BT-Drucksache 16/9643

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung -16/6562- Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9643
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Beschlussempfehlung und Bericht
des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)

zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
– Drucksache 16/6562 –

Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der nachträglichen
Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht

A. Problem

Der Gesetzentwurf sieht vor, dass in Fällen schwerster Verbrechen gegen das
Leben, die körperliche Unversehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung
sowie in Fällen von Raub- oder Erpressungstaten mit Todesfolge durch eine
Ergänzung von § 7 des Jugendgerichtsgesetzes auch bei Verurteilungen nach
Jugendstrafrecht die nachträgliche Anordnung einer Sicherungsverwahrung er-
möglicht werden soll. Voraussetzung hierfür ist, dass die Tat mit einer schweren
seelischen oder körperlichen Schädigung oder Gefährdung des Opfers verbun-
den war und wegen ihr eine Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren ver-
hängt wurde. Wenn aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung unter
Einschluss der Entwicklung während des Vollzugs der Jugendstrafe mit hoher
Wahrscheinlichkeit von dem Betroffenen künftige Straftaten entsprechender
Art zu erwarten sind, kann das Gericht die Sicherungsverwahrung nachträglich
anordnen.

Bei derartigen Verbrechen soll daneben die Möglichkeit der nachträglichen An-
ordnung der Sicherungsverwahrung im Jugendstrafrecht für Fälle geschaffen
werden, in denen die Erledigung einer Unterbringung in einem psychiatrischen
Krankenhaus ansteht, aber von einer fortdauernden großen Gefährlichkeit des
Betroffenen auszugehen ist.

Für Fälle, in denen eine nachträgliche Sicherungsverwahrung nach Jugendstraf-
recht in Betracht kommt, wird die generelle Zuständigkeit der Jugendkammer
bereits als erkennendes Gericht des ersten Rechtszugs festgelegt.

Die Vollstreckung einer nach Jugendstrafrecht verhängten Sicherungsverwah-
rung erfolgt nach den allgemeinen Vorschriften. Die Fortdauer einer solchen

Unterbringung ist regelmäßig nach einem Jahr zu überprüfen.

B. Lösung

Annahme des Gesetzentwurfs mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/
CSU und SPD gegen die Stimmen der Fraktionen FDP, DIE LINKE. und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Drucksache 16/9643 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

C. Alternativen

Keine

D. Kosten

Wurden im Ausschuss nicht erörtert.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/9643

Beschlussempfehlung

Der Bundestag wolle beschließen,

den Gesetzentwurf auf Drucksache 16/6562 unverändert anzunehmen.

Berlin, den 18. Juni 2008

Der Rechtsausschuss

Andreas Schmidt (Mülheim)
Vorsitzender

Dr. Jürgen Gehb
Berichterstatter

Joachim Stünker
Berichterstatter

Jörg van Essen
Berichterstatter

Wolfgang Neskovic
Berichterstatter

Jerzy Montag
Berichterstatter

Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung

werde in der Praxis scheitern und auch rechtlich keinen Be-
stand haben. Der Bundesgerichtshof (BGH) habe zwar ent-
schieden, dass die Sicherungsverwahrung nicht gegen das
Verbot der Doppelbestrafung verstoße. Diese Entscheidung

5. Edwin Pütz Richter am Amtsgericht,
Vollzugsleiter der Jugend-
arrestanstalt Düsseldorf

6. Dr. Gerhard Schäfer Vorsitzender Richter am
Drucksache 16/9643 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Bericht der Abgeordneten Dr. Jürgen Gehb, Joachim Stünker, Jörg van Essen,
Wolfgang Neskovic und Jerzy Montag

I. Überweisung

Der Deutsche Bundestag hat den Gesetzentwurf auf Druck-
sache 16/6562 in seiner 127. Sitzung am 16. November
2007 in erster Lesung beraten und dem Rechtsausschuss zur
federführenden Beratung sowie dem Innenausschuss und
dem Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
zur Mitberatung überwiesen.

II. Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse

Der Innenausschuss hat in seiner 71. Sitzung am 18. Juni
2008 mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD gegen die Stimmen der Fraktionen FDP, DIE LINKE.
und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN beschlossen, die An-
nahme des Gesetzentwurfs zu empfehlen.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
hat in seiner 60. Sitzung am 18. Juni 2008 mit den Stimmen
der Fraktionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen
der Fraktionen FDP, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN beschlossen, die Annahme des Gesetzentwurfs
zu empfehlen.

III. Beratungsverlauf und Beratungsergebnisse im
federführenden Ausschuss

Der Rechtsausschuss hat den Gesetzentwurf auf Drucksache
16/6562 in seiner 89. Sitzung am 20. Februar 2008 beraten
und beschlossen, hierzu eine öffentliche Anhörung durchzu-
führen, die am 28. Mai 2008 (103. Sitzung) stattgefunden
hat. An dieser Anhörung nahmen folgende Sachverständige
teil:

Hinsichtlich des Ergebnisses der Anhörung wird auf das
Protokoll der 103. Sitzung des Rechtsausschusses vom
28. Mai 2008 mit den anliegenden Stellungnahmen der
Sachverständigen verwiesen.

Die Fraktion DIE LINKE. führte aus, sie teile das Interesse
der Allgemeinheit an einem effektiven Schutz vor als hoch-
gefährlich angesehenen Tätern. Bei der Sicherungsverwah-
rung werde mit Mitteln des Strafrechts in den Bereich ein-
gegriffen, der im Übrigen im Bereich der Gefahrenabwehr
dem Polizeirecht zugeordnet werde. Aus gutem Grund sei
dieses Instrument daher bisher sehr sensibel und als abso-
lute Ausnahme gehandhabt worden. Seit 1998 sei trotz zu-
rückgehender Kriminalitätszahlen in dem entsprechenden
Bereich eine starke Ausweitung der Möglichkeit zur Anord-
nung von Sicherungsverwahrung zu beobachten.

Gegen die Einführung der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung bei Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht
sprächen folgende Gründe: Wie bereits ein Sachverständi-
ger in der Anhörung im Rechtsausschuss ausgeführt habe,
sei aufgrund des außergewöhnlichen Umfelds eine Prog-
nose über die weitere Gefährlichkeit von jugendlichen
Straftätern, die sich in Strafhaft befänden, nicht möglich.
Aus einer Anlasstat alleine lasse sich nicht auf einen
„Hang“ zu Straftaten – also auf eingeschliffene Verhaltens-
muster – schließen. Selbst wenn bei einem Jugendlichen ein
Hang zu Straftaten bestehe, könne dieser gerade in der
Strafhaft wegen des besonderen Entwicklungsstadiums, in
dem er sich befinde, abgebaut werden. Es gebe also keine
seriöse Beurteilungsgrundlage für die erforderliche Progno-
seentscheidung.

Die mögliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wider-
spreche dem Erziehungsgedanken des Jugendstrafrechts.
Die durch den Gesetzentwurf eingeräumte Möglichkeit der
nachträglichen Sicherungsverwahrung habe negative Aus-
wirkungen auf die Vollzugspläne auch solcher Personen, die
zwar die sonstigen formellen Voraussetzungen für die nach-
trägliche Anordnung der Sicherungsverwahrung erfüllen
würden, denen aber gegen Ende des Strafvollzugs eine posi-
tive Prognose ausgestellt werde. Dies widerspreche auch
dem Vollzugsziel der Resozialisierung.

1. Christine Graebsch Rechtsanwältin, Lehr-
beauftragte an der
Universität Bremen,
Bremer Institut für
Kriminalpolitik

2. Prof. Dr. Jörg Kinzig Eberhard-Karls-
Universität Tübingen,
Lehrstuhl für Strafrecht und
Strafprozessrecht

3. Matthias Konopka Leiter der Justizvollzugs-
anstalt Straubing

4. Prof. Dr. Arthur Kreuzer Direktor am Institut
für Kriminologie an
der Justus-Liebig-
Universität Gießen e. V.

7. Dr. Dieter Seifert Privatdozent, Institut
für Forensische Psy-
chiatrie der Universität
Duisburg-Essen,
Rheinische Kliniken Essen

8. Thomas Ullenbruch Richter am Amtsgericht
Emmendingen.
beziehe sich aber gerade nicht auf die Sicherungsverwah-
rung von nach Jugendstrafrecht Verurteilten.

Bundesgerichtshof a. D.,
Stuttgart

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/9643

Aus den genannten Gründen stellte die Fraktion DIE
LINKE. folgenden Entschließungsantrag:

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das Institut der Sicherungsverwahrung als einschnei-
dendste Maßregel des Strafrechts ist rechtspolitisch, ver-
fassungs- und völkerrechtlich höchst umstritten, weil es das
lebenslange Wegsperren eines Menschen ohne Schuld-
grundlage ermöglicht. Unabhängig hiervon ist in den letz-
ten Jahren eine wahre Gesetzesflut in diesem Bereich zu
verzeichnen. So wurde 1998 die Möglichkeit der Anordnung
der Sicherungsverwahrung auf bis zu diesem Zeitpunkt
nicht erfasste Fallgruppen erstreckt und die bis dahin bei
der ersten Anordnung zeitlich grundsätzlich auf zehn Jahre
befristete Maßregel durch Streichung der Höchstfrist – auch
rückwirkend – in eine potentiell lebenslange Freiheitsent-
ziehung verändert. 2002 wurde die Möglichkeit der Anord-
nung einer vorbehaltenen Sicherungsverwahrung einge-
führt (§ 66a StGB). Seit 2004 ist die nachträgliche Anord-
nung der Sicherungsverwahrung auch dann möglich, wenn
im Urteil kein entsprechender Vorbehalt enthalten ist (§ 66b
StGB). Ebenfalls im Jahre 2004 wurden die vorbehaltene
und die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Heran-
wachsende eingeführt und letztere genauso wie die nach-
trägliche Sicherungsverwahrung gegenüber Erwachsenen
im Jahr 2007 noch weiter verschärft. Den vorläufigen Hö-
hepunkt dieser Entwicklung stellt der von der Bundesregie-
rung am 4. Oktober 2007 vorgelegte Gesetzentwurf zur
Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei
Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht dar (Bundes-
tagsdrucksache 16/6562). Damit werden die überaus kom-
plizierten, auch für professionelle Rechtsanwenderinnen
und Rechtsanwender kaum verständlichen Regelungen über
die Sicherungsverwahrung noch unübersichtlicher und von
weiteren Wertungswidersprüchen durchzogen.

2. Den fortwährenden Ausweitungen des Anwendungsbe-
reichs der Sicherungsverwahrung entsprechend hat auch
die praktische Bedeutung der Sicherungsverwahrung seit
Mitte der 90er Jahre stark zugenommen, obwohl die Verur-
teilungszahlen im Bereich der relevanten Schwerstkrimina-
lität stabil oder gar rückläufig waren. Befanden sich 1996
noch 176, 2003 306 und 2005 350 Untergebrachte in Siche-
rungsverwahrung (Vgl. Stat. Bundesamt FS 10, R.4.1.) wa-
ren es zum Stichtag 31. März 2007 bereits 415 (Vgl. Kleine
Anfrage der Fraktion DIE LINKE. 16/9051). Expertinnen
und Experten gehen davon aus, dass sich die Sicherungs-
verwahrtenzahlen angesichts der Verschärfungen innerhalb
der nächsten Jahre noch vervielfachen werden. Sind bereits
jetzt viele Justizvollzugsanstalten am Rande ihrer Aufnah-
mekapazitäten, verschärft sich die Vollzugssituation noch
dadurch, dass die Altersunterschiede zwischen den Insassen
immer weiter ansteigen. Vor allem die Neuregelungen, die
Heranwachsende oder nach dem Jugendstrafrecht Verur-
teilte betreffen, bewirken, dass immer mehr junge Unterge-
brachte sich im Maßregelvollzug wiederfinden werden. Zu-
gleich ist nach dem Wegfall der Zehn-Jahres-Begrenzung
eine größere Anzahl älterer Sicherungsverwahrter unterge-
bracht. So waren 2006 rund 25% der Sicherungsverwahrten
60 Jahre oder älter. Damit stellt sich mehr denn je die

dem allgemeinen Strafvollzug und dem Vollzug der Siche-
rungsverwahrung gewahrt bleibt, der den allein spezialprä-
ventiven Charakter der Maßregel sowohl dem Verwahrten
als auch für die Allgemeinheit deutlich macht (BVerfG in
NJW 2004, 739, 744).“

3. Wie die vorangegangen Regelungen der nachträglichen
Sicherungsverwahrung verkennt auch der jetzige Entwurf
zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht die negativen
Folgen der bloßen Möglichkeit einer späteren Anordnung
der nachträglichen Sicherheitsverwahrung für die Resozia-
lisierungsbemühungen im Strafvollzug. Über etwa 7 000 bis
10 000 betroffenen Gefangenen im Erwachsenenvollzug und
mehr als 200 Betroffenen im Jugendstrafvollzug, die die for-
mellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung erfüllen, schwebt das Damoklesschwert der mög-
lichen Anordnung. Die Strafvollzugsinsassen können keine
eigene Lebensplanung entwerfen, da sie nicht wissen, ob
und wann sie damit rechnen können, wieder in Freiheit zu
gelangen. Diese Unsicherheit wird dadurch weiter ver-
stärkt, dass einerseits prognoserelevante negative Tat-
sachen aus Therapien gegen die Gefangenen verwendet
werden können, andererseits der Verzicht auf eine Therapie
den Betroffenen gleichfalls negativ angerechnet werden
kann, die Insassen also nicht wissen, wie sie sich während
des Vollzuges verhalten sollen. Endgültig unvorhersehbar
wird die Entscheidung über die Anordnung der nachträg-
lichen Sicherungsverwahrung für die Betroffenen durch den
Verzicht auf das Erfordernis neuer Tatsachen, aus denen
sich die Gefährlichkeit der oder des Verurteilten ergeben
muss, ausgerechnet für die besonders schutzbedürftigen
jungen Gefangenen. Ausschließlich nach jugendstrafrechtli-
chen Verurteilungen kann nämlich kurz vor der Haftentlas-
sung trotz vorbildlichen Vollzugsverhaltens und ohne ge-
fährlichkeitsrelevante Feststellungen im Anlassurteil Siche-
rungsverwahrung aufgrund der viele Jahre zuvor in der An-
lasstat hervorgetreten Gefährlichkeit angeordnet werden.
Diese Gesamtsituation erschwert einen am Resozialisie-
rungs- oder Erziehungsgedanken ausgerichteten Strafvoll-
zug erheblich.

4. Durch die von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe unter
Federführung des Landes Sachsen-Anhalt im Sommer 2005
erarbeiteten „Hinweise zur nachträglichen Sicherungsver-
wahrung“ und die diesbezügliche Checkliste zur Prüfung
der formellen Voraussetzungen der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung wurde diese Unsicherheit für alle Insas-
sen, die die formellen Voraussetzungen der Anordnung
nachträglicher Sicherungsverwahrung erfüllen, institutio-
nalisiert. Nach den Hinweisen bzw. der Checkliste erfolgt
bei Vorliegen der formellen Voraussetzungen regelmäßig
eine Überprüfung der Gefährlichkeit der Betroffenen, ob-
wohl der Gesetzestext aller einschlägigen Normen eigent-
lich ein umgekehrtes Vorgehen zwingend macht. Erst das
Vorliegen von (neuen) Tatsachen, die auf eine erhebliche
Gefährlichkeit der oder des Verurteilten hindeuten, dürfte
nach deren Wortlaut das Prüfungsverfahren in Gang setzen.
Auch die wiederholten Äußerungen der Bundesjustizminis-
terin Zypries, die Sicherungsverwahrung müsse „ultima
ratio“ sein und betreffe nur eine „verschwindend geringe
Zahl“ von Fällen (Vgl. PE des BMJ vom 10. März 2004 und
Frage, wie es den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspre-
chend gewährleistet sein soll, dass „ein Abstand zwischen

vom 18. Juli 2007 sowie Spiegel-Online vom 18. Juli 2007)
sind nur vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses

Drucksache 16/9643 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

zu erklären. In der durch die genannten „Hinweise“ ge-
prägten Vollzugsrealität wird jedoch die Erfüllung der for-
mellen Voraussetzungen der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung bei Strafantritt in der Vollstreckungsakte mit der
Folge vermerkt, dass bei Tausenden Betroffenen alle mög-
licherweise prognoserelevanten Auffälligkeiten aufgeklärt
und gerichtsverwertbar aktenkundig gemacht werden müs-
sen. Betroffene werden so von Anfang an stigmatisiert, einer
Sonderüberwachung unterworfen und von Vollzugslocke-
rungen weitgehend ausgenommen. Die Umkehrung der
Prüfungsreihenfolge erhöht die Chance der Anordnung der
Maßregel deutlich, welche dadurch tendenziell ihren Aus-
nahmecharakter verliert. Die unsichere Situation liefert die
Insassen den Disziplinierungswünschen der Vollzugsbe-
diensteten wie Erpressungsversuchen der Mitgefangenen
aus, da jede Meldung über tatsächliches oder vermeintli-
ches auffälliges Verhalten aus Sicht der Gefangenen zu
potentiell lebenslanger Wegsperrung führen kann. Die be-
stehenden Unsicherheiten beschädigen das Verhältnis der
Betroffenen zu Vollzugsbediensteten und Mitgefangenen
gleichermaßen und beeinträchtigen darüber hinaus das ge-
samte Vollzugsklima.

5. Über die vorgenannten, gegenüber dem vorliegenden
Entwurf zur Einführung der nachträglichen Sicherungsver-
wahrung bei Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht
(Bundestagsdrucksache 16/6562) ebenfalls zutreffenden
Kritikpunkte hinaus, ergeben sich diesem gegenüber spezi-
elle Bedenken. Die geplanten Vorschriften führen dazu, dass
die Sicherungsverwahrung gegenüber den Betroffenen ne-
ben einer Verurteilung zu einer siebenjährigen Haftstrafe
aufgrund bestimmter Delikte nur noch von der Gefährlich-
keitsprognose abhängt. Weder Vorverurteilungen, noch ein
Hang zur Begehung erheblicher Straftaten oder neue Tat-
sachen, aus denen auf die Gefährlichkeit der oder des Ver-
urteilten geschlossen werden kann, werden nach dem Ent-
wurf als materielle Erfordernisse vorausgesetzt. Damit
kommt der Kriminalprognose eine überragende Bedeutung
zu, der die Prognosemethoden insbesondere vor dem Hin-
tergrund der noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeits-
bildung junger Menschen nicht gerecht werden. Die gängi-
gen Rückfallprognoseinstrumentarien sind höchst mangel-
haft und verwenden oft unreflektierte multifaktorielle
Ansätze, bei denen unterschiedlichste Faktoren für die Ent-
stehung von als kriminell betrachtetem Verhalten schlicht
addiert werden, ohne dass die Art, das Gewicht und das Zu-
sammenspiel dieser Faktoren angemessen berücksichtigt
würden. Naturgemäß werden gesellschaftliche Faktoren der
Gefährlichkeit immer den Betroffenen zugerechnet, weil
sich das gesamte Maßregelkonzept auf Individuen richtet.
Gerade Delikte von jungen Menschen erfolgen aber häufig
aus Gruppenzusammenhängen und ihrer Dynamik heraus.
Durch neuere kriminologische Studien, in denen die Ent-
wicklung von Menschen über mehrere Lebensalter beobach-
tet werden konnte, wurde die Annahme widerlegt, es gäbe
eine sich bereits früh entwickelnde persönlichkeitsbedingte
Neigung zur Kriminalität (vgl. insbesondere die Arbeiten
von Sampson und Laub, Crime in the making 1995, Shared
Beginning, Divergent Lives: Delinquent Boys to Age 70,
2003). Die mit der Sicherungsverwahrung in den Blick ge-
nommene Kategorie eines persönlichkeitsbedingt gefähr-

Unabhängig von dieser Grundsatzproblematik wird die
Prognose durch die Prognosesituation im Strafvollzug
noch weiter erschwert. Dieser ist eine Kunstwelt, die keine
Verhaltensprognosen bezüglich des Verhaltens außerhalb
ihrer selbst erlaubt. Die im Vollzug äußerst eingeschränkten
Möglichkeiten, eigene Ziele zu erreichen und die unabhän-
gig von ihrer Berechtigung entstehende Verantwortungszu-
schreibung für solche Autonomiebeschränkungen an das
Personal führen zu einem diesem spezifischen Ort ange-
passten Verhalten, das keine Schlüsse auf das Verhalten
nach Aufhebung dieser Autonomiebeschränkungen zulässt.
Aber auch ganz grundsätzlich ist es rechtsstaatlich inakzep-
tabel, die gesetzliche Möglichkeit dafür zu eröffnen, einen
jungen Menschen, der als Jugendlicher eine einzige schwer-
wiegende Straftat begangen hat, aufgrund unsicherer Prog-
nosen potentiell lebenslänglich wegzusperren.

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

zeitnah eine aus Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern,
Gesellschaftswissenschaftlerinnen und Gesellschaftswissen-
schaftlern, Expertinnen und Experten des Straf-, Polizei-
und Verfassungsrechts sowie psychiatrischen und krimino-
logischen Sachverständigen bestehende Kommission einzu-
setzen, die zunächst Feststellungen zu einem außerhalb des
Schuldstrafrechts bestehenden Handlungsbedarf zum Schutz
vor Wiederholungstäterinnen und Wiederholungstätern al-
ler Altersgruppen trifft und gegebenenfalls neue Vorschläge
für eine stimmige und verfassungsrechtlich unbedenkliche
materiell-, verfahrens- und vollzugsrechtliche Lösung erar-
beitet.

Begründung

Die Sicherungsverwahrung ist sowohl die schärfste als auch
umstrittenste Sanktion des deutschen Rechts. Durch die
Vielzahl von Änderungen in den letzten Jahren sind die dies-
bezüglichen Regelungen unübersichtlich, unnötig kompli-
ziert und von Wertungswidersprüchen geprägt.

Der nun vorgelegte Entwurf zur Einführung der nachträgli-
chen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach dem
Jugendstrafrecht (Bundestagsdrucksache 16/6562) stellt so-
wohl historisch als auch im internationalen Vergleich eine
Neuerung dar, welche Anlass bietet, das Gesamtsystem der
Sicherungsverwahrung einer grundsätzlichen Überprüfung
zu unterziehen. Insoweit erscheint es geboten, eine interdis-
ziplinäre Expertengruppe zusammenzustellen, die sich mit
den theoretischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen
sowie den praktischen Bedürfnissen eines staatlichen Schut-
zes vor Wiederholungstätern aller Altersstufen auseinander-
setzt. Eine aus Justizpraktikerinnen und Justizpraktikern,
Gesellschaftswissenschaftlerinnen und Gesellschaftswissen-
schaftlern, Experten des Straf-, Polizei- und Verfassungs-
rechts sowie psychiatrischen und kriminologischen Sach-
verständigen bestehende Kommission erscheint geeignet,
ein stimmiges und verfassungsrechtlich unbedenkliches Ge-
samtkonzept des gesellschaftlichen Umgangs mit schwerer
Wiederholungskriminalität zu erstellen.

Der Entschließungsantrag wurde mit den Stimmen der Frak-
tionen der CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen
der Fraktion DIE LINKE. bei Stimmenthaltung der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt.
lichen jungen Menschen ist daher aus erfahrungswissen-
schaftlicher Sicht obsolet.

Die Fraktion der CDU/CSU ging auf die Stellung der
Sicherungsverwahrung als Schnittstelle zwischen Strafe und

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/9643

polizeirechtlichem Gefahrenrecht ein. Dieses Spannungsfeld
sei im Rechtsausschuss bereits bei der nachträglichen Siche-
rungsverwahrung für Erwachsene hinreichend diskutiert
worden. Schließlich habe das Bundesverfassungsgericht
zum einen festgestellt, die Sicherungsverwahrung gehöre in
den Bereich des Strafrechts und sei somit im Strafgesetz-
buch (StGB) zu regeln. Zum anderen habe es die verfas-
sungsrechtlich schwierigen Fragen zum Verbot der Doppel-
bestrafung, zur echten und unechten Rückwirkung, zum
Vertrauensschutz und zur Verhältnismäßigkeit umfassend
geklärt. Zu diesen Fragen habe die Sachverständigenan-
hörung keinen Erkenntnisgewinn ergeben. Der Gesetzent-
wurf betreffe nur den Umgang mit nach Jugendstrafrecht
verurteilten Tätern, die angesichts des Beginns der Straf-
mündigkeit mit 14 Jahren und des Erfordernisses einer min-
destens siebenjährigen Haftstrafe mit mindestens 21 Jahren
stets das Erwachsenenalter erreicht hätten. Im Übrigen
werde eine siebenjährige Jugendstrafe nur bei schwersten
Delikten verhängt. Insofern dürfe nicht der Eindruck er-
weckt werden, die Sicherheitsverwahrung könne anlasslos
oder bei einem geringen Anlass angeordnet werden. Viel-
mehr seien die Anforderungen sehr hoch und würden ein-
mal jährlich gerichtlich überprüft und nicht nur wie im
Erwachsenenstrafrecht alle zwei Jahre. Nichtsdestotrotz sei
die Gefährlichkeitsprognose im Rahmen der Entscheidung
über die Anordnung der Sicherungsverwahrung wie jede
Prognoseentscheidung, so auch beispielsweise bei der Aus-
setzung einer Strafe zur Bewährung, mit einer gewissen
Unsicherheit behaftet; dennoch müsse sie auf empirischen
Daten beruhen. Das der Anordnung vorausgehende Verfah-
ren trage strengsten forensischen und sonstigen rechtsstaat-
lichen Kautelen Rechnung.

Problematisch könnte lediglich allenfalls der Verzicht auf
das Vorliegen neuer Tatsachen (Nova) im Sinne des § 66b
StGB sein. In diesem Zusammenhang bestehe allerdings das
Problem, dass je höher die kriminelle Energie einer Aus-
gangstat sei, die neue Tatsache umso schwerwiegender sein
müsse, so dass die Gefahr einer Privilegierung für Täter mit
besonders hoher krimineller Energie bestehe. Letztendlich
verblieben nach der Rechtsprechung des BGH nur noch Tö-
tungsdelikte als neue Tatsache. Maßstab bei Haftentlassung
sollte deshalb sein, inwieweit der Bevölkerung die Freiheit
eines gefährlichen Täters zumutbar sei. Aufgrund der Natur
der Sache sei es zudem bei einem 14- oder 15-jährigen Täter
unmöglich, schon bei der Verurteilung die Möglichkeit der
Sicherungsverwahrung vorzusehen. Daher werde der Täter
zum Zeitpunkt der Entlassung durch zwei nicht vorher be-
teiligte Sachverständige begutachtet.

Eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte (EGMR) sei nicht abzuwarten. Der Deutsche
Bundestag solle den Gesetzentwurf nach seiner eigenen ver-
fassungsrechtlichen Überzeugung unabhängig von mög-
lichen künftigen Gerichtsentscheidungen verabschieden.

Es handele sich um ein gutes Gesetz, das eine praktische
Konkordanz zwischen dem Schutzbedürfnis der Bevölke-
rung und dem Vertrauensschutz des Straftäters erreiche und
welches ein weiteres Mal die gute Zusammenarbeit der
Koalitionsfraktionen der CDU/CSU und SPD auf dem Ge-
biet der Rechtspolitik unter Beweis stelle.

Verurteilungen nach dem Jugendstrafrecht sei keine leichte
Entscheidung gewesen. Allerdings seien die ursprünglichen
grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken zur Si-
cherungsverwahrung durch die Entscheidungen des Bun-
desverfassungsgerichts im Jahr 2004 ausgeräumt worden.
Dies gelte auch für eine nachträgliche Sicherungsverwah-
rung von zur Tatzeit jugendlichen Straftätern. Zwar sei der-
zeit noch ein Verfahren vor dem EGMR zur Sicherungsver-
wahrung anhängig. Trotz der bald terminierten mündlichen
Verhandlung sei der Zeitpunkt der Entscheidung aber noch
ungewiss. Sollte der EGMR anders als die deutschen Ge-
richte entscheiden, stelle sich ein neues verfassungsrechtli-
ches Problem, das es dann zu lösen gelte.

Die Fraktion wies auf die Voraussetzungen für die nachträg-
liche Anordnung einer Sicherungsverwahrung hin. Diese
könne nur angeordnet werden, wenn Jugendliche schwerste
Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrheit
oder die sexuelle Selbstbestimmung aufgrund von solchen
Persönlichkeitsstörungen begingen, die nicht an eine krank-
hafte Störung im Sinne der §§ 20, 21 StGB heranreiche und
der Täter zu einer Haftstrafe von mindestens sieben Jahren
verurteilt worden sei. Ferner müsse die Wahrscheinlichkeit
für einen Rückfall sehr hoch sein. Über die Anordnung
werde nach einer neuen Hauptverhandlung nach Anhörung
von zwei unabhängigen Gutachtern entschieden. Auf der
Grundlage dieser Gutachten müsse sich das Gericht – eine
große Strafkammer – eigenständig die Überzeugung von der
weiteren Gefährlichkeit des Täters bilden. Nur in diesen ex-
tremen Ausnahmefällen könne die Sicherungsverwahrung
angeordnet werden. Das gesamte Verfahren genüge daher
strengsten rechtsstaatlichen Anforderungen.

Angesichts der Kritik einiger Sachverständiger in der Anhö-
rung unterstrich die Fraktion, dass sie ausdrücklich keine
„Gefälligkeitssachverständigen“ einlade. Jedoch müsse ihr
vorbehalten bleiben, aus der Anhörung eigene Schlüsse zu
ziehen.

Bereits seit einiger Zeit arbeiteten das Bundesministerium
der Justiz und die Fraktionen der CDU/CSU und SPD an
einer Reform des Gesamtsystems der Sicherungsverwah-
rung, um die entsprechenden Vorschriften lesbarer und über-
schaubarer zu gestalten. Eine solche Reform sei jedoch
nicht innerhalb weniger Monate möglich.

Die Fraktion der SPD verwies ausdrücklich auf die Verant-
wortung, die der Gesetzgeber gegenüber der Allgemeinheit
habe, eine Wiederholung schwerster Straftaten soweit wie
möglich zu verhindern.

Nach Auffassung der Fraktion der FDP stelle sich die ver-
fassungsrechtliche Beurteilung der Sicherheitsverwahrung
im Jugendstrafrecht anders dar als im Erwachsenenstraf-
recht. Dies habe auch ein Sachverständiger in der Anhörung
unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts mit dem kritischen Hinweis auf den
Grundsatz ne bis in idem in nachvollziehbarer Weise erläu-
tert. Von den an der Anhörung beteiligten Sachverständigen
hätten ohnehin nur zwei aus der Vollzugspraxis kommende
Sachverständige den Gesetzentwurf unterstützt, alle ande-
ren hätten die Neuregelung abgelehnt. Auch deren Argu-
mente sollten ernst genommen werden. Einer der renom-
miertesten gerichtlichen Sachverständigen auf dem Gebiet
Die Fraktion der SPD erklärte, die Einführung der Mög-
lichkeit einer nachträglichen Sicherungsverwahrung für

der Psychiatrie habe erklärt, er sehe sich nicht in der Lage,
bei zur Tatzeit jugendlichen Tätern, die oftmals in ihrer Ent-

Drucksache 16/9643 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

wicklung erheblich retardiert seien, nach langer Haftdauer
eine sichere Prognose treffen zu können. Der Gesetzgeber
stehe daher in einer schwerwiegenden Verantwortung –
einerseits gegenüber der zu schützenden Bevölkerung
und den Angehörigen der Opfer, andererseits gegenüber
denjenigen, denen die Freiheit genommen werde, obwohl
diese Maßnahme vielleicht gar nicht angezeigt gewesen
wäre. Wenn selbst Psychiater äußerten, dass ihnen eine
Prognose unmöglich sei, könne der Gesetzgeber die Neu-
regelung nicht verantworten.

Die Beschränkung des Instruments der Sicherheitsverwah-
rung als rechtsstaatliche Ausnahmemaßnahme sei in der
jüngeren Vergangenheit auch als Reaktion auf schwierige
Einzelfälle erheblich aufgeweicht worden. Da diese Ände-
rungen nicht organisch gewachsen seien, sollte die Anre-
gung aus der Anhörung aufgenommen werden, ein in sich
stimmiges Gesamtsystem der Sicherheitsverwahrung zu
entwickeln.

Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erklärte, man
könne das Problem vom Einzelfall aus betrachten. Auch sie
erkenne an, dass es einen sehr problematischen Einzelfall
gebe, bei dem auch der Gesetzgeber in der Verantwortung
stehe. Die andere Sichtweise betreffe das gesamte System
der Sicherungsverwahrung. Die Anzahl der Sicherungsver-
wahrten steige seit 1990 kontinuierlich, ohne dass die ent-
sprechende schwere Gewaltkriminalität zunehme. Viel-
mehr sei 2006 in 20 Prozent der Fälle die Sicherungsver-
wahrung wegen nichtgewalttätiger Kriminalität angeordnet
worden. Dies sei eine schlechte Entwicklung. Die Ursachen
hierfür sollten ebenso erforscht werden wie die Frage, was
im Strafvollzug geschehe, um Rückfälle zu vermeiden.

Die Fraktion erklärte, in der Sachverständigenanhörung hät-
ten sich nur die Leiter von Justizvollzugsanstalten positiv
zum Gesetzentwurf geäußert, bei den übrigen Sachverstän-
digen sei er mit guten Gründen auf Ablehnung gestoßen. Sie
hätte sich gewünscht, dass diese ernstzunehmenden Argu-
mente stärker Eingang in die Gesetzesberatung gefunden
hätten.

Bei einer Gegenüberstellung der Sicherungsverwahrung
von Heranwachsenden, die nach Erwachsenenstrafrecht
verurteilt wurden, mit Personen, die nach Jugendstrafrecht
verurteilt wurden, fielen folgende Ungereimtheiten auf:
Anders als der nach Jugendrecht Verurteilte habe der Heran-
wachsende bis zu seinem 25. Lebensjahr den Anspruch da-
rauf, seine Haft in einer sozialtherapeutischen Anstalt zu
verbüßen. Über die Frage einer möglichen Sicherungsver-
wahrung müsse beim Heranwachsenden anders als bei nach
Jugendrecht Verurteilten zum frühestmöglichen Termin ent-
schieden werden. Außerdem seien für die Anordnung der
Sicherungsverwahrung bei nach Jugendstrafrecht Verurteil-
ten keine neuen Tatsachen erforderlich.

Die Fraktion forderte, das gesamte System der Sicherungs-
verwahrung umfassend zu untersuchen und auszuwerten
und anschließend einen neuen, kohärenten Ansatz zu su-
chen. Sie stellte daher folgenden Entschließungsantrag:

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

chen und auszuwerten, wobei ein besonderer Schwerpunkt
auf die gerichtliche Anordnungspraxis, die gegenwärtige
Praxis des Vollzuges der Sicherungsverwahrung sowie die
faktischen Auswirkungen der Sicherungsverwahrung auf die
Situation des allgemeinen Strafvollzuges zu legen ist,

2. auf die Bundesländer einzuwirken, dass diese ein abge-
stimmtes Gesamtkonzept zum Vollzug der Sicherungsver-
wahrung erarbeiten, das eine deutliche Abgrenzung des
Vollzuges der Sicherungsverwahrung zum allgemeinen
Strafvollzug zur Zielstellung hat und dem Anspruch der
Sicherungsverwahrung als Maßregel der Besserung und
Sicherung gerecht wird,

3. bis zur Umsetzung der unter Nr. 1 und 2 benannten Ziel-
stellungen auf gesetzliche Änderungen im Recht der Siche-
rungsverwahrung zu verzichten, insbesondere auch den Ge-
setzentwurf zur Einführung der nachträglichen Sicherungs-
verwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht bis
zu diesem Zeitpunkt im Deutschen Bundestag nicht ab-
schließend zu beraten.

Begründung

Die Sicherungsverwahrung bedeutet einen tiefgreifenden
Einriff in die Freiheitsrechte des Betroffenen, da durch sie
einer Person nach vollständiger Verbüßung ihrer Haftstrafe
weiterhin die Freiheit entzogen werden kann, sofern nach
prognostischer Beurteilung zu erwarten ist, dass diese Per-
son auch künftig erhebliche Straftaten begehen wird. Als in-
soweit schuldunabhängige Maßregel gehört die Sicherungs-
verwahrung seit jeher zu den umstrittensten Sanktionen des
Strafrechts. Zwar ist die Fortdauer der Sicherungsverwah-
rung in regelmäßigen Abständen gerichtlich zu überprüfen.
Gesetzliche Höchstfristen für die Sicherungsverwahrung
gibt es jedoch nicht (mehr). Damit kann Sicherungsverwah-
rung auch „Freiheitsentzug für immer“ bedeuten.

Seit Anfang der 90er Jahre erlebt das Recht der Sicherungs-
verwahrung eine zuvor nicht erwartete Renaissance. Inner-
halb der vergangenen zwölf Jahre wurden die gesetzlichen
Regelungen zur Sicherungsverwahrung fünf Mal ausgewei-
tet. So wurde, entgegen der ursprünglichen Regelungen
im Einigungsvertrag, durch Gesetz vom 16. Juni 1995
(BGBl. I, S. 818) die Sicherungsverwahrung auf die fünf
neuen Bundesländer erstreckt. 1998 wurden die gesetz-
lichen Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung u. a. für
Sexual- und andere Gewaltdelikte erheblich abgesenkt (Ge-
setz vom 26. Januar 1998, BGBl. I 1998, S. 160 ff). Mit
Gesetz vom 21. August 2002 (BGBl. I, S. 3344) wurde die
vorbehaltene Sicherungsverwahrung eingeführt. Mit Wir-
kung zum 29. Juli 2004 trat das Gesetz zur Einführung der
nachträglichen Sicherungsverwahrung in Kraft. (BGBl. I,
S. 1838). Im März 2007 schließlich wurden die Regelungen
zur nachträglichen Sicherungsverwahrung auf sog. Altfälle
erstreckt (Gesetz vom 13. April 2007, BGBl. I, S. 513). Mit
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung
der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurtei-
lungen nach Jugendstrafrecht (Bundestagsdrucksache
16/6562) steht nunmehr der sechste Ausweitungsvorschlag
binnen nur 12 Jahren zur Diskussion.

Im gleichen Zeitraum stieg auch die Zahl der Sicherungs-
verwahrten kontinuierlich und deutlich. Befanden sich 1995
1. die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung
in ihren praktischen Auswirkungen umfassend zu untersu-

183 Personen in Sicherungsverwahrung, stieg ihre Zahl im
Jahr 2005 auf 350. Mit Stichtag zum 30. November 2007

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/9643

waren 424 Personen in Sicherungsverwahrung – dies be-
deutet mehr als eine Verdopplung innerhalb von nur 12 Jah-
ren. Dieser Anstieg der Fallzahlen in der Sicherungsver-
wahrung lässt sich weder mit einem Bevölkerungsanstieg

Heranwachsende. Weitere rechtssystematische Bedenken
ergeben sich daraus, dass auch bei jugendlichen Ersttätern
die nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne das Erfor-
dernis neuer Tatsachen möglich ist, während dies bei Er-
erklären noch mit einer ansteigenden Kriminalität. Im Ge-
genteil: sowohl die polizeilichen Kriminalstatistiken als
auch die Periodischen Sicherheitsberichte verzeichnen eine
Stagnation bzw. einen Rückgang im Bereich schwerer Kri-
minalität.

Eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes vom 11. De-
zember 2007 kam darüber hinaus zu dem überraschenden
Ergebnis, dass nahezu jede fünfte Anordnung von Siche-
rungsverwahrung im Jahr 2006 nicht wegen Gewaltdelikten,
sondern wegen Vermögens- und Betäubungsmitteldelikten
erfolgte (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 3,
2006).

Der Vorschlag zur Ausweitung der Sicherungsverwahrung
auf nach Jugendrecht Verurteilte begegnet nicht nur erheb-
lichen verfassungsrechtlichen Bedenken; er führt auch zu
rechtssystematischen Unstimmigkeiten und Brüchen im
Recht der Sicherungsverwahrung. Zudem steht zu befürch-
ten, dass sich mit Einführung dieses Gesetzes die vollzugs-
praktischen Schwierigkeiten in den Anstalten nochmals ver-
schärfen werden. Zu dieser Einschätzung kam auch die
übergroße Mehrheit der Sachverständigen in der Anhörung
des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages vom
28. Mai 2008.

Indem der Gesetzentwurf auf das Erfordernis der sog. Nova,
also der nachträglichen neuen Tatsachen, erstmals vollstän-
dig verzichtet, widerspricht er dem verfassungsrechtlichen
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der vom Bundesverfas-
sungsgericht in seiner bisherigen Rechtsprechung stets be-
sonders gewürdigt und betont wurde. Der Verzicht auf die
Nova bedeutet einen Verstoß gegen Artikel 103 Abs. 3 GG
(„ne bis in idem“), da so ein bereits abgeurteilter Sachver-
halt ohne Hinzutreten neuer Umstände für die Anordnung
der nachträglicher Sicherungsverwahrung erneut herange-
zogen werden kann. Diese Regelung stellt jugendliche Straf-
täter zudem schlechter als Heranwachsende, bei denen die
Nova weiterhin erforderlich sind. Auch von dem zugunsten
von Heranwachsenden geltenden Grundsatz, über die An-
ordnung bzw. Nichtanordnung von Sicherungsverwahrung
zum frühestmöglichen Zeitpunkt zu entscheiden, wird bei ju-
gendlichen Straftätern nachteilig abgewichen: letztere müs-
sen, sofern die formellen Anordnungsvoraussetzungen vor-
liegen, bis zum letzten Hafttag mit nachträglicher Siche-
rungsverwahrung rechnen, auch wenn ihr Vollzugsverhalten
keinerlei negative Anhaltspunkte liefert. Dies erschwert zu-
gleich Vollzugslockerungen, wie z.B. die Gewährung von
Ausgang oder Hafturlaub. Zudem fehlt im Gesetzentwurf
ein Anspruch des Jugendlichen auf sozialtherapeutische Be-
handlung während der Haft, wie er für Heranwachsende zur
Vermeidung drohender Sicherungsverwahrung festgeschrie-
ben ist. Auch insoweit stehen Jugendliche schlechter als

wachsenen und Heranwachsenden bislang – mit Verweis auf
die insoweit schmale Tatsachengrundlage – ausdrücklich
ausgeschlossen ist. Dies zeigt die Unsystematik der vorge-
schlagenen Neuregelung im Gesamtgefüge des Rechts der
Sicherungsverwahrung.

Die Vollzugspraxis attestiert deutliche Veränderungen der
Gesamtsituation in den Haftanstalten aufgrund der gesetz-
lichen Ausweitungen der Sicherungsverwahrung in den ver-
gangenen Jahren. Eigenständige Sicherungsverwahrungs-
vollzugsregelungen fehlen bisher. Sie sind dringend erfor-
derlich. Auch konzeptionelle Gesamtansätze der Einrich-
tungen sind bislang noch nicht in ausreichendem Maße
vorhanden, um auf die steigende Zahl der Sicherungsver-
wahrten, die einerseits zunehmend jünger werden, anderer-
seits aber auch tendenziell immer länger in der Maßregel
verbleiben, zu reagieren. Insbesondere Fragen eines würdi-
gen Alterns und Sterbens stellen sich insoweit bei Siche-
rungsverwahrten in neuem Umfang; auf sie muss reagiert
werden. Zunehmende Resignation und Perspektivlosigkeit
erschwert die Arbeit mit den Betroffenen.

Auch der Strafvollzug selbst wird deutlich von der Siche-
rungsverwahrung beeinflusst. So wird in einigen Bundes-
ländern bei Gefangenen, die die formellen Voraussetzungen
nachträglicher Sicherungserwahrung erfüllen, dies syste-
matisch in der Vollstreckungsakte vermerkt. Daran anknüp-
fende Beobachtungs-, Prüfungs-, Dokumentations- und Be-
richtserfordernisse belasten die Arbeit der Vollzugsbediens-
teten erheblich. Bei Strafgefangenen mit dem Vermerk „f.V.
nSV“ (formelle Voraussetzungen nachträgliche Sicherungs-
verwahrung) in der Vollstreckungsakte sind Vollzugslocke-
rungen deutlich erschwert. Zudem befördert das „Damo-
klesschwert nachträgliche Sicherungsverwahrung“ ein
aggressives Klima in den Anstalten. Die für eine erfolgrei-
che Therapie erforderliche vertrauensvoll-offene Mitarbeit
des Strafgefangenen steht in Frage, wenn Therapieerkennt-
nisse zugleich zur Begründung nachträglicher Sicherungs-
verwahrung herangezogen werden können. Insoweit haben
die gesetzlichen Möglichkeiten der Sicherungsverwahrung
auch deutlichen Einfluss auf das Strafvollzugsziel der Reso-
zialisierung.

Vor diesem Hintergrund ist eine vorschnelle erneute Aus-
weitung der Sicherungsverwahrung zum gegenwärtigen
Zeitpunkt abzulehnen. Stattdessen sollten zunächst die
Rechtsprechungs- und Vollzugspraxis der Sicherungsver-
wahrung umfassend erhoben und bewertet werden.

Der Entschließungsantrag wurde mit den Stimmen der Frak-
tionen der CDU/CSU und SPD gegen die Stimmen der
Fraktionen FDP, DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN abgelehnt.

Berlin, den 18. Juni 2008
Dr. Jürgen Gehb
Berichterstatter

Joachim Stünker
Berichterstatter

Jörg van Essen
Berichterstatter

Wolfgang Neskovic
Berichterstatter

Jerzy Montag
Berichterstatter

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