BT-Drucksache 16/8045

Beratungsqualität für Erwerbslose verbessern - Personal der Grundsicherungsträger qualifizieren und ihm Zukunftsperspektiven geben

Vom 13. Februar 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/8045
16. Wahlperiode 13. 02. 2008

Antrag
der Abgeordneten Katja Kipping, Klaus Ernst, Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge,
Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Kornelia Möller, Elke Reinke, Volker Schneider
(Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich, Sabine Zimmermann
und der Fraktion DIE LINKE.

Beratungsqualität für Erwerbslose verbessern – Personal der
Grundsicherungsträger qualifizieren und ihm Zukunftsperspektiven geben

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Hartz-Reformen haben die Sozial- und Arbeitsmarktpolitik grundlegend
verändert. Die Zusammenführung der Sozial- und Arbeitslosenhilfe durch
Hartz IV sollte dazu beitragen, institutionelle Doppelstrukturen abzuschaffen
und insbesondere Langzeiterwerbslose besser in Arbeit zu vermitteln. Das Bun-
desverfassungsgericht hat nun in einer Entscheidung vom 20. Dezember 2007
entschieden, dass die in § 46 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) ge-
troffene Regelung, wonach die kommunalen Träger und die Bundesagentur für
Arbeit zur einheitlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben Arbeitsgemeinschaften
bilden sollen, gegen Artikel 28 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung
mit Artikel 83 GG verstoßen. (BVerfG 2 BvR 2433/04 vom 20. Dezember 2007).

Der Konflikt um die institutionelle Ausgestaltung der Grundsicherung für
Arbeitsuchende lenkte und lenkt weiter davon ab, dass die wesentliche Frage aus
der Perspektive der betroffenen Arbeitsuchenden die Qualität der erbrachten
Dienstleistung vor Ort darstellt. Hier zeigen sich aber massive Defizite, die zahl-
reiche Gründe haben. Durch Hartz IV ist eine neue Spaltung zwischen den
Erwerbslosen eingeführt worden: je nach formaler Zuständigkeit – SGB II
(Hartz IV) oder SGB III (Arbeitslosenversicherung) – unterscheiden sich die Art
und Qualität der Dienstleistung. Für die Bearbeitung von Anträgen und die
persönliche Betreuung bei den örtlichen Trägern der Grundsicherung für Arbeit-
suchende sind zahlreiche Personen ohne ausreichende fachliche Qualifikation
eingesetzt worden (vgl. Bundestagsdrucksache 16/3953). Für die spezifischen
Bedürfnisse verschiedener Gruppen fehlen vor Ort entsprechende Strukturen
mit einschlägig qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Hinzu kommt,
dass 13 509 von 54 700 Beschäftigungsverhältnissen befristet sind. Zwar wur-
den 3 000 neue Dauerstellen im Haushalt 2008 der Bundesagentur für Arbeit für
den Bereich der Grundsicherung genehmigt. Die anderen gut eingearbeiteten
Beschäftigten bleiben aber vom Wegfall ihrer Arbeitsplätze bedroht, wenn die
Befristungen in den nächsten Jahren auslaufen. Schließlich fehlt es an unabhän-
giger Beratung durch Instanzen, die nicht gleichzeitig Kostenträger der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende sind. Es existiert ein dringender Handlungsbedarf,
dem unabhängig von Entscheidungen zur zukünftigen institutionellen Ausge-
staltung nachzukommen ist.

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II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

die Beratungsqualität für Erwerbslose u. a. durch folgende Maßnahmen zu ver-
bessern:

1. Durch die kurz- und mittelfristige Personalplanung der Bundesagentur für
Arbeit ist ein ausreichender Stamm von unbefristet Beschäftigten in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende zu garantieren. Kurzfristig wird ins-
besondere der Anteil befristeter Beschäftigungsverhältnisse zu Gunsten un-
befristeter Anstellungen weiter reduziert. Das unbefristete Beschäftigungs-
verhältnis muss die Regel sein. Parallel ist die Personalplanung so auszurich-
ten, dass die Fallzahlen der jeweils zu betreuenden Hilfesuchenden deutlich
gesenkt werden sowie die Tätigkeit der Kundenbetreuerinnen und Kunden-
betreuer durch ausreichende Freiräume für qualifizierte und individuelle
Betreuung und Beratung charakterisiert ist. In einem transparenten Verfahren
sind Maßstäbe zu entwickeln, die ein angemessenes Verhältnis zwischen Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeitern und Hilfesuchenden in den verschiedenen
Tätigkeitsfeldern gewährleisten.

2. Das Personal für die Aufgaben der Beratung und Vermittlung muss ziel-
gerichtet und ausreichend qualifiziert werden. Bei den örtlichen Trägern sind
für die spezifischen Bedürfnisse konkreter Zielgruppen (z. B. Menschen mit
Behinderungen, Berufsrückkehrerinnen und Berufsrückkehrer, Alleinerzie-
hende, Wohnungslose) ausgebildete Fallmanagerinnen und Fallmanager ein-
zustellen und das Weiterbildungsangebot für Beschäftigte quantitativ und
qualitativ auszubauen. Schwerpunkte einer Weiterbildungsoffensive sollten
die zuständigen Bundesstellen mit den örtlichen Trägern und den Vertretun-
gen der Beschäftigten – Gewerkschaft sowie Personalräte – aushandeln.

3. Die Trennung der Erwerbslosen bei der Beratung, der Vermittlung und der
Zuweisung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen in zwei Klassen – je
nach Zugehörigkeit der oder des Erwerbslosen zum SGB II oder SGB III –
wird aufgehoben, um bei diesen Leistungen einen offenen Zugang für alle
Erwerbslosen zu gewährleisten.

4. Das System der Zielvereinbarungen zwischen dem Bundesministerium für
Arbeit und Soziales, der Bundesagentur für Arbeit und den Trägern der
Grundsicherung vor Ort wird so weiterentwickelt, dass Beratung über soziale
Rechte neben der Verringerung von Hilfebedürftigkeit und der Vermittlung in
Arbeit als gleichberechtigte Ziele formuliert und verfolgt werden.

5. Die organisatorische und finanzielle Unterstützung von unabhängiger Bera-
tung für Erwerbslose wird gefördert.

Berlin, den 12. Februar 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

1. Im Zentrum der Bemühungen zur Verbesserung der Beratungsqualität stehen
die Beschäftigten der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Ver-
schiedene Maßnahmen der Personalpolitik haben eine unmittelbare Bedeu-
tung für die Qualität der Dienstleistung. Zunächst ist die zentrale Vorausset-
zung, dass ausreichend Personal zur Verfügung steht, damit den individuellen
Bedürfnissen der Hilfesuchenden Rechnung getragen werden kann. Die Stel-
lenbeschreibungen sind so auszurichten, dass ausreichend Freiräume für in-

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/8045

dividuelle Beratung – die sich nicht in dem schematischen Abarbeiten von
vorgefertigten Softwareprogrammen erschöpft – verbleiben. In einem trans-
parenten Verfahren sind Maßstäbe zu entwickeln, um ein angemessenes Ver-
hältnis von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und Hilfesuchenden in den
verschiedenen Tätigkeitsfeldern zu sichern. Die Vertreterinnen und Vertreter
der Beschäftigten sind an einem solchen Verfahren zu beteiligen. Die Perso-
nalstruktur ist dergestalt zu verändern, dass befristete in unbefristete Stellen
umgewidmet werden. Die aktuell diese Stellen besetzenden Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter sollen in der Regel übernommen werden. Diese Umstruk-
turierung ist notwendig, weil nur auf Dauer beschäftigtes Personal über eine
ausreichende Planungssicherheit verfügt. Damit werden die Personalfluktua-
tion reduziert, aufgebaute Kompetenz erhalten und die Voraussetzung für wei-
tergehende Qualifizierung geschaffen (vgl. Bundestagsdrucksache 16/4935).
In diesem Zusammenhang muss festgehalten werden, dass auch bei einer
Umwidmung bisher befristeter in unbefristete Stellen ein darüber hinausge-
hender Personalbedarf besteht. Mit der momentanen Zahl von Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen bei den Grundsicherungsträgern werden beispielsweise
nicht einmal die angestrebten Betreuungsschlüssel für die Vermittlung und
Betreuung von 1 zu 75 bei den unter 25-Jährigen und von 1 zu 150 bei den
über 25-Jährigen erreicht (vgl. Bundestagsdrucksache 16/5837). Im Einzel-
fall werden die Betreuungsschlüssel sogar erheblich überschritten, sodass
kaum eine angemessene Vermittlung und Betreuung möglich sind. Nimmt
man weiterhin an, dass auch die momentan angestrebten Verhältnisse von
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Hilfesuchenden in den verschiedenen
Tätigkeitsfeldern nicht ausreichen, um eine angemessene Beratungsqualität
zu garantieren, steigt der Personalbedarf weiter an. Daher muss bei den
Grundsicherungsträgern neben der Umwandlung befristeter in unbefristete
Stellen zusätzliches Personal mit unbefristeten Arbeitsverträgen aufgebaut
werden.

2. Die Personalstruktur sollte gruppenspezifischen Bedürfnissen entgegen-
kommen. Das Angebot an qualifizierter Beratung und Betreuung sollte in der
Diversität die unterschiedlichen Anliegen der Hilfesuchenden abbilden. So
müssen beispielsweise für Arbeitsuchende mit gesundheitlichen Einschrän-
kungen oder mit besonderen familiären Verpflichtungen (u. a. Pflege von
Angehörigen, Erziehung von Kindern – insbesondere Alleinerziehende) spe-
zifisch ausgebildete Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner zur Ver-
fügung stehen.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind fortlaufend weiterzuqualifizieren.
Bisherige Weiterbildungsmaßnahmen konzentrierten sich zu stark auf admi-
nistrative Aspekte (v. a. Umgang mit IT). Die hohe Anzahl von Klagen gegen
Bescheide sowie insbesondere die hohe Anzahl erfolgreicher Verfahren vor
den Sozialgerichten deuten auf einen unverändert hohen Bedarf an weiterer
Qualifizierung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hin.

3. Die Hartz-Kommission forderte eine einheitliche Anlaufstelle für alle Er-
werbslosen. Außerdem sollten auch ehemaligen Beziehenden der Sozialhilfe
die aktiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Bundesagentur für Ar-
beit zur Verfügung stehen. Beide Anliegen wurden nicht erreicht. Zwar
wurde formal der Zugang zu arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen für ehema-
lige Sozialhilfebeziehende gestärkt. In der Praxis dominieren aber weiter
Ein-Euro-Jobs als die zentralen Maßnahmen für ALG-II-Beziehende. Durch
die Aufteilung der Erwerbslosen nach dem SGB II und dem SGB III mit un-
terschiedlichen ausführenden Institutionen wurde die Spaltung der Erwerbs-
losen in zwei Klassen mit unterschiedlichen Rechten sogar noch verschärft.
Im Evaluierungsbericht zu Hartz I bis III wird darauf hingewiesen, dass die
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen diese Trennung als „eine der größ-
ten Achillesfersen der deutschen Arbeitsmarktpolitik“ erachten (vgl. „Die

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Wirksamkeit moderner Dienstleistungen am Arbeitsmarkt. Bericht des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zur Wirkung der Umsetzung der
Vorschläge der Kommission Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“,
S. 207). Erste Schritte zur Vereinheitlichung und Verbesserung der Dienst-
leistungsangebote wären die Schaffung einheitlicher Anlaufstellen für alle
Erwerbslosen sowie gleiche Rechtsansprüche auf arbeitsmarktpolitische
Maßnahmen entsprechend den Standards des Dritten Buches Sozialgesetz-
buch.

4. Die Umsetzung des SGB II wird vom Bundesministerium für Arbeit und
Soziales in erster Linie über Zielvereinbarungen gesteuert. Das Bundesminis-
terium vereinbart Ziele mit der Bundesagentur für Arbeit und diese wiederum
mit den Trägern der Grundsicherung vor Ort (Ausnahme: Optionskommu-
nen). Im Zentrum der Zielvereinbarungen stehen zwei Anliegen: die Vermitt-
lung in Arbeit und die Verringerung der Hilfebedürftigkeit. Für diese beiden
Ziele gibt es feste Vorgaben, die erfüllt werden sollen. In welchem Maße die
Ziele vor Ort jeweils erreicht werden, wird über ein Controllingsystem über-
prüft. Insbesondere das Ziel der Verringerung der Hilfebedürftigkeit ist
problematisch, da es an der Reduktion der Ausgaben für die Leistungen zur
Sicherung des Lebensunterhalts gemessen wird. Auf welche Art und Weise
das Ziel der Reduktion um mindestens 3,5 Prozent der Ausgaben für 2007
realisiert werden sollte, blieb offen. In der Planung für 2008 strebt die
Bundesagentur für Arbeit sogar eine Reduktion um 7,9 Prozent an. Somit
steht das Ziel in einem Spannungsverhältnis zu einer – potenziell kosten-
trächtigen – Beratung und Unterstützung der Hilfesuchenden. Die Zielkoor-
dinaten in diesem Verfahren sind daher so zu verändern, dass eine ergeb-
nisoffene und potenziell kostenträchtige Beratung ermöglicht wird. Entschei-
dend ist die Realisierung von Rechtsansprüchen. Diese darf nicht durch Ein-
sparvorgaben gefährdet werden.

5. Die Beratungssituation durch die zuständigen Ämter ist durch eine asymme-
trische Beziehung gekennzeichnet. Der bzw. die Hilfesuchende begehrt Leis-
tungen, während die Vertreterinnen und Vertreter der Behörde – im Rahmen
des Gesetzes – Leistungen gewähren. Gleichzeitig sind die Vertreterinnen
und Vertreter der Behörde gegenüber den Hilfe beantragenden und erhalten-
den Personen mit Sanktionsmacht ausgestattet. Die soziale Beziehung wird
zusätzlich erschwert durch die Tatsache, dass die leistungsbewilligende In-
stanz gleichzeitig die Kostenträgerin der Entscheidungen ist. Unter diesen
Bedingungen lassen sich vertrauensvolle Beziehungen, die für eine angemes-
sene Beratung notwendig sind, nicht aufbauen oder erhalten. Aus diesem
Grund sowie für eine effektive Kontrolle der zuständigen Behörden ist die
zusätzliche Existenz fachlich qualifizierter unabhängiger Beratungsstellen
notwendig.

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