BT-Drucksache 16/5587

Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan - Nebeneinander von ISAF und OEF beenden

Vom 12. Juni 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5587
16. Wahlperiode 12. 06. 2007

Antrag
der Abgeordneten Jürgen Trittin, Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln),
Alexander Bonde, Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid,
Kai Gehring, Thilo Hoppe, Ute Koczy, Jerzy Montag, Omid Nouripour, Claudia
Roth (Augsburg), Rainder Steenblock, Josef Philip Winkler, Renate Künast,
Fritz Kuhn und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für einen sicherheitspolitischen Kurswechsel in Afghanistan –
Nebeneinander von ISAF und OEF beenden

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Das internationale Engagement in Afghanistan in Form von zivilen und
humanitären Maßnahmen sowie der sicherheitspolitischen Unterstützung
durch die ISAF kann viele Teilerfolge vorweisen. Hierzu gehört auch, dass
Afghanistan nicht mehr der Rückzugsort und das Trainingslager des interna-
tionalen Terrornetzwerks von Al Qaida ist. Gleichwohl verüben Al Qaida-
Kräfte, alte und neue Talibangruppen und andere gewaltbereite fundamenta-
listische Kräfte überwiegend von Pakistan aus Angriffe in Afghanistan, vor-
nehmlich noch im Süden und Osten. Vor Ort können sie auf alte Netzwerke,
Drogenkartelle und eine Schar von Enttäuschten, Entmachteten und Krimi-
nellen zurückgreifen. Das gewaltbereite Spektrum der Aufständischen bzw.
ihrer Unterstützer ist diffus und bedient sich vermehrt terroristischer Metho-
den.

Die Zahl der Anschläge und sicherheitsrelevanten Zwischenfälle in Afgha-
nistan hat seit 2005 spürbar zugenommen. 2006 wurden nach Angaben von
Human Rights Watch ca. 700 Zivilisten von Taliban und anderen bewaff-
neten Gruppen getötet. Dabei begingen die Aufständischen mit gezielten
Anschlägen gegen die Zivilbevölkerung zunehmend Kriegsverbrechen. Bei
ihren Angriffen gegen militärische Ziele sind in erster Linie afghanische
Zivilisten und Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen internationaler Hilfsorgani-
sationen die Opfer. Auch deutsche Soldaten, zivile Helfer und afghanische
Partner wurden in der Vergangenheit Opfer von heimtückischen Anschlägen.

2. Human Rights Watch geht davon aus, dass 2006 mindestens auch 230 Zivi-
listen infolge von Militäroperationen von Seiten der OEF, der NATO oder

anderer Koalitionskräfte ums Leben kamen. In einer Reihe von Fällen hätten
afghanische und internationale Sicherheitskräfte gegen das humanitäre
Völkerrecht verstoßen, indem sie unterschiedslose Angriffe durchgeführt
und keine adäquaten Vorsorgemaßnahmen getroffen hätten, um Opfer unter
der Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Internationale Kräfte haben – unterstützt von afghanischen Sicherheits-
kräften – auch in diesem Jahr Bodenoffensiven oder Luftangriffe durch-

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geführt, bei denen es wiederholt und teils in erheblichem Umfang zu Opfern
unter der Zivilbevölkerung gekommen ist. Bei einigen Zwischenfällen war
die Abgrenzung zwischen der US-geführten Antiterror Operation Enduring
Freedom (OEF), der VN-mandatierten internationalen Sicherheitsunterstüt-
zungstruppe (ISAF) oder von weiteren in Afghanistan operierenden US-
Spezialeinheiten selbst für Experten von außen nur schwer erkennbar. Für
die afghanische Bevölkerung war und ist eine Unterscheidung der Truppen
und Missionen gar nicht möglich.

