BT-Drucksache 16/5843

Verfassungsrechtlich bedenkliche Konsequenzen der Zwangsverrentung

Vom 26. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5843
16. Wahlperiode 26. 06. 2007

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Klaus Ernst, Volker Schneider (Saarbrücken), Karin Binder,
Dr. Lothar Bisky, Dr. Martina Bunge, Werner Dreibus, Katja Kipping,
Kornelia Möller, Elke Reinke, Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth, Jörn Wunderlich
und der Fraktion DIE LINKE.

Verfassungsrechtlich bedenkliche Konsequenzen der Zwangsverrentung

Ab 2008 werden ältere Langzeiterwerbslose, die durch langjährige Beitrags-
zahlungen in die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) die Voraussetzung für
eine vorgezogene Altersrente erfüllen, auf Grundlage der SGB II-Gesetzge-
bung zwangsverrentet, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere
Kleine Anfrage (Bundestagsdrucksache 16/5461) bestätigte. Einen Handlungs-
bedarf jedoch verneinte sie, obwohl die Zwangsverrentung für viele ältere Er-
werbslose nicht nur eine gesetzlich erzwungene Verdrängung vom Arbeits-
markt ist, sondern auch mit einer massiven Rentenkürzung verbunden sein
wird. Langzeiterwerbslose werden so ganz erheblich benachteiligt. Darüber hi-
naus ist festzuhalten, dass Beitragszahler/-innen zwangsverrentet werden, ge-
rade weil sie lange Beiträge in die Rente eingezahlt haben. Hier wird ein Privi-
leg für langjährige Versicherte in sein Gegenteil verkehrt und langjährige Er-
werbstätigkeit führt damit zur Benachteiligung. Ob dies mit dem Grundgesetz
vereinbar ist, ist in höchstem Maße zweifelhaft. Unterschiedliche Beitragszei-
ten bzw. langjährige Erwerbstätigkeit können bei der Grundsicherung für Er-
werbsfähige kaum als Begründung herangezogen werden, um wesentlich glei-
che Personen ungleich zu behandeln.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass es rechtssystematisch
problematisch ist, wenn durch die Zwangsverrentung eine erwerbsfähige
Person ihren Anspruch auf Arbeitsmarktinstrumente verliert, auch wenn sie
sich weiterhin dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung stellen möchte (bitte in
der Stellungnahme insbesondere den Wiedereingliederungswillen sowie die
aktive Unterstützung dabei berücksichtigen)?

2. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass zwangsverrentete
Personen vor Erreichen der Regelaltersgrenze keinen Anspruch auf die
„Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ oder auf die „Grund-
sicherung für Erwerbsfähige“ haben?

Sieht die Bundesregierung hierdurch eine Benachteiligung von zwangs-
verrenteten Langzeiterwerbslosen gegenüber anderen Personengruppen?

Drucksache 16/5843 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Müsste nach Auffassung der Bundesregierung die „Grundsicherung im
Alter und bei Erwerbsminderung“ oder die „Grundsicherung für Erwerbs-
fähige“ aus logischen Gründen auch auf diejenigen ausgeweitet werden,
die zwangsverrentet wurden, aber die Regelaltersgrenze noch nicht erreicht
haben (ggf. welche Grundsicherung und mit welcher Begründung)?

4. Ist der Bundesregierung der Vorschlag, durch Teilrente ab 60 Jahren den
Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu flexibilisieren, bekannt,
und würde sie zustimmen, dass eine solche Regelung für Langzeiterwerbs-
lose auch eine Zwangsverrentung ab 60 Jahren zur Folge hätte?

5. Wie hoch würden bei diesem Vorschlag und nach Beibehaltung der jetzigen
Systematik die Abschläge bei der vollen Wirkung der Rente mit 67 im
Jahr 2030 ausfallen?

6. Wie müsste nach Meinung der Bundesregierung eine Teilrente ab 60 Jahren
modifiziert werden, um einerseits den vorzeitigen Rentenbezug zu ermög-
lichen und andererseits eine Zwangsverrentung von Personen im SGB II zu
verhindern?

7. Wie hoch wären die Einsparungen, die sich durch die von der Bundes-
regierung bestätigte Verringerung der ALG II-Bezieherinnen und -Bezie-
her durch die Zwangsverrentung im SGB II im Jahr 2006 ergeben hätten,
wenn es die 58er-Regel nicht gegeben hätte und wie hoch schätzt die Bun-
desregierung die zukünftigen Einsparungen durch Wegfall der 58er-Rege-
lung ein?

8. Wie hoch sind die Einnahmerückgänge und der Ausgabenanstieg, die sich
durch die Zwangsverrentung für die GRV von 2008 bis 2015 ergeben wer-
den?

9. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass die Rente für lang-
jährig Versicherte sowie für besonders langjährig Versicherte diejenigen
privilegiert, die langjährig bzw. besonders langjährig Beiträge in die
Rentenversicherung gezahlt haben und damit ansonsten gleiche Personen
nur deswegen ungleich behandelt, da die langjährige Beitragsentrichtung
eine Besserstellung rechtfertigt?

10. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass die Privilegierung
bestimmter Gruppen im Rentenrecht dazu führt, dass diejenigen, die da-
durch privilegiert werden sollen, gerade deswegen über das SGB II be-
nachteiligt werden, da sie Anspruch auf eine vorgezogene Altersrente mit
Abschlägen haben und sie daher früher zwangsverrentet werden können?

Verkehrt sich damit die Besserstellung im SGB VI nicht zu einer Schlech-
terstellung, da die Personen nicht mehr das Privileg haben, auf Wunsch
vorzeitig in Rente zu gehen, sondern diese freiwillige Entscheidung durch
die Regelung im SGB II zu einer erzwungenen Maßnahme und finanziellen
Schlechterstellung und damit gerade nicht mehr zu einem Privileg wird?

11. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass bei erwerbsfähigen
Personen, die die Grundsicherung für Erwerbsfähige beziehen, die Bei-
tragszeit zur GRV kein Kriterium sein kann, welches eine Ungleichbehand-
lung ansonsten gleicher Personen rechtfertigt?

12. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass bei erwerbsfähigen
Personen, die die Grundsicherung für Erwerbsfähige beziehen, die Er-
werbsdauer kein Kriterium sein kann, welches eine Ungleichbehandlung
ansonsten gleicher Personen rechtfertigt?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5843

13. Stimmt die Bundesregierung der Auffassung zu, dass der Anspruch auf
eine vorgezogene Altersrente kein sachgerechtes Unterscheidungsmerkmal
ist, welches bei der Grundsicherung für Erwerbsfähige herangezogen wer-
den kann, um im wesentlichen Gleiche ungleich zu behandeln, da die
Grundsicherung für alle Erwerbsfähigen offensteht und eine Zwangs-
verrentung dazu führt, dass eine eigentlich erwerbsfähige Person nicht
mehr anspruchsberechtigt ist, unabhängig von der Tatsache, ob diese Per-
son weiterhin dem Arbeitsmarkt voll zur Verfügung steht?

14. Teilt die Bundesregierung die Auffassung, dass die Zwangsverrentung im
Widerspruch zum Gleichbehandlungsgrundsatz nach Artikel 3 GG steht
(bitte begründen)?

15. Räumt die Bundesregierung ein, dass zumindest berechtigte Zweifel an der
Verfassungsmäßigkeit der Zwangsverrentung in der gegebenen Form an-
gebracht sind?

16. Wie bewertet die Bundesregierung die Situation, wenn sich im Jahr 2030
zwei Personen lediglich dadurch unterscheiden, dass die eine im Alter von
63 Jahren auf 31 Beitragsjahre und 35 Entgeltpunkte kommt, während die
andere Person im Alter von 63 Jahren 35 Beitragsjahre und 27 Entgelt-
punkte hat, und beide Leistungen nach dem SGB II beziehen aus Sicht des
Artikels 3 GG?

17. Wie bewertet die Bundesregierung in diesem Kontext ihre eigene Begrün-
dung für die Rente für „besonders langjährig Versicherte“ (Antwort auf die
Kleine Anfrage auf Bundestagsdrucksache 16/5461)?

18. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass die eigentlich zu
privilegierende Person nicht nur früher zwangsverrentet wird, sondern die
andere Person darüber hinaus weitere Rentenansprüche aus dem Bezug des
ALG II erwirbt?

19. Wie bewertet die Bundesregierung die Tatsache, dass bestimmte aus-
schließlich der Altersvorsorge dienende Vermögen gar nicht und andere
Kapitalvermögen zur Altersvorsorge oberhalb der Freigrenze nur einzu-
setzen sind, sofern der Rückkaufswert nicht mehr als 10 Prozent unter dem
Wert der eingezahlten Beträge liegt, wenn sie diesen die maximalen Ab-
schläge von 18 Prozent auf die Renten der GRV entgegenstellt?

Sieht die Bundesregierung darin nicht eine ungerechtfertigte Sonder-
stellung der privaten Vorsorge?

Berlin, den 21. Juni 2007

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

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