitteln zu ergreifen. Dazu sollen größere Betriebe
laufend eine Warenbilanz veröffentlichen. Vermeidungsstrategien werden
dadurch nachvollziehbar. Die Halbierung der Menge an vermeidbarem Le-
bensmittelmüll bis 2020 soll als Ziel verbindlich festgeschrieben werden.

2. Die Wertschätzung von Lebensmitteln und verantwortungsvolle Kaufent-
scheidungen müssen durch mehr Transparenz in der Lebensmittelkette unter-

stützt werden. Die sozialen und ökologischen Bedingungen, unter denen Le-

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bensmittel erzeugt und verarbeitet werden, sind offenzulegen. Verbrauche-
rinnen und Verbraucher sowie Verbraucherschutzorganisationen müssen
dazu mittels Verbraucherinformationsgesetz (VIG) ein ungehindertes und
direktes Auskunftsrecht gegenüber den Unternehmen erhalten.

3. Hersteller und Handel sind anzuhalten, bedarfsgerechte Verpackungsgrößen
anzubieten, um den Kauf nicht benötigter Mengen zu vermeiden. Klein-
verpackungen müssen im Preis dem günstigerer Großformate angeglichen
werden. Für Waren wie Brot, Obst, Gemüse und Eier, die lose angeboten
werden können, sollte der Stückverkauf generell möglich sein.

4. Verträge im Handel dürfen keine Verpflichtungen wie den Zwang zur Vor-
haltung des vollen Sortiments bis Ladenschluss enthalten, die insbesondere
bei Frischwaren zwangsläufig zu Lebensmittelmüll führen.

5. Das Lebensmittelhandwerk, die ökologische und regionale Erzeugung und
Verarbeitung sowie örtliche Marktstrukturen sind durch den Bund konse-
quent zu fördern. Auch erzeugernahes und saisonbewusstes Einkaufen soll
gezielt unterstützt werden. Die Stärkung regionaler Strukturen vermindert
zudem die Vernichtung von Lebensmitteln durch weite Transportwege und
hohen Lagerungsaufwand im globalisierten Handel.

6. Güteklassen und Vermarktungsnormen sind aufzuheben. Wo Kundinnen
und Kunden Lebensmittel wie Obst, Gemüse und Eier einzeln auswählen
und auf ihre Qualität prüfen können, ist die Klassifizierung nicht nötig. Über
die Kundenauswahl erfolgt die Sortierung und Preisgestaltung von selbst.

7. In den Kindertagesstätten und Schulen muss neben einer guten Ernährungs-
bildung auch kritisches Konsumverhalten vermittelt werden. Werbung und
die Einflussnahme auf Lerninhalte durch Unternehmen an Schulen und Kin-
dertagesstätten sind grundsätzlich zu untersagen. Hierzu hat der Bund die
Initiative „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und
mehr Bewegung“ neu auszurichten.

8. Im Großhandel müssen Angebot und Nachfrage besser aufeinander abge-
stimmt werden. Insbesondere bei leicht verderblichen Waren kommt es hier
im Tagesgeschäft zu hohen Wegwerfraten. Der Bund soll dazu Maßnahmen
für den besseren und rechtzeitigen Datenaustausch zwischen Lieferanten
und Einzelhandel zur Ermittlung der tatsächlichen Tagesnachfrage gezielt
fördern.

9. Die Lebensmittelwirtschaft muss dazu angehalten werden, besser über die
tatsächliche Haltbarkeit und Verwendbarkeit von Esswaren zu informieren.
Der Einzelhandel soll zudem Lebensmittel rechtzeitig vor Ablauf des Min-
desthaltbarkeitsdatums (MHD) billiger anbieten. Dazu kann mittels Barcode
an der Kasse automatisch ein geringerer Preis ausgewiesen werden.

10. Es bedarf einer Umkehr der Rechtslage: Statt das „Containern“, also das
Fischen nach essbaren Lebensmitteln aus dem Müll, als Straftat zu verfol-
gen, sollte das unmittelbare Entsorgen von Lebensmitteln ohne den nach-
weislichen Versuch diese weiterzureichen geahndet werden. Der Handel
soll genießbare Waren nach Überschreitung des MHD an Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter, gemeinnützige Einrichtungen oder Bedürftige kostenfrei
weiterreichen.

11. Die Gastronomie, einschließlich Kantinen und Cateringunternehmen, soll
angehalten werden, bedarfsgerechte Portionen in unterschiedlichen Größen
anzubieten. Für Buffetangebote sollen Konzepte zur deutlichen Minderung
der Wegwerfrate gefördert werden. Der Staat muss seinerseits geeignete
haftungsrechtliche Voraussetzungen dafür schaffen, dass die Gastronomie

Lebensmittelüberschüsse an soziale Einrichtungen oder Bedürftige weiter-
reichen kann.

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12. Überschüsse aus der Erzeugung, der Verarbeitung, dem Handel und der
Gastronomie, die nicht zum Verzehr weitergereicht werden können, sollen
vorrangig der Verfütterung an Tiere zur Verfügung stehen. Dabei muss eine
geeignete Vorbehandlung sichergestellt und die Kannibalismusverfütterung
tierischer Essensreste ausgeschlossen werden. Darüber hinausgehende Le-
bensmittelabfälle sollen möglichst umfassend der Kompostierung oder ener-
getischen Verwendung in Bioenergieanlagen zur Verfügung stehen.

Berlin, den 16. Oktober 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

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