Vieles deutet darauf hin, dass neben den Luftangriffen vor allem die Art und
Weise des militärischen Vorgehens von US- und OEF-Truppen für die hohe
Zahl der Zivilopfer verantwortlich ist. Dabei wurde auch die ISAF, wie z. B.
Ende April 2007 bei den Kämpfen in Shindand (Provinz Herat) geschehen,
in diese Zwischenfälle verwickelt. Die OEF dient nicht mehr dem Schutz
der ISAF – im Gegenteil. Die Wut und die Enttäuschung über das rück-
sichtslose militärische Vorgehen eines Teils der internationalen Truppen in
Afghanistan wenden sich gegen alle internationalen Streitkräfte. Auch die
Zentralregierung und die internationalen Hilfskräfte verlieren so weiter an
Rückhalt in der Bevölkerung. Die OEF und die Kommandoaktionen gefähr-
den zunehmend die ISAF-Mission und untergraben so die Unterstützung in
den Heimatländern.

3. Das Nebeneinander getrennt geführter und unterschiedlichen Aufträgen
folgenden Missionen im gleichen Operationsgebiet widerspricht allen mili-
tärischen Regeln. Es erweist sich immer mehr als kontraproduktiv und
unverantwortlich. Nach dem Abschluss des Petersberg Prozesses und der
Ausweitung der ISAF-Verantwortung auf ganz Afghanistan gibt es für die
Operation Enduring Freedom in Afghanistan keine rechtlich und keine sach-
lich tragfähige Grundlage mehr.

Mit den Parlamentswahlen (September 2005) und der Vereidigung des Kabi-
netts (Mai 2006) wurde die demokratische und verfassungsrechtliche Legiti-
mierung der Karzai-Regierung abgeschlossen. Damit trägt die afghanische
Regierung auch im Bereich der Sicherheit, inklusive der Terrorismus-
bekämpfung, die Hauptverantwortung. Das afghanische Rechtssystem hat
für die Bekämpfung von Kriminalität, Aufständischen oder Terroristen alle
erforderlichen rechtlichen Grundlagen. Die Sicherheitskräfte und die Justiz-
und Verwaltungsstrukturen Afghanistans sind der landesweiten Implemen-
tierung dieser Aufgabe noch nicht gewachsen. Auf Ersuchen der afghani-
schen Regierung und in Übereinstimmung mit der Beschlusslage der Ver-
einten Nationen wurde daher der ISAF-Einsatz schrittweise auf ganz
Afghanistan ausgedehnt. Der im Dezember 2005 veränderte ISAF-Opera-
tionsplan sieht eine stärkere operative Unterstützung der afghanischen
Sicherheitskräfte, auch im Ausbildungsbereich, vor. Am 5. Oktober 2006
folgte die letzte Stufe der Ausdehnung auf den Osten, um dort die Operation
Enduring Freedom abzulösen und die Stabilisierungs- und Aufbauarbeit aus-
zubauen. Inzwischen sind nach Angaben der NATO 41 000 Soldatinnen und
Soldaten aus 37 Nationen am ISAF-Einsatz beteiligt.

Die außerhalb der ISAF operierenden internationalen Sicherheitskräfte
haben mit der souveränen afghanischen Regierung kein Stationierungs-
abkommen (Status of Forces Agreement) geschlossen, das die Befugnisse
der Streitkräfte im Land rechtlich regelt. Der Military Commissions Act der
USA (Oktober 2006) weicht vor dem Hintergrund der Terrorismusbekämp-
fung Mindeststandards auf, die Kriegsgefangenen nach den Genfer Konven-
tionen zugestanden werden müssten. Ein so verstandener „War on Terror“
schwächt nicht den Terroismus sondern stärkt ihn. Es darf in Afghanistan

keine separate, völkerrechtswidrige oder extralegale Terrorismusbekämp-
fung geben. Alle internationalen militärischen Operationen außerhalb der

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ISAF in Afghanistan sind einzustellen. Verbliebene, nicht abgezogene OEF-
Kräfte in Afghanistan sind unter das Kommando der ISAF zu stellen.

Die ISAF- und die von der internationalen Staatengemeinschaft ausgebilde-
ten afghanischen Militär- und Polizeikräfte müssen künftig alles dafür tun,
dass Opfer unter der Zivilbevölkerung verhindert werden und es zu keiner
weiteren Entfremdung kommt. Arrogantes, rüdes, kulturell unsensibles oder
demütigendes Vorgehen von Soldaten oder Polizisten schaden der Mission.
Die Sicherheitskräfte sind zum Schutz der Zivilbevölkerung da und müssen
den friedfertigen Bürgerinnen und Bürgern vor Ort rechtsstaatskonform
sowie mit Würde und Respekt begegnen. Geschieht dies nicht, geht das Ver-
trauen in den noch fragilen Staat, der sie schützen soll, verloren.

4. Afghanistan ist noch nicht zur Ruhe gekommen. Es bedarf weiterhin der
militärischen Absicherung und Unterstützung von Seiten der ISAF und der
massiven Wiederaufbauhilfe Dritter. Der mühsame Wiederaufbau des vom
jahrzehntelangen Bürgerkrieg ausgezehrten Landes findet unter schwierigen
und z. T. feindseligen Bedingungen statt.

Die Hauptverantwortung für den Erfolg tragen die Afghaninnen und Afgha-
nen, vor allem die Regierung und das Parlament. Die internationale Staaten-
gemeinschaft kann nur unterstützend wirken. Wenn die internationale Staa-
tengemeinschaft verhindern will, dass Afghanistan in den Bürgerkrieg
zurückfällt und erneut zur Heimstatt islamistischer Terrorkräfte wird, muss
sie sich verstärkt für den Aufbau effizienter und tragfähiger afghanischer
Strukturen in Staat und Gesellschaft einsetzen.

So begrüßenswert die EU-Verstärkung im Polizeibereich auch ist, sie reicht
qualitativ und quantitativ bei weitem nicht aus. Der Aufbau funktionierender
und nicht korrupter staatlicher Strukturen und eines landesweiten Polizei-
und Justizsystems bedarf einer Vervielfachung des bisherigen Engagements.
Der Aufbau von staatlichen Sicherheitsstrukturen ohne ein funktionsfähiges
Justizsystem reicht nicht für einen Stabilisierungs- und Demokratieprozess.
Die Blockaden bei der Umsetzung der Polizeireform müssen beseitigt wer-
den.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

● die deutsche Beteiligung an der Operation Enduring Freedom in Afghanis-
tan zu beenden,

● gegenüber den USA, in der NATO und gegenüber den ISAF-Partnern darauf
zu drängen, dass das Nebeneinander der ISAF und der OEF beendet wird
und die Gesamtverantwortung für die militärische Sicherheitsunterstützung
der Regierung allein bei der ISAF liegt,

● darauf zu drängen, dass dabei die an der OEF beteiligten Staaten weiterhin
Ressourcen für die ISAF-Mission zur Verfügung stellen, um die Strukturen
und Ressourcen der ISAF zu stärken,

● darauf hinzuwirken, dass die afghanische Armee, die afghanischen Polizei-
truppen und die ISAF-Kräfte bei ihrem Vorgehen gegen militante Opposi-
tionsgruppen künftig alles unternehmen, um Opfer unter der Zivilbevölke-
rung zu vermeiden,

● im Rahmen der Ausbildung und Operationsführung verstärkt darauf hinzu-
wirken, dass die internationalen Sicherheitskräfte und deren afghanische
Partner gegenüber der Bevölkerung mit Respekt und Zurückhaltung auf-
treten und die universellen Menschenrechte sowie die Regeln des humanitä-
ren Völkerrechts einhalten,

Drucksache 16/5587 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
● den Aufbau und die Ausbildung afghanischer Militär- und Polizeikräfte
landesweit massiv voranzutreiben und die strukturellen Defizite, insbeson-
dere im Bereich der Besoldung, so rasch wie möglich zu beseitigen,

● die Rückstände beim Justizaufbau und der Korruptionsbekämpfung
schnellstens abzubauen,

● darauf hinzuwirken, dass die pakistanischen Sicherheitskräfte und die pakis-
tanische Regierung glaubwürdig und mit aller Kraft gegen die Netzwerke
vorgehen, die von Pakistan aus den friedlichen Wiederaufbau Afghanistans
stören bzw. mit Gewalt untergraben.

Berlin, den 12. Juni 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

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