BT-Drucksache 16/9636

Tariftreue europarechtlich absichern

Vom 18. Juni 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/9636
16. Wahlperiode 18. 06. 2008

Antrag
der Abgeordneten Ulla Lötzer, Werner Dreibus, Dr. Diether Dehm, Dr. Barbara
Höll, Monika Knoche, Hüseyin-Kenan Aydin, Wolfgang Gehrcke, Heike Hänsel,
Inge Höger, Dr. Hakki Keskin, Michael Leutert, Kornelia Möller, Dr. Norman Paech,
Paul Schäfer (Köln), Dr. Herbert Schui, Dr. Axel Troost, Alexander Ulrich, Sabine
Zimmermann und der Fraktion DIE LINKE.

Tariftreue europarechtlich absichern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

In einem aktuellen Urteil vom 3. April 2008 (Dirk Rüffert/Land Niedersachsen
C-346/06) hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) die Position vertreten, dass
Tariftreueregelungen bei der öffentlichen Auftragsvergabe nicht mit der EU-
Dienstleistungsfreiheit vereinbar sind, wenn die Tarifverträge nicht allgemein-
verbindlich sind. In den Urteilen zu Laval und Viking war das Recht für die
Einhaltung von Kollektivverträgen zu streiken, aberkannt worden.

Mit diesen Entscheidungen stellt der EuGH den Schutz des Binnenmarktes und
hier insbesondere die Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 49 EGV (EG-Ver-
trag) über den Schutz der Arbeitnehmerrechte.

Die drei Urteile markieren einen Generalangriff auf die Möglichkeiten von
Gewerkschaften mit Streiks oder Tarifverträgen wirksam gegen Sozialdumping
vorzugehen.

Das Rüffert-Urteil des EuGH ist ein Affront gegen das Bundesverfassungs-
gericht, das 2006 Tariftreuegesetze auch für regionale Tarifverträge ausdrück-
lich gebilligt hatte, mit der Begründung, dass die „Stabilität des Systems sozia-
ler Sicherheit“ ein besonders wichtiges Ziel sei.

Tarifautonomie und Streikrecht sind Grundbestandteile sozialer Demokratie,
die nicht den marktliberalen Grundfreiheiten geopfert werden dürfen.

Der Deutsche Bundestag fordert deshalb von der Bundesregierung Konsequen-
zen aus dem EuGH-Urteil, um die Möglichkeit öffentliche Aufträge an die Ein-
haltung von Tarifverträgen zu binden europarechtlich abzusichern und in der
anstehenden Reform des bundesdeutschen Vergabegesetzes angemessen zu be-
rücksichtigen.
II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● umgehend und vor der Ratifizierung auf der Ebene des Europäischen Rates
Initiativen zu ergreifen, um in den Vertrag von Lissabon eine soziale Fort-
schrittsklausel einzufügen, die den Vorrang der sozialen Grundrechte und
Grundwerte vor den sogenannten Binnenmarktfreiheiten absichert;

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● im Europäischen Rat eine Initiative zu ergreifen, um in der Entsendericht-
linie 96/71/EG Artikel 3 klarzustellen, dass nicht nur allgemeinverbindliche
Tarifverträge zum besonderen Schutzbereich zählen;

● im Europäischen Rat eine Initiative zu ergreifen in der Vergaberichtlinie
2004/18/EG Artikel 26 die Möglichkeit zu verankern, dass Tariftreuever-
pflichtungen als Bedingung für die Auftragsausführung vorgeschrieben wer-
den können;

● das ILO-Übereinkommen Nummer 94 über „Arbeitsklauseln in den von Be-
hörden geschlossenen Verträgen“ umgehend zu ratifizieren;

● bei der anstehenden Modernisierung des bundesdeutschen Vergaberechtes
die Vorgabe der EU-Vergaberichtlinie 2004/18 so umzusetzen, dass alle
Unternehmen, die Aufträge der öffentlichen Hand erhalten, verbindlich zur
Tariftreue bzw. dort, wo Tariflöhne unterhalb eines noch festzulegenden
Mindestlohns liegen, zur Zahlung von Mindestlöhnen verpflichtet werden;

● einen jährlich anzupassenden gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von zurzeit
8,44 Euro brutto je Stunde als allgemeine Untergrenze einzuführen. Darüber
hinaus sollen tarifliche Mindestlöhne, die oberhalb des gesetzlichen Min-
destlohns liegen, als Branchenmindestlöhne festgeschrieben werden können.
Dazu sollen Regelungen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vereinfacht
werden;

● das Verfahren zur Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu erleich-
tern

– durch die Absenkung des gegenwärtig nötigen Quorums, wonach unter
einen Tarifvertrag mindestens die Hälfte der Arbeitnehmer und Arbeit-
nehmerinnen fallen muss;

– die Zulassung der AVE (Allgemeinverbindlicherklärung) auch ohne Ein-
vernehmen des Tarifausschusses und

– die Kodifizierung der durch die Rechtsprechung anerkannten Bestand-
teile des „Öffentlichen Interesses“ im Tarifvertragsgesetz.

Berlin, den 18. Juni 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Nach dem EuGH-Urteil (Rüffert) dürfen in Zukunft bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge nur noch Mindeststandards wie allgemeinverbindliche Tarifverträge
oder gesetzliche Mindestlöhne verpflichtend vorgeschrieben werden. Regionale
Tarifverträge, die in der Bundesrepublik Deutschland üblicherweise nicht für
allgemeinverbindlich erklärt werden, gehen nach der Auffassung des EuGH
über diesen Mindestschutz hinaus und beschränken die Dienstleitungsfreiheit in
ungerechtfertigter Weise. Damit werden die grenzüberschreitend zwingend an-
zuwendenden Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Entsenderichtlinie
(Artikel 3) zu abschließenden Schutzkernbereichen über die nicht hinausgegan-
gen werden darf. Inländische Anbieter, die sich an Tarifverträge halten, werden
diskriminiert. In den Urteilen zu Laval (Rn. 94) und Viking (Rn. 46) wurde
darüber hinaus von den Richtern sogar die nach dem Grundgesetz unantastbare

Menschenwürde den Binnenmarktfreiheiten unterworfen. Der Europäische
Gewerkschaftsbund spricht nach den Urteilen Laval, Viking und Rüffert von

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einem untragbaren Zustand. Die Grundrechte von Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern seien in Gefahr und Gewerkschaften nicht mehr in der Lage im
Zeitalter der Globalisierung Arbeitsnormen festzulegen und zu schützen.

Die Bundesregierung, das Land Niedersachsen und sieben weitere Mitglied-
staaten sowie der Generalanwalt des EuGH hatten im Verlauf der EuGH-Ver-
handlungen zum Fall Rüffert der Rechtsauffassung widersprochen, dass Tarif-
treueregelungen nicht mit der EU-Dienstleistungsfreiheit vereinbar seien. Als
Argument wurde angeführt, dass Lohndumping kein Wettbewerbsvorteil im
Sinne der europäischen Sozialordnung sei. Gleichzeitig wurde darauf ver-
wiesen, dass in der Entsenderichtlinie günstigere Arbeitsbedingungen wie zum
Beispiel ortsübliche Tarife durchaus erlaubt sind (Artikel 3 Abs. 7) und eine
entsprechende Tariftreueverpflichtung, da sie für alle Anbieter gilt, nicht diskri-
minierend sei und durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses (hier
Schutz der Arbeitnehmer) gerechtfertigt werden können.

Ziel aller Maßnahmen muss es deshalb sein, sozialen Grundrechten im Kon-
fliktfall Vorrang vor den Binnenmarktfreiheiten einzuräumen und an dieser
Stelle die sogenannten zwingenden Gründe des Allgemeininteresses nicht mehr
einer solchen Interpretation des EuGH zu überlassen.

Da die EuGH-Richter in ihrem Urteil weder der Mehrheitsmeinung der an-
gehörten Mitgliedstaaten noch dem Schlussantrag gefolgt sind, fordert der
Bundestag die Bundesregierung zu einer Klarstellung im Primärrecht (soziale
Fortschrittsklausel) und entsprechend auch in der Entsende- und der Vergabe-
richtlinie auf.

Eine Fortschrittsklausel, wie sie auch vom Europäischen Gewerkschaftsbund
gefordert wird, würde den sozialen Grundrechten im Konfliktfall Vorrang vor
den Binnenmarktfreiheiten einräumen. Unternehmen wären nicht mehr berech-
tigt sich auf die Binnenmarktfreiheiten zu berufen, um nationale Arbeits- und
Sozialrechte zu umgehen oder die Unabhängigkeit der Sozialpartner zu beein-
trächtigen. Nur damit kann wirksam gewährleistet werden, dass der soziale
Fortschritt in der EU nicht weiter durch europäische Rechtsetzungsakte aus-
gehöhlt wird. Damit würde gleichzeitig das Sozialstaatsprinzip des Grund-
gesetzes geschützt.

Entsprechende Klarstellungen in der Entsende- und Vergaberichtlinie zielen
darauf, die für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer günstigeren Arbeits- und
Beschäftigungsbedingungen, wie sie in regionalen Tarifverträgen oder bei regi-
onalen Mindestlöhnen (vgl. das Berliner Landesvergabegesetz) festgelegt sind,
bei der grenzüberschreitenden Entsendung sowie bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge zu verankern.

