BT-Drucksache 16/5103

Für ein integrationsförderndes, menschenrechtskonformes und humanitär ausgewogenes Zuwanderungsgesetz

Vom 25. April 2007


Deutscher Bundestag Drucksache 16/5103
16. Wahlperiode 25. 04. 2007

Antrag
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Irmingard Schewe-
Gerigk, Kai Gehring, Britta Haßelmann, Monika Lazar, Omid Nouripour, Jerzy
Montag, Claudia Roth (Augsburg), Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian
Ströbele, Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für ein integrationsförderndes, menschenrechtskonformes und humanitär
ausgewogenes Zuwanderungsgesetz

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das deutsche Aufenthalts- und Flüchtlingsrecht bedarf einer Weiterentwick-
lung. Die Bundesrepublik Deutschland muss in diesem Rechtsgebiet elf Richt-
linien der Europäischen Union in nationales Recht überführen. Zudem hat die
Praxiserfahrung mit dem Zuwanderungsgesetz gezeigt, dass insbesondere Rege-
lungen zur Zuwanderung, zur Integrationsförderung und zur Wahrung des
Flüchtlingsschutzes zu verbessern sind.

Die von der Bundesregierung angestrebten gesetzlichen Änderungen werden
diesen Anforderungen nicht gerecht. Zwingende EU-Vorgaben werden nicht
oder ungenügend umgesetzt. Zudem sind zahlreiche aufenthalts- und asylrecht-
liche Verschärfungen vorgesehen.

Der Zuwanderungskompromiss von 2004 darf nicht auf Kosten von Integration
und Humanität aufgekündigt werden. Die Bundesrepublik Deutschland braucht
im Gegenteil ein Aufenthalts- und Flüchtlingsrecht, das Integration fördert,
Familien, Frauen und Jugendliche stärkt und humanitären Verpflichtungen ge-
genüber Flüchtlingen in vollem Umfang entspricht.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

bei der Überarbeitung des Zuwanderungsgesetzes die folgenden Anforderungen
einzuhalten:

A. Integration fördern statt behindern

1. Familienzusammenhalt schützen

1. Das Recht auf ein Zusammenleben in ehelicher Gemeinschaft darf nicht

durch neue Bedingungen beim Familiennachzug eingeschränkt werden.
Dies gebietet auch der besondere Schutz, den die Ehe im Grundgesetz ge-
nießt.

2. Der Ehegattennachzug darf nicht davon abhängig gemacht werden, dass
Deutschkenntnisse bereits vor der Einreise bestehen. Nachziehende Ehe-
partnerinnen/Ehepartner erwerben Deutschkenntnisse in den Integrations-
kursen in Deutschland.

Drucksache 16/5103 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

3. Sozial Schwache dürfen beim Familiennachzug nicht benachteiligt wer-
den. Der Ehegattennachzug zu Deutschen muss weiterhin unabhängig
von finanziellen Voraussetzungen gewährleistet sein.

4. Binationale Ehen und Lebenspartnerschaften sind vom Staat zu akzeptie-
ren und zu unterstützen, statt sie unter gesetzlichen Pauschalverdacht zu
stellen und ihnen nahezulegen, die familiäre Gemeinschaft ins Ausland
zu verlegen.

5. Flüchtlinge, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 des Auf-
enthaltsgesetzes (AufenthG) erteilt worden ist, müssen einen Anspruch
darauf erhalten, die Einheit der Familie in Deutschland aufrechtzuerhal-
ten.

2. Opfer von Zwangsverheiratung wirksam schützen

1. Von Zwangsverheiratung Betroffene müssen ein sofortiges eigenständi-
ges Aufenthaltsrecht erhalten.

2. Die legale Rückkehr von Personen, die zur Verheiratung ins Ausland ver-
schleppt wurden, muss auch über sechs Monate hinaus gesichert sein.

3. Von Gewalt bedrohten Ausländerinnen, die nur eine Duldung besitzen
bzw. deren gewalttätiger Ehepartner nur eine Duldung oder Aufenthalts-
gestattung besitzt, muss Zugang zu einem humanitären Schutzstatus im
Rahmen des § 25 AufenthG ermöglicht werden.

3. Integrationskurse: Qualität statt Bußgelder

1. Die Integrationskurse nach dem Aufenthaltsgesetz müssen ausgeweitet
werden, differenziert und besser finanziert. Insbesondere muss die Ver-
sorgung für die nach dem Gesetz nicht ausdrücklich berechtigte Gruppe
der sog. Bestandsausländer mit neuen Angeboten erreicht werden.

