BT-Drucksache 16/5784

zu der Beratung der Große Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN -16/918- Zur Situation von Roma in der Europäischen Union, in den EU-Beitrittsländern und im Kosovo

Vom 20. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5784
16. Wahlperiode 20. 06. 2007

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen),
Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Thilo Hoppe,
Ute Koczy, Kerstin Müller (Köln), Winfried Nachtwei, Omid Nouripour,
Claudia Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Jürgen Trittin, Josef Philip Winkler
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Volker Beck (Köln),
Marieluise Beck (Bremen), Grietje Bettin, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
– Drucksache 16/918 –

Zur Situation von Roma in der Europäischen Union, in den EU-Beitrittsländern
und im Kosovo

Der Bundestag wolle beschließen:

Der Deutsche Bundesstag fordert die Bundesregierung auf,

1. eine nationale Strategie zur Verbesserung der Situation der Sinti und Roma in
allen Bereichen auszuarbeiten, wie es vom Ministerrat des Europarates in der
Entschließung vom 7. Februar 2007 „Zur Umsetzung des Rahmenüberein-
kommens zum Schutz nationaler Minderheiten durch Deutschland“ gefordert
wurde;

2. den von der Bundesregierung unterschriebenen „Action Plan on Roma and
Sinti Issues“ der OSCE umzusetzen, demnach gleichfalls, wo nötig, umfas-
sende nationale Strategien oder Aktionspläne zur Verbesserung der Lage der
Sinti und Roma zu entwickeln sind;

3. in einer umfassenden nationalen Strategie zur Verbesserung der Lage der
Sinti und Roma insbesondere die folgenden Punkte zu berücksichtigen,

a) die Empfehlungen der Allgemeinen Empfehlung XXVII „Diskriminie-
rung der Roma“ des Ausschusses der Vereinten Nationen zur Beseitigung
rassistischer Diskriminierung (CERD) und die allgemeine politische
Empfehlung 3 „Bekämpfung von Rassismus und Intoleranz gegenüber
den Sinti und Roma“ der Europäischen Kommission gegen Rassismus und
Intoleranz (ECRI) sollten angemessen berücksichtigt werden;

b) die Umsetzung des Beschlusses der Innenministerkonferenz vom
23./24. Juni 2005 „zur Unterbindung von Bezeichnungen über die Zu-
gehörigkeit von Beschuldigten zu den Sinti und Roma in behördlichen
Mitteilungen“ sollte unterstützt werden;

Drucksache 16/5784 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

c) die deutsche Antidiskriminierungsstelle sollte vor dem Hintergrund der
verbreiteten Diskriminierung der Situation der Sinti und Roma besondere
Beachtung widmen, wobei sich dies auch in der Besetzung der Stelle mit
Angehörigen der Minderheit widerspiegeln sollte;

d) im Bildungswesen ist die Chancengleichheit für Roma- und Sinti-Kinder
aktiv zu fördern und umfassende Programme sollten entwickelt und um-
gesetzt werden mit dem Ziel, die Praxis der systematischen Überstellung
von Roma-Kindern in sonderpädagogische Schulen zu beseitigen. In die-
sem Rahmen sollten Vorschulangebote für Roma in integrierten Klassen,
an deren Durchführung Lehrer aus der Gruppe der Minderheit in ausrei-
chender Zahl beteiligt werden, ausgearbeitet werden;

e) die Finanzierung unterstützender Maßnahmen sollte sichergestellt werden,
um die Zahl der Mediatorinnen und Mediatoren, Ausbilderinnen und Aus-
bilder sowie Lehrerinnen und Lehrer, die Sinti oder Roma sind, zu erhöhen;

f) politische Konzepte sowie Programme im Bereich der Berufsbildung
sollten entwickelt werden, um die Beschäftigungschancen von Sinti und
Roma zu verbessern;

g) spezifische Programme sollten unterrepräsentierte Gruppen wie die der
Sinti und Roma auf eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst vorbereiten
und die Aufnahme von Sinti und Roma in den öffentlichen Dienst beson-
ders fördern;

h) Stipendienprogramme für Sinti- und Roma-Studentinnen und -Studenten
sollten entwickelt werden und Sinti und Roma zu einer verstärkten Teil-
nahme an bestehenden Stipendienprogrammen ermutigt werden;

i) spezifische Maßnahmen sollten die Achtung, den Schutz und die Förde-
rung des Romanes und seiner Lehre sowie der Kultur der Sinti und Roma
als Bestandteil des kulturellen Erbes der Sinti und Roma gewährleisten;

j) Aktivitäten der Bürgerrechts- und Kulturarbeit der Sinti und Roma sollten
unterstützt werden, indem sie verstärkt finanziell bei ihrer kulturellen,
schulischen und sozialen Arbeit und in ihrer Selbstorganisation gefördert
werden;

k) Sinti und Roma sollten in die Ausarbeitung, Umsetzung und Bewertung
aller sie betreffenden Maßnahmen als gleichberechtigte Partnerinnen und
Partner auch unter dem Aspekt der Eigenverantwortung einbezogen
werden, wie es in Artikel 15 des Rahmenübereinkommens zum Schutz
nationaler Minderheiten vorgesehen ist;

4. das Protokoll Nr. 12 zur Europäischen Menschenrechtskonvention zu ratifi-
zieren;

5. den Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union zu Rassismus
und Fremdenfeindlichkeit vom 19. April 2007 in Einklang mit dem Inter-
nationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskrimi-
nierung umzusetzen;

6. sich gegenüber den Innenministern der Länder dafür einzusetzen, dass
bislang geduldete Roma aus dem Kosovo eine Aufenthaltserlaubnis gemäß
§ 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) erhalten;

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5784

7. mit der Errichtung des beschlossenen Denkmals der Bundesrepublik
Deutschland für die ermordeten Sinti und Roma unverzüglich zu beginnen
und damit deutlich zu machen, wie in der Entschließung des Europäischen
Parlaments vom 28. April 2005 „Zur Lage der Roma in der Europäischen
Union“ gefordert, „dass der Holocaust an den Roma, dessen Ziel es war, die
Roma in Europa wie auch die Juden physisch zu vernichten, die volle Aner-
kennung verdient“.

Berlin, den 20. Juni 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

In der Bundesrepublik Deutschland wird die Zahl der seit 600 Jahren ansässigen
Sinti und der später ins Land gekommenen Roma derzeit auf bis zu 200 000 ge-
schätzt. Mehr als 50 000 Roma gehören zu den seit 1990 aus dem ehemaligen
Jugoslawien nach Deutschland geflohenen Flüchtlingen. Sinti und Roma bilden
eine historisch gewachsene und alteingesessene Minderheit. Die heute hier
lebenden deutschen Sinti und Roma sind eine nationale Minderheit und Bürge-
rinnen und Bürger dieses Staates.

Eine offizielle Anerkennung ihrer systematischen Verfolgung und Ermordung
unter den Nationalsozialisten, der mehr als 500 000 Sinti und Roma zum Opfer
fielen, ist in der deutschen Geschichte erst in den achtziger Jahre erfolgt. Nach
dem Zweiten Weltkrieg waren Sinti und Roma zunächst bei den Entschädi-
gungszahlungen zum Großteil nicht berücksichtigt worden. Die nationalsozia-
listischen „Rasseforschungsakten“ wurden von deutschen Behörden noch nach
1945, etwa für polizeiliche Zwecke, genutzt und auch die „Landfahrerzentrale“
in Bayern wurde als Nachfolgeinstitution der NS-„Zigeunerzentrale“ ausgebaut.
Erst im Oktober 2001 wurde die letzte verbliebene ethnische Sondererfassung
von Sinti und Roma in bayerischen Polizeiberichten offiziell eingestellt. Mit der
langen Negierung der Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland gegen-
über den Opfern sind Sinti und Roma in ihren traumatischen Erfahrungen bis in
die zweite und dritte Generation geprägt worden.

Noch heute sind Sinti und Roma in den verschiedensten Lebensbereichen von
Ausgrenzung und Stigmatisierung betroffen. Beispielhaft hierfür ist ein Urteil
des Amtsgerichts Bochum vom 25. September 1996, wonach „Zigeuner“ gene-
rell als „Nachmieter einer Wohnung nicht geeignet“ seien. Das Gericht bezeich-
nete Sinti und Roma als „traditionsgemäß überwiegend nicht sesshafte Bevölke-
rungsgruppe, die „eine fruchtbare Vermittlungszusammenarbeit“ nicht erwarten
lasse.

Nach einer repräsentativen Umfrage des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma
vom Oktober 2006 sind 76 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der
Arbeit, in der Nachbarschaft, in Gaststätten oder an anderen Orten schon häufig
diskriminiert worden. Die Situation der Sinti und Roma bleibt insgesamt besorg-
niserregend. So urteilte auch der Ministerrat des Europarates in seiner Resolu-
tion vom 7. Februar 2007 „Zur Umsetzung des Rahmenübereinkommens zum
Schutz nationaler Minderheiten durch Deutschland“. Sinti und Roma sind ins-
besondere von Diskriminierung und Stigmatisierung in den Medien sowie Be-
leidigungen und Übergriffen betroffen. Es ist daher besonders wichtig, Medien,
Politik und Behörden für den verbreiteten Antiziganismus zu sensibilisieren.
Dabei sollten die Medien ermutigt werden, positive Aspekte des Roma-Lebens

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aufzuzeigen und ein ausgewogenes Bild davon zu zeichnen. Besonders proble-
matisch in diesem Zusammenhang ist die Erfassung ethnischer Daten durch die
Polizeibehörden, wobei zudem in Polizeiakten bestimmte Ausdrücke wie „mo-
bile ethnische Minderheit“ an Stelle von Sinti bzw. Roma unbegründet verwen-
det werden.

In den Fällen, in denen derartige Informationen von der Polizei an die Medien
weitergegeben wurden, führte dies zu einer besonderen Stigmatisierung der ge-
samten Minderheit. Etliche solcher Fälle, in denen Medien eine Bezeichnung
Beschuldigter oder Verdächtigter – ohne dass dies für den Tathergang relevant
war – als „Sinti und Roma“ vorgenommen haben, sind dokumentiert. Die Behör-
den sollten daher sicherstellen, dass eine unbegründete Erfassung von Daten
zum ethnischen Hintergrund von Verdächtigen oder Beschuldigten unterbleibt.

Insbesondere im Bildungssystem sind viele Sinti und Roma, insbesondere „ge-
duldete“ Roma, besonders benachteiligt. Untersuchungen, die 2003 vom Open
Society Institute im Rahmen des European Union Monitoring and Advocacy
Program (EUMAP) durchgeführt wurden, ergaben, dass ein überproportionaler
Teil der Kinder von Sinti und Roma in Deutschland auf Sonderschulen beschult
wird. Ferner lebt ein Teil der Sinti und Roma – dies gilt ebenfalls besonders für
die „geduldeten“ Roma – von der deutschen Mehrheitsgesellschaft isoliert in
sozialen Brennpunkten, was sich vielfach auf ihre Bildungs- und Berufschancen
auswirkt.

Besonders Kinder, wie die von der UNICEF in Auftrag gegebene Studie „Zur
Lage von Kindern aus Roma Familien Deutschland“ vom März 2007 darlegt,
haben schlechte Integrationschancen. Der Beratende Ausschuss des Europarates
hat in seiner zweiten Stellungnahme vom 1. März 2006 insgesamt festgestellt,
dass in Deutschland offenbar keine Gesamtpolitik für mehr Chancengleichheit
von Sinti und Roma existiert und die nationalen Pläne zur sozialen Integration
keine konkret für sie konzipierten Maßnahmen enthalten, obwohl ihre Situation
in verschiedenen Bereichen offenbar spürbar schlechter als die Lage anderer
Gruppen und der Mehrheitsbevölkerung ist.

Der ungesicherte Aufenthaltsstatus vieler in Deutschland lebender Roma trägt
erheblich zu ihrer Marginalisierung bei. Für die ca. 33 000 Roma aus dem
Kosovo gilt aufgrund der Bedingungen in der Herkunftsregion zwar seit Jahren
grundsätzlich ein Abschiebestopp, ein regulärer Aufenthaltstitel bleibt ihnen
aber verwehrt. Wegen der restriktiven Bedingungen der Altfallregelung der
Innenministerkonferenz wie der bundesgesetzlichen Altfallregelung ist abseh-
bar, dass nur ein Teil der langjährig geduldeten Roma von ihr erfasst wird. Aus
humanitären Gründen wie aus Integrationsinteressen sollten Roma aus dem
Kosovo daher eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 23 Abs. 1 des AufenthG erhal-
ten. Dieser Aufenthaltstitel wird von den Ländern gewährt, zur Wahrung der
Bundeseinheitlichkeit bedarf es jedoch des Einvernehmens mit dem Bundes-
minister des Innern. Diese Lösung ist angezeigt, weil sich die Situation der
Roma im Kosovo seit Jahren nicht grundlegend verändert hat.

Roma sehen sich im Kosovo weiterhin Bedrohungen ausgesetzt, vom regulären
Arbeitsmarkt sind sie faktisch ausgeschlossen und aufgrund von Zerstörung und
Vertreibung kann nicht von ausreichenden Wohnmöglichkeiten ausgegangen
werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die bisherige Strategie, Roma aus dem
Kosovo zur „freiwilligen“ Rückkehr zu drängen, weder angebracht noch ziel-
führend.

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