BT-Drucksache 16/6437

Zugang zu Rentenleistungen für ehemalige Ghetto-Insassen erleichtern

Vom 19. September 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/6437
16. Wahlperiode 19. 09. 2007

Antrag
der Abgeordneten Irmingard Schewe-Gerigk, Volker Beck (Köln), Jerzy Montag,
Kerstin Andreae, Birgitt Bender, Britta Haßelmann, Markus Kurth, Christine
Scheel, Silke Stokar von Neuforn, Dr. Harald Terpe, Wolfgang Wieland, Josef Philip
Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zugang zu Rentenleistungen für ehemalige Ghetto-Insassen erleichtern

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Mit dem „Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in
einem Ghetto“ (ZRBG) von 2002 sollte eine Lücke im Entschädigungsrecht
geschlossen werden. Sie betrifft Menschen, die unter dem NS-Regime in ein
Ghetto gezwungen wurden und dort, oft um dem Hungertod zu entgehen,
eine entlohnte Beschäftigung annahmen.

Dieser Personenkreis sollte nach der Intention des Gesetzgebers für die
Arbeitszeit im Ghetto Rentenzahlungen erhalten, ohne dafür nachträglich
Beiträge zur Rentenversicherung entrichten zu müssen. Die Ansprüche auf
Rentenzahlung gelten rückwirkend ab dem Stichtag 1. Juli 1997. Das Gesetz
fußt auf einer Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 18. Juni 1997
(Az.: 5 RJ 66/95 = BSGE 80, 250). Bis dahin wurde davon ausgegangen, dass
Arbeit in Ghettos, die von der deutschen Besatzung oder auf ihre Veranlas-
sung eingerichtet wurden, als Zwangsarbeit auf Grundlage eines Gewaltver-
hältnisses geleistet wurde und Zahlungen aus der gesetzlichen Rentenver-
sicherung deshalb nicht in Betracht kommen.

Das ZRBG wurde einstimmig vom Deutschen Bundestag beschlossen. In sei-
ner praktischen Anwendung hat das Gesetz aber nicht zu den vom Deutschen
Bundestag gewünschten Ergebnissen geführt. Von den etwa 70 000 Anträgen
wurden bisher nur ca. 5 Prozent positiv beschieden. Die zuständigen Landes-
versicherungsanstalten haben viel zu hohe Hürden aufgebaut. Das wider-
spricht der Intention des Deutschen Bundestages. Der Gesetzgeber hatte
2002 zugunsten der betroffenen NS-Verfolgten entschieden, wohl wissend,
dass damit rentenrechtliches Neuland betreten wurde.

Von den Landesversicherungsanstalten und den Sozialgerichten werden im
Wesentlichen folgende Ablehnungsgründe angeführt:
– kein Aufenthalt in einem Ghetto, welches in einem Gebiet errichtet wurde,
das vom Deutschen Reich besetzt war oder diesem eingegliedert war,

– keine Arbeitsaufnahme aus eigenem Willensentschluss, sondern erzwun-
gene Tätigkeit,

– keine Tätigkeit gegen Entgelt,

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– kein rentenversicherungspflichtiges Mindestalter zum Zeitpunkt der Tä-
tigkeit.

Diese Ablehnungsgründe verkennen die Zustände in den von deutschen Be-
hörden oder auf Betreiben Deutschlands in der Zeit des Nationalsozialismus
eingerichteten Ghettos. Von den Rentenversicherungsträgern wie von Teilen
der Rechtsprechung wurden und werden Maßstäbe angelegt, die für die heu-
tige Arbeitswelt in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen zutreffend
sein mögen, nicht aber für die Situation, denen Menschen in einem Ghetto zur
Zeit des Nationalsozialismus ausgesetzt waren. Der 4. Senat des Bundes-
sozialgerichts (BSG) hat in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung vom
14. Dezember 2006 (Az.: B 4 R 29/06 R) eindringlich auf diese Unterschiede
hingewiesen und eine angemessene Würdigung der historischen Tatsachen
verlangt. Notwendige Änderungen am ZRBG sind der besonderen histori-
schen Situation des nationalsozialistischen Unrechtsregimes geschuldet und
haben keine Präjudizwirkungen auf allgemeine rentenrechtliche Grundsätze.

Derzeit sind noch mehrere Tausend Klageverfahren gegen negative Entschei-
dungen der Landesversicherungsanstalten anhängig. Die Antragstellerinnen
und Antragsteller sind im Durchschnitt über 80 Jahre alt. Es ist unvertretbar,
diesen hoch betagten Menschen langjährige Klageverfahren zuzumuten. Je-
der Monat Verzögerung bedeutet, dass weitere ehemalige Ghetto-Insassen
versterben, ohne Anerkennung und Leistungen aus dem ZRBG erhalten zu
haben. Daher muss ohne weitere Verzögerungen eine Lösung der Ghettoren-
ten-Problematik in Angriff genommen werden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

angesichts des hohen Alters der Betroffenen schnellstmöglich ergänzend
zum ZRBG einen Ausgleich für Ghetto-Arbeit zu schaffen. Ehemalige
Ghetto-Insassen sollen die Möglichkeit erhalten, alternativ zur Antragstel-
lung nach dem ZRBG durch vereinfachte Zugangsvoraussetzungen und
Nachweisverfahren pauschalierte Leistungen zu beantragen. Als Vorausset-
zungen sollten die Verfolgteneigenschaft im Sinne des Bundesentschädi-
gungsgesetzes und der Aufenthalt in einem Ghetto genügen. Im Hinblick auf
die durchschnittlichen ZRBG-Renten scheint eine pauschalierte monatliche
Leistung von 150 Euro angemessen. Vorzusehen sind auch eine Nachzah-
lung in Anlehnung an das ZRBG sowie eine Option zur Kapitalisierung.

Notwendige Mittel sind hierfür in den Haushalt 2008 und in die Finanzpla-
nung einzustellen.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zusätzlich auf,

einen Gesetzentwurf zur Reform des ZRBG vorzulegen. Kernpunkte sollen
dabei insbesondere sein:

1. In der Abgrenzung zur Zwangsarbeit muss entsprechend den Ausführun-
gen des 4. Senates des BSG vom 14. Dezember 2006 klargestellt werden,
dass bereits ein Minimum an Freiwilligkeit für die Anerkennung nach
dem ZRBG genügt. Danach war ein eigener Willensentschluss nur dann
nicht gegeben, wenn das Zustandekommen oder die Ausführung der
Tätigkeiten mit absoluter Gewalt oder Drohung mit ihr, also unter unmit-
telbarer Gefahr für Leib und Leben, durchgesetzt wurde.

2. Es bedarf der Klarstellung, dass unter Entgelt alle Einnahmen zu verste-
hen sind, die in einem unmittelbaren oder mittelbaren Zusammenhang
mit der geleisteten Arbeit stehen. Das können Geldbezüge oder Sachbe-

züge, z. B. Lebensmittel, gewesen sein. Ebenso sind indirekt geleistete
Vergütungen zu berücksichtigen, also auch Personen einzubeziehen, bei

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denen das Entgelt für die Tätigkeit an die Eltern (bei minderjährigen
Ghetto-Insassen) oder an den „Judenrat“ ausgezahlt wurde.

3. Es muss ausdrücklich festgehalten werden, dass das ZRBG kein be-
stimmtes Mindestalter verlangt. Die besonderen Verhältnisse der NS-
Verfolgung in einem Ghetto haben die dort zwangsinhaftierten Kinder in
die Notlage gebracht, Kinderarbeit leisten zu müssen, um mit dem damit
erzielten Entgelt überleben zu können.

4. Es bedarf der Klarstellung, dass unter Beschäftigung im Sinne des
ZRBG jede nichtselbstständige Arbeit zu verstehen ist. Es kann daher
das Vorliegen einer versicherungspflichtigen oder „beitragsbelasteten“
Beschäftigung nicht verlangt werden.

5. Es muss klargestellt werden, dass alle ehemaligen Ghetto-Insassen, die
die Kriterien des ZRBG erfüllen, Ansprüche geltend machen können,
unabhängig davon, in welchem Staat sie heute ihren Wohnsitz haben.

IV. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung zudem auf,

eine Kommission einzusetzen, die bis zum Jahresende 2007 eine Empfeh-
lung für die in den Antragsverfahren aufgetretenen historischen Streitfragen
hinsichtlich einzelner Ghettos abgibt. Diese sollte auch einen Verfahrens-
vorschlag zur Klärung etwaiger künftiger historischer Streitfragen im
Rahmen des ZRBG vorlegen. Die Kommission soll paritätisch aus Histori-
kerinnen bzw. Historikern sowie Vertreterinnen bzw. Vertretern der NS-Ver-
folgtenorganisationen besetzt werden.

Berlin, den 19. September 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Vordringlichstes Ziel dieser Initiative ist es, die hoch betagten ehemaligen
Ghetto-Insassen schnell zu ihrem Recht kommen zu lassen. Dies kann durch
eine ergänzende Ausgleichslösung wie durch Klarstellungen im ZRBG gesche-
hen. Für die ergänzende Ausgleichslösung spricht, dass die hoch betagten NS-
Opfer schneller und unbürokratischer Unterstützung erhalten können. Viele
werden nach den bisherigen Erfahrungen mit dem ZRBG diesen Weg vorziehen.

Gleichwohl sollte das ZRBG nicht geschlossen werden. Den ehemaligen
Ghetto-Insassen sollte vielmehr freigestellt werden, welchen Weg sie wählen,
um Ansprüche geltend zu machen.

Die Entscheidung über einzelne Streitfälle, ob Verfolgungsmaßnahmen auf Veran-
lassung deutscher Institutionen (z. B. hinsichtlich der Ghettos in Ungarn oder
Transnistrien) geschahen, überfordert verständlicherweise die Rentenversiche-
rungsträger wie auch die Sozialgerichte. Hier ist historischer Sachverstand er-
forderlich ebenso wie der Sachverstand der NS-Verfolgtenvertretungen. Diesen
soll die vorgeschlagene Kommission beisteuern und damit belastbare Entschei-
dungsgrundlagen für die Rentenversicherungsträger sowie gegebenenfalls für
die Sozialgerichte liefern.

Der 4. Senat des BSG hat zu Recht die Frage aufgeworfen, ob es verfassungs-

gemäß ist, die Entschädigung von NS-Verfolgungsschäden durch das ZRBG aus
Mitteln nur einer Minderheit der Bevölkerung Deutschlands zu bestreiten, näm-

Drucksache 16/6437 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
lich der aktuell beitragsbelasteten Versicherten und Arbeitgeber. Von daher wird
parallel zur Reform des ZRBG zu prüfen sein, ob zu dessen angemessener
Durchführung steuerfinanzierte Zuschüsse des Bundes an die Rentenversiche-
rungsträger zu leisten sind.

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