2. Um die Teilnahmemöglichkeit von Eltern zu verbessern, ist die Kinder-
betreuung während der Kurse sicherzustellen.

3. Es darf keine neuen Zwangsmaßnahmen und Bußgelder geben.

4. Aufenthaltsverfestigung und damit Integration erleichtern

1. Nach dem Aufenthaltsgesetz bestehende Ansprüche auf Verlängerung der
Aufenthaltserlaubnis dürfen nicht in Frage gestellt werden.

2. Der besondere Ausweisungsschutz von in Deutschland aufgewachsenen
Heranwachsenden darf nicht angetastet werden.

3. Die Ausweisungstatbestände dürfen nicht verschärft werden.

5. Einbürgerung erleichtern statt erschweren

1. Die Einbürgerung darf nicht durch zusätzliche Hürden, versteckte Kosten
und langwierige Verfahren erschwert werden.

2. Gesinnungstests durch die Länder müssen wirksam unterbunden werden.

3. Die Regelungen zur erleichterten Einbürgerung von Jugendlichen und
jungen Erwachsenen sind unverändert zu erhalten.

4. Die doppelte Staatsbürgerschaft soll nicht nur bei EU-Bürgern grundsätz-
lich akzeptiert werden, sondern auch bei Angehörigen von Staaten, die
der EU assoziiert sind und eine Beitrittsperspektive haben.

5. Wer bei der Geburt mehrere Staatsangehörigkeiten erworben hat, darf
künftig nicht gezwungen werden, sich für eine Staatsangehörigkeit zu
entscheiden (Verzicht auf das Optionsmodell).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/5103

6. Wer die deutsche Staatsbürgerschaft erworben hat, ist ohne Vorbehalte als
Deutscher zu behandeln. Spezifische Registrierungen in einem eigenen Re-
gister haben zu unterbleiben.

B. Menschenrechte müssen beachtet, Flüchtlinge geschützt und EU-Richtlinien
zum Schutz von Flüchtlingen vollständig umgesetzt werden

1. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen als Flüchtlinge anerkannt
werden, die aufgrund ihrer sexuellen Identität verfolgt wurden, wie dies
die Qualifikationsrichtlinie vorsieht.

2. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen als Flüchtlinge anerkannt
werden, die aufgrund der öffentlichen religiösen Betätigung verfolgt wur-
den, wie dies die Qualifikationsrichtlinie vorsieht.

3. Es muss sichergestellt werden, dass Menschen als Flüchtlinge anerkannt
werden, die aufgrund von Kriegsdienstverweigerung verfolgt wurden, wie
dies die Qualifikationsrichtlinie vorsieht.

4. Flüchtlinge, die einer Bevölkerungsgruppe angehören, der im Herkunfts-
land willkürliche Gefahr droht, müssen nach § 60 Abs. 7 AufenthG Zugang
zum subsidiären Schutz, so wie ihn die Qualifikationsrichtlinie vorschreibt,
erhalten.

5. Der Rechtsanspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 25 Abs. 3
AufenthG für Flüchtlinge, denen Abschiebungshindernisse zuerkannt wur-
den, muss von einer „Soll-“ in eine „Ist-Vorschrift“ umgewandelt werden.

6. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zum Kindeswohl sind vollständig
und korrekt umzusetzen.

7. Zur Vermeidung künftiger Kettenduldungen muss insbesondere eine Ände-
rung von § 25 Abs. 5 AufenthG erfolgen, die die Prüfung der Zumutbarkeit
einer Ausreise für den Betroffenen beinhaltet.

8. Eine wirksame Bleiberechtsregelung muss im AufenthG verankert werden.

9. Flüchtlinge, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG
erteilt worden ist, müssen innerhalb des Zeitraums, in dem sie nur über
einen nachrangigen Arbeitsmarktzugang verfügen, gegenüber anderen in
Deutschland lebenden Drittstaatsangehörigen bevorzugt berücksichtigt
werden (Vorrang im Nachrang). Ihnen ist zudem die Aufnahme einer
selbstständigen Beschäftigung zu ermöglichen.

10. Flüchtlinge, denen eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG
erteilt worden ist, dürfen im Falle der Sozialhilfebedürftigkeit keiner räum-
lichen Beschränkung unterliegen.

11. Bei der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II) ist
der individuelle Rechtsschutz wirksam zu gestalten.

12. In das Asylbewerberleistungsgesetz sind die Vorschriften der Richtlinie
2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie) über die medizinische Versorgung von
Asylsuchenden sowie über die spezifischen Betreuungserfordernisse von
Personen mit besonderen Bedürfnissen aufzunehmen. Traumatisierte Asyl-
bewerber und Opfer des Menschenhandels erhalten somit einen Anspruch
auf medizinische Behandlung.

13. Asylanträge von Personen, die Folter, Vergewaltigung oder andere schwere
Gewalttaten erlitten haben, dürfen nicht im sog. Flughafenverfahren be-
handelt werