BT-Drucksache 16/5785

zu der Beratung der Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -16/918- Zur Situation von Roma in der Europäischen Union, in den EU-Beitrittsländern und im Kosovo

Vom 20. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5785
16. Wahlperiode 20. 06. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 16/918 –

Zur Situation von Roma in der Europäischen Union, in den EU-Beitrittsländern
und im Kosovo

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Seit mehr als sechshundert Jahren leben Roma in allen europäischen Ländern. In
ihrer tausendjährigen Geschichte wurden sie vielfach diskriminiert, verfolgt,
vertrieben, in einigen Regionen versklavt und schon im 16. Jahrhundert in die
Kolonien der neuen Welt deportiert. Ihre Verfolgung in Europa erreichte einen
grausamen Höhepunkt mit dem Holocaust, dem mehr als 500 000 Roma und
Sinti zum Opfer fielen. Entgegen der verbreiteten Vorstellung eines „Wander-
triebes“ hat die fortwährende Verfolgung der Roma sie häufig zu Vertriebenen
und Heimatlosen gemacht. Mittlerweile sind die meisten Roma sesshaft. Sie
leben als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit eigener Geschichte und Kultur
in den jeweiligen europäischen Staaten. Mit ungefähr 12 bis 15 Millionen Ange-
hörigen stellen sie heute die größte Minderheit in der Europäischen Union dar.

Die prekäre Situation eines großen Teiles der Roma stellt eines der drängendsten
Menschenrechtsprobleme der EU-Mitgliedstaaten dar. Nach einer Entschlie-
ßung des Europäischen Parlaments „Zur Lage der Roma in der Europäischen
Union“ vom 25. April 2005 und der von der Europäischen Kommission in Auf-
trag gegebenen Studie „Die Situation der Roma in der erweiterten Europäischen
Union“ sowie zahlreichen Berichten der OSZE, des Europarates, der Weltbank
und von Nichtregierungsorganisationen ist ein großer Teil der Roma von einer
Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen in den Bereichen des ökonomischen,
sozialen, politischen und kulturellen Lebens betroffen. Dies gilt sowohl für die
neuen als auch für die alten Mitgliedstaaten der Europäischen Union, wobei sich

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die Situation in den östlichen Staaten der Europäischen Union insgesamt drama-
tischer darstellt.

Alltägliche Anfeindungen, hohe Arbeitslosigkeit mangelnde Bildung und eine
oft katastrophale Wohnsituation kennzeichnen das Leben vieler Roma in zahl-
reichen Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Schlüsselfaktor dieses oft über
Generationen vererbten Teufelskreises sind immer wiederkehrende tief verwur-
zelte Vorurteile in allen Gesellschaften.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. sich im Rahmen der Europäischen Union für geeignete Programme einzuset-
zen, die sicherstellen, dass Roma ohne jede Diskriminierung Zugang zu
Wohnraum, Bildung, Arbeitsmarkt und Gesundheitsdiensten haben;

2. in der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass in allen Staaten Maß-
nahmen ergriffen werden, um die Überrepräsentanz von Roma-Kindern in
den Hauptschulen und Sonderschulen zu beenden, wobei insbesondere Vor-
schulkurse für Roma in integrierten Klassen unter Beteiligung von Roma-
Lehrern angeboten werden sollen;

3. in bilateralen Gesprächen und im Rahmen der EU, vor allem bezüglich der
Situation in den ost- und mitteleuropäischen Staaten, die nachhaltige Verbes-
serung der Infrastruktur von segregierten Siedlungen sowie konkrete Maß-
nahmen zur Bekämpfung diskriminierender Praktiken im Bereich der Wohn-
raumbewirtschaftung zu fordern und

a) in diesem Kontext die Gesprächspartner daran zu erinnern, dass die Richt-
linie 2000/43/EG zur Bekämpfung rassistisch motivierter Diskriminierun-
gen gleichfalls die Versorgung mit Wohnraum umfasst und Artikel 16 der
Europäischen Sozialcharta das Recht der Familie einschließlich der
Bereitstellung „familiengerechter Wohnungen“ verbürgt;

b) anzuregen, Mechanismen und institutionelle Verfahren einzuführen, um
Rechte an Grund und Boden und sonstige Eigentumsrechte zu klären und
damit die ungeklärten rechtlichen Wohnverhältnisse beizulegen (z. B.
Wohnviertel, die nicht in der Raumordnung der Hauptgemeinde verzeich-
net sind; Familien und Häuser ohne rechtsgültigen Nutzungsbescheid in
Siedlungen, in denen die Menschen de facto seit Jahrzehnten leben);

c) Roma bei der Gestaltung der Wohnraumpolitik sowie der für sie bestimm-
ten öffentlichen Wohnungsbauprojekte einzubeziehen und dabei sicher-
zustellen, dass Wohnungsbauprojekte nicht in segregierte Siedlungen
münden;

4. den Zugang der Roma zu Gerichten durch Maßnahmen wie Rechtshilfe und
Bereitstellung von Informationen in Romanes in der EU zu fördern;

5. sich dafür einzusetzen, dass die neu geschaffene EU-Grundrechteagentur auch
und insbesondere die Einhaltung der Menschenrechte der Roma überwachen
und die Diskriminierung der Roma thematisieren soll, wobei eine Repräsen-
tanz der Minderheitenangehörigen in der Behörde zu gewährleisten ist;

6. sich im Rahmen der Europäischen Union dafür einzusetzen, dass die Im-
plementierung bereits ergriffener Programme zur Förderung der Roma
hinreichend überwacht wird;

7. dafür zu sorgen, dass Roma in die Ausarbeitung, Umsetzung und Bewertung
aller sie betreffenden Maßnahmen als gleichberechtigte Partner einbezogen
werden, um den Erfolg solcher Maßnahmen zu gewährleisten;

8. im Rahmen der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass alle erforder-
lichen Schritte unternommen werden, damit der Betrieb der Schweinemast

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auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Lèty (Tschechische
Republik) eingestellt und eine würdige Gedenkstätte eingerichtet wird, wie
es in der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 25. April 2005
gefordert wurde.

Berlin, den 20. Juni 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Die gegenwärtige Situation vieler Roma in den Mitgliedstaaten der Euro-
päischen Union ist ein Skandal und mit den menschenrechtlichen und sozialen
Standards der Europäischen Union unvereinbar.

In allen Staaten der EU sehen sich Roma mit schweren Diskriminierungen
konfrontiert. Die negative Einstellung gegenüber den Roma mündet nicht
zuletzt in gewalttätigen Übergriffen – auch vonseiten der Behörden, wie durch
entsprechende Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
dokumentiert. Schwere Ausschreitungen wurden beispielsweise im Oktober
2006 in Slowenien gegen Roma verübt, bei denen ganze Familie aus ihren
Häusern vertrieben wurden. Bis heute konnten die Familien nicht in ihre Häuser
zurückkehren.

Der Teufelskreis, in dem sich viele Roma in der EU befinden, besteht im
Wesentlichen aus mangelnder Bildung, hoher Arbeitslosigkeit und einer oftmals
katastrophalen Wohnsituation. Die überwiegende Mehrheit der Roma-Kinder
wird systematisch in segregierten Klassen, Sonderschulen oder Schulen für geis-
tig Behinderte beschult. Nach einer Studie des EU Monitoring and Advocacy
Program (EUMAP) „Equal Access to Quality Education for Roma“ vom
2. April 2007 werden beispielsweise in Bulgarien bis zu 70 Prozent der Roma-
Kinder in segregierten Schulen unterrichtet, während 51 Prozent der Schülerin-
nen und Schüler in Sonderschulen Roma sind. Ebenso sind mehr als die Hälfte
der Roma in Ungarn in Sonderschulen bzw. in Klassen, deren deutliche Mehr-
heit Roma sind, eingeschult. Auch eine kürzlich in Spanien durchgeführte
Untersuchung des dortigen Arbeits- und Sozialministeriums vom April 2007
zeigt, dass in Spanien 70 Prozent der Roma über 16 Jahre die Grundschule nicht
abgeschlossen haben und der Anteil von Analphabetinnen und Analphabeten
unter den Roma bei etwa 60 Prozent liegt.

Die verbreitete Diskriminierung manifestiert sich gleichfalls darin, dass selbst
Roma mit einem Hochschulabschluss doppelt so oft von Arbeitslosigkeit betrof-
fen sind wie Mehrheitsangehörende mit einem identischen Bildungsabschluss.
Außerdem üben Roma häufiger – unabhängig von ihrem Bildungsstand – ein-
fache Arbeiten aus, wie zuletzt in der am 10. Mai 2007 veröffentlichten Studie
„Equality at work: Tackling the challenge“ der Internationalen Arbeiterorga-
nisation (ILO) bestätigt wird.

Die Wohnsituation vieler Roma ist besorgniserregend. Insbesondere in den öst-
lichen Mitgliedstaaten finden sich weithin segregierte Wohnsiedlungen, denen
jegliche Infrastruktur und die Anbindung an die Mehrheitsgesellschaft fehlen. In
der Tschechischen Republik existieren beispielsweise nach Angaben des tsche-
chischen Arbeitsministeriums über 300 segregierte Siedlungen, zum Teil ohne
Wasser und Strom. In der Slowakischen Republik – vornehmlich im Osten des
Landes – sind es nach offiziellen Angaben mehr als 600. Diese Siedlungen lie-
gen oftmals in Industriegebieten, in der Nähe von oder sogar auf Mülldeponien

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und entbehren damit jeglicher menschenwürdiger Standards. Solche Siedlungen
bergen zusätzlich Gesundheits- und Sicherheitsrisiken.

Die Wohnsituation vieler Roma, die in integrierten Siedlungen leben, ist häufig
durch Zwangsräumungen ohne Bereitstellung alternativer Unterkünfte bedroht.
So hat in den Transformationsstaaten die Privatisierung dazu geführt, dass viele
Roma ihre langjährigen Wohnungen verlassen müssen, da sie die nunmehr
geforderten Kautionen nicht bezahlen können. Damit hat sich in den letzten
15 Jahren die Wohnsituation der Roma in diesen Staaten massiv verschlechtert.
Oftmals werden auch Siedlungen, die vor Jahren bzw. Jahrzehnten oder sogar
Jahrhunderten, errichtet wurden, abgerissen. Dabei verlaufen diese Räumungen
häufig nach demselben Muster. Beispielhaft hierfür ist die im Januar 2006
durchgeführte Räumung durch die Bukarester Stadtbehörde im Viertel Chitila.
Die Bewohner wurden nur einen Tag zuvor über das Vorhaben unterrichtet.
Schätzungsweise 130 Erwachsene und 70 Kinder wurden bei einer Temperatur
von – 15˚C praktisch obdachlos, ihre persönlichen Besitztümer durften sie nicht
mitnehmen. Solche Räumungsaktionen sind in allen Staaten Ost- und Mittel-
europas zahlreich dokumentiert. Zuletzt hat der ehemalige Bürgermeister der
tschechischen Stadt Vsetin (Wesetin), Jiri Cunek (KDU-CSL), ca. 230 in Vsetin
lebende Roma im Oktober 2006 in menschenunwürdiger Art und Weise hinter
der Stadtgrenze in Containern deportiert und dies im Fernsehen mit den Worten
zusammengefasst: „Ich entferne doch nur ein Geschwür, das machen die Ärzte
doch auch.“

Diese Politik der Räumung ohne Bereitstellung alternativer Unterkünfte findet
auch in anderen Staaten wie beispielsweise in Bohumin (Tschechische
Republik), Patras und Athen (Griechenland), Mailand (Italien), Miercurea Ciuc
(Rumänien), Miercurea Ciuc (Spanien) und Little Waltham (England) statt, wo-
bei zahlreiche Räumungen durch Entscheidungen des Europäischen Ausschus-
ses für soziale Rechte (ECSR) für völkerrechtswidrig erklärt wurden. In Italien
sollen nunmehr in einem groß angelegten Projekt des Bürgermeisters Walter
Veltroni und des Präfekten Achille Sera der Stadt Rom Tausende Sinti und Roma
in vier Lager außerhalb Roms umgesiedelt werden. Ähnliche Aktionen sollen
auch alle anderen großen Städten Italiens durchführen. Archille Sera wurde von
der Regierung mit Sondervollmachten ausgestattet, um bis zu 5 000 der so
genannten Nomaden in „Dörfer der Solidarität“ jenseits des Autobahnringes, der
die Stadt umgürtet, umzusiedeln. Dort sollen sie von Polizisten überwacht wer-
den. Die anderen 10 000, die in illegalen Barackensiedlungen leben, „müssen
gehen“. Diese Art Menschen zu vertreiben bzw. zu deportieren sowie in Lagern
zu überwachen verstößt gegen jegliche europa- und völkerrechtlichen Men-
schenrechtstandards.

Gerade segregierte Siedlungen bedingen oft eine unzulängliche gesundheitliche
Versorgung vieler Roma. Auch aufgrund der Wechselwirkungen von Diskrimi-
nierung und Armut sind Roma beim Zugang zum Gesundheitswesen oft direkter
und indirekter Diskriminierung ausgesetzt. Dazu zählen Behandlungsverweige-
rung durch Allgemeinmedizinerinnen und Allgemeinmediziner und Einrichtun-
gen des Gesundheitswesens, die Trennung von anderen Patientinnen und Patien-
ten in medizinischen Einrichtungen sowie Schwierigkeiten beim Zugang zu
Notfallversorgung aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit. In der Tschechi-
schen und Slowakischen Republik wurden Romnia zudem ohne ihr Wissen
sterilisiert. Dies war bis 1989 offizielle Politik, wurde allerdings, wie durch dor-
tige Gerichte bestätigt, auch noch bis 2004 fortgeführt. Obgleich der von der
tschechischen Regierung eingesetzte Ombudsman, Otakar Motejl, von den un-
tersuchten Fällen 51 gesetzeswidrige Sterilisierungen feststellte und in seinem
Abschlussbericht eine „Restitution“ empfohlen hatte, stehen diese bislang aus.

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