Das EuGH-Urteil widerspricht internationalem Recht in Form des ILO-Über-
einkommens 94, das allerdings durch die Bundesrepublik Deutschland im Ge-
gensatz zu zwölf anderen europäischen Staaten noch nicht ratifiziert wurde. Das
ILO-Übereinkommen (International Labour Organization) regelt in Artikel 2
unter anderem, dass öffentliche Aufträge Klauseln enthalten müssen, „die den
beteiligten Arbeitnehmern Löhne (…) gewährleisten, die nicht weniger günstig
sind als die Bedingungen, die im gleichen Gebiet für gleichwertige Arbeit (…)
gelten.“

Auf der nationalen Ebene muss mit der anstehenden Reform des bundes-
deutschen Vergaberechtes die Rechtsunsicherheit nach dem EuGH insbeson-
dere für Bundesländer und Kommunen beseitigt werden und das Recht auf
Tarifautonomie wieder hergestellt werden. Tarifverträge und die Tarifautono-
mie haben sich als Grundbestandteil der sozialen Demokratie bewährt. Sie
sichern über kollektivvertragliche Regelungen zwischen den Tarifparteien Ein-

kommen, Arbeitsbedingungen und soziale Mindeststandards für die Beschäf-
tigten. Als wichtige Voraussetzung für die Handlungs- und Durchsetzungs-

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fähigkeit der Gewerkschaften verdienen sie in einem sozialen Rechtsstaat poli-
tischen Schutz. Sie haben sich auch in der Funktion bewährt, die Unternehmen
vor einer Konkurrenz untereinander über Arbeits- und Sozialkosten zu bewah-
ren und ihnen Planungssicherheit zu geben. Tariftreueregelungen in der öffent-
lichen Auftragsvergabe sind ein wirksames Mittel, um der Vorreiterrolle des
Staates bei der Stabilisierung des Tarifvertragssystems gerecht zu werden und
Verstöße zu sanktionieren.

Angesichts des Generalangriffs des EuGH und der Erosion des Tarifvertrags-
systems sind darüber hinaus Maßnahmen auf Bundesebene unerlässlich, die das
Tarifvertragssystem zusätzlich stabilisieren. Dazu zählen erstens ein allgemei-
ner gesetzlicher Mindestlohn als Untergrenze sowie zweitens Branchenmin-
destlöhne, soweit diese über dem allgemeinen Mindestlohn liegen. Zweitens ist
eine Reform notwendig, die die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit von
Tarifverträgen deutlich erleichtert. Die geltende Rechtslage verhindert eine wir-
kungsvolle allgemeinverbindliche Durchsetzung tariflicher Standards. Dabei
stehen insbesondere zwei Regelungen des Tarifvertragsgesetzes in der Kritik,
das 50-Prozent-Quorum und das Vetorecht der Spitzenverbände von Arbeit-
gebern und Beschäftigten. Die Regel, wonach unter einen Tarifvertrag mindes-
tens die Hälfte der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen fallen muss, um die-
sen für allgemeinverbindlich erklären zu können, verhindert die Anwendung
der tariflichen Standards in den Fällen, die im Rahmen einer Verhältnismäßig-
keitsabwägung nach Kriterien des öffentlichen Interesses ebenfalls zulässig
wären.

Ein öffentliches Interesse liegt etwa dann vor, wenn die Löhne außerhalb des
anzuwendenden Tarifvertrages so niedrig liegen, dass sie nicht Existenz
sichernd sind. Die Regel des Tarifvertragsgesetzes, nach der eine Zulassung der
AVE durch den Bundesminister für Arbeit und Soziales nur bei Einvernehmen
des Tarifausschusses, also der Vertreter der Spitzenverbände, möglich ist,
führte in der Vergangenheit häufig zu Blockaden von AVE durch die Arbeit-
geberverbände. Trotz der Einigung der zuständigen Tarifvertragsparteien und
ungeachtet gemeinsam gestellter Anträge haben sich die Vertreter der Arbeit-
geberverbände als Tarifzensoren betätigt. Abhilfe ist hier dringend geboten.
Weiterhin würde die Aufnahme von Kriterien in das Tarifvertragsgesetz, die der
Beurteilung des öffentlichen Interesses an Allgemeinverbindlichkeitserklärun-
gen dienen, die Entscheidungsmaßstäbe für alle Beteiligten transparenter ge-
stalten und zu einer Versachlichung der öffentlichen Diskussion beitragen.

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