BT-Drucksache 17/10860

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung - Drucksachen 17/8233, 17/10857 - Entwurf eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher Vorschriften

Vom 26. September 2012


Deutscher Bundestag Drucksache 17/10860
17. Wahlperiode 26. 09. 2012

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Thomas Lutze, Katrin Kunert, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, Herbert Behrens, Karin Binder, Heidrun Bluhm, Steffen Bockhahn,
Roland Claus, Caren Lay, Sabine Leidig, Michael Leutert, Dr. Gesine Lötzsch,
Kornelia Möller, Jens Petermann, Ingrid Remmers, Dr. Ilja Seifert, Kersten Steinke,
Sabine Stüber, Alexander Süßmair und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung
– Drucksachen 17/8233, 17/10857 –

Entwurf eines Gesetzes zur Änderung personenbeförderungsrechtlicher
Vorschriften

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 des Europäischen Parla-
ments und des Rates vom 23. Oktober 2007 über öffentliche Personenverkehrs-
dienste auf Schiene und Straße und zur Aufhebung der Verordnungen (EWG)
Nr. 1191/69 und (EWG) Nr. 1107/70 des Rates erfordern gesetzliche Anpassun-
gen im deutschen Personenbeförderungsrecht. Das Ziel dieser Anpassungen
muss darin bestehen, das deutsche Personenbeförderungsrecht europarechtskon-
form zu gestalten, um insofern Rechtssicherheit herzustellen. Mit dem von der
Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf sowie den Änderungen der Frak-
tionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird dieses
Ziel nicht erreicht.

Aus dem Wortlaut der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 ergibt sich, dass der eu-
ropäische Gesetzgeber von einem weiten Anwendungsbereich der Verordnung
ausgeht. Ein bundesgesetzlicher Vorrang sogenannter kommerzieller Verkehre,
auf die die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 keine Anwendung findet, würde ih-
ren Anwendungsbereich deutlich begrenzen. Des Weiteren folgt aus der Verord-
nung (EG) Nr. 1370/2007, dass die Erteilung von Liniengenehmigungen und die
Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge aus einer Hand erfolgen müssen.

Gleichzeitig muss es unter den in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 näher de-
finierten Voraussetzungen die Möglichkeit der Direktvergabe geben.
Wenn bei der Novellierung der personenbeförderungsrechtlichen Vorschriften
die europarechtlichen Vorgaben nicht eingehalten werden, führt dies nicht nur zu
Rechtsunsicherheiten. Eine Beschneidung des Anwendungsbereichs der Verord-
nung (EG) Nr. 1370/2007 durch den nationalen Gesetzgeber führt auch dazu,
dass wichtige gesetzgeberische Intentionen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
nicht verwirklicht werden; so zum Beispiel die Möglichkeiten für die Aufgaben-
träger, Aufträge für Verkehrsdienstleistungen direkt zu vergeben und Qualitäts-

Drucksache 17/10860 – 2 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode

und Sozialstandards vorzugeben. Unterschiedliche behördliche Zuständigkeiten
für die Vergabe des Dienstleistungsauftrages und die Erteilung der Verkehrsge-
nehmigung führen dazu, dass im öffentlichen Personennahverkehr keine Pla-
nungssicherheit besteht.

Die Schaffung umfassender Barrierefreiheit sowohl im Personennahverkehr als
auch im Fernbuslinienverkehr ist ein wichtiger Schritt zur Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention. Zur Erreichung dieser Ziele sind begleitende
Maßnahmen des Bundes notwendig, ebenso ergänzende Regelungen zur Schaf-
fung von Barrierefreiheit bei Reisebussen und Taxis.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die personenbeförderungsrechtlichen Vorschriften in Deutschland so zu ändern,
dass sie mit den Vorgaben des europäischen Rechts vereinbar sind. Zur Ver-
meidung von Wertungswidersprüchen zwischen dem nationalen Recht und der
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 wird die Bundesregierung aufgefordert, das
nationale Personenbeförderungsrecht nach folgenden Maßgaben zu ändern:

1. Die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 findet bei allen Nahverkehrsleistungen
Anwendung.

2. Kommerzielle Verkehre genießen keinen gesetzlichen Vorrang.

3. Die Voraussetzungen echter Eigenwirtschaftlichkeit von Verkehrsleistungen
sind derzeit nur in seltenen Ausnahmefällen gegeben. Das gesetzliche Leit-
bild ist daher an einem öffentlichen Personennahverkehr zu orientieren, bei
dem der Erbringer der Verkehrsdienstleistungen für die ihm gewährten aus-
schließlichen Rechte Ausgleichsleistungen erhält.

4. Bei der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Verkehrsbereich sol-
len entsprechend den Regelungen in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007
zwingende Qualitäts- und Sozialstandards vorgegeben werden.

5. Die Zuständigkeit für die Erteilung von Liniengenehmigungen und anderen
ausschließlichen Rechten muss bei den Aufgabenträgern liegen. Genehmi-
gungen für Verkehrsdienstleistungen und die Gewährung öffentlicher Mittel
sind bei den Aufgabenträgern zu bündeln. Die bisherigen Genehmigungsbe-
hörden sind nur noch für die gewerberechtliche Genehmigung zuständig.

Berlin, den 25. September 2012

Dr. Gregor Gysi und Fraktion

Begründung

Zu den Nummern 1 und 2

Es ist ein weiter Geltungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 vorzuse-
hen. Ein Vorrang kommerzieller Verkehre hingegen wäre ein Verstoß gegen das
Gemeinschaftsrecht. CDU, CSU und FDP haben sich in ihrem Koalitionsvertrag
darauf verständigt, bei der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes den
Vorrang für so genannte kommerzielle Verkehre beizubehalten. Einen derartigen
Vorrang sieht die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 aber gerade nicht vor. Die
Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 selbst gilt für Verkehre, bei denen Betreiber
eine finanzielle Ausgleichsleistung erhalten und/oder ihnen ausschließliche

Rechte gewährt werden. Kommerzielle, rein marktwirtschaftliche Verkehre,

Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 3 – Drucksache 17/10860

werden nicht erfasst. Einen etwaigen Vorrang für kommerzielle oder eigenwirt-
schaftliche Verkehre enthält die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 hingegen
nicht. Es gibt lediglich in Erwägungsgrund 8 die Aussage, dass deregulierte
Märkte, in denen keine ausschließlichen Rechte gewährt werden, von der An-
wendung der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 ausgenommen sind. Dies bezieht
sich auf Konstellationen in Großbritannien, wo es einen Wettbewerb auch auf
einzelnen Linien gibt. Letzteres ist aber auch nach den beiden vorgelegten Ge-
setzentwürfen nicht vorgesehen. Versuche, den Anwendungsbereich der Verord-
nung (EG) Nr. 1370/2007 durch entsprechende gesetzliche Definitionen auf
nationaler Ebene anderweitig zu beschneiden, dürften einer europarechtlichen
Überprüfung nicht standhalten, da hierbei die tatsächlichen Verhältnisse des
deutschen öffentlichen Personennahverkehrs maßgeblich wären. Hinsichtlich der
Betriebs-, Beförderungs- und Tarifpflichten nach dem Personenbeförderungs-
gesetz (PBefG) wurde in der Vergangenheit auf europäischer Ebene bereits
höchstrichterlich festgestellt, dass diese Verpflichtungen des öffentlichen
Dienstes und damit gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen im Sinne des euro-
päischen Sekundärrechts darstellen (Urteil v. 5. Juli 2009, Rs. C 504/07, Rn. 18).
Als Ausgleich für diese Verpflichtung erhält der Inhaber einer Liniengenehmi-
gung das Recht, diese Linie exklusiv zu bedienen. Insoweit besteht zumindest
eine sonstige Ausgleichsleistung gemäß Artikel 2 Buchstabe g der Verordnung
(EG) Nr. 1370/2007. Die Europäische Kommission hat in ihrem Schreiben vom
25. Juni 2009 an die österreichische Regierung erklärt, dass nach ihrer Auffas-
sung „alle staatlichen Interventionen, die dazu dienen, einzelnen Unternehmen
[…] finanzielle oder marktzugangsrelevante Vorteile zu gewähren, ausnahmslos
der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007“ unterliegen.

Zu Nummer 3

Eine echte Eigenwirtschaftlichkeit des Nahverkehrs ist nur in seltenen Ausnahme-
fällen gegeben. Betrachtet man die tatsächlichen wirtschaftlichen Bedingungen
des öffentlichen Personennahverkehrs, stellt man fest, dass nahezu nirgendwo
Verkehrsleistungen in diesem Bereich erbracht werden, für die keine Aus-
gleichsleistungen fließen. Vor diesem Hintergrund sollte es die gesetzgeberische
Intention sein, die Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 mit einem möglichst weiten
Anwendungsbereich zu versehen. Die vorgelegten Gesetzentwürfe fordern hin-
gegen, dass die Verkehrsleistungen im Grundsatz eigenwirtschaftlich zu erbrin-
gen sind und statuieren damit ein gesetzliches Leitbild, das an der Realität und
der Einschätzung des europäischen Gesetzgebers vorbei geht.

Zu Nummer 4

Die Möglichkeit der Vorgabe von Sozialstandards bei der Vergabe öffentlicher
Dienstleistungsaufträge in der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 darf durch natio-
nales Recht nicht ausgehebelt werden. Für kommerzielle Verkehre, auf die die
Bestimmungen der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 keine Anwendung finden,
entfällt auch die Möglichkeit, bei Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge
Qualitäts- und Sozialstandards vorzugeben (Artikel 4 der Verordnung (EG)
Nr. 1370/2007). Dies beinhaltet u. a. die Auflage, im Falle eines Betreiberwech-
sels die Weiterbeschäftigung der Arbeitnehmer zu garantieren, indem der
Betreiberwechsel als Betriebsübergang im Sinne der Richtlinie 2001/23/EG
definiert wird.

Qualitätsstandards sollen zwar im Nahverkehrsplan festgelegt werden, dieser ist
jedoch dem Wortlaut des Änderungsantrags nach von der Genehmigungsbe-
hörde lediglich zu berücksichtigen (vgl. Nummer 1 Buchstabe c Doppelbuch-
stabe aa Buchstabe a der Beschlussempfehlung). Die verbindliche Einhaltung

dieser Qualitätsstandards wird hierdurch gerade nicht gewährleistet.

Drucksache 17/10860 – 4 – Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode
Zu Nummer 5

Die Aufgabenträger müssen auch für die Erteilung der Liniengenehmigungen
zuständig sein. Neben dem Versuch, die Wirksamkeit der Verordnung (EG)
Nr. 1370/2007 in Deutschland durch eine nationale gesetzliche Verengung des
Anwendungsbereichs zu begrenzen, enthalten die vorgelegten Gesetzentwürfe
auch Regeln, die vorsehen, dass ein Verkehrsunternehmen, welches einen
Dienstleistungsauftrag nach der Verordnung (EG) Nr. 1370/2007 erhalten hat,
zusätzlich die Genehmigung einer staatlichen Behörde einholen muss, um den
Dienstleistungsauftrag erfüllen zu dürfen. Die eigentliche Betriebspflicht soll
nach beiden Gesetzentwürfen nicht direkt aus dem Dienstleistungsauftrag son-
dern aus der Genehmigung der staatlichen Behörde folgen. Für diese herrscht je-
doch keine volle Verbindlichkeit des durch den kommunalen Aufgabenträger
aufgestellten Nahverkehrsplans. Der staatlichen Genehmigungsbehörde steht
nach den vorgelegten Gesetzentwürfen ein Ermessenspielraum zu, wonach sie
auch Verkehre genehmigen kann, die nicht den Vorgaben des Nahverkehrsplans
entsprechen. Der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag kommen in
ihrer gemeinsamen Stellungnahme vom 23. Februar 2012 zu dem Schluss, dass
dadurch „ein Unterschreiten der Vorgaben des Nahverkehrsplans in quantita-
tiver Hinsicht (z. B. Fahrplan und Taktung) und qualitativer Hinsicht (z. B. be-
hindertengerechte Fahrzeugspezifikationen, Vorgaben zur Sicherheit im ÖPNV)
ebenso wie insbesondere auch ein ‚zeitliches‘ Rosinenpicken durch das selek-
tive Bedienen zu bestimmten lukrativen Hauptzeiten (Berufsverkehrs-/Stoßzei-
ten, Fokussierung auf Schulbeginn und -ende)“ möglich sind (Drucksache
17(15)340-G des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung des Deut-
schen Bundestages, S. 4). Um sicherzustellen, dass die (kommunalen) Auf-
gabenträger ihrer Verantwortung für Planung, Organisation und Finanzierung
des öffentlichen Personennahverkehrs gerecht werden können, muss daher ge-
setzlich klargestellt werden, dass sie die entsprechende Entscheidungsbefugnis
haben. Die Prüfungskompetenz der staatlichen Genehmigungsbehörde muss
sich auf die gewerberechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen beschränken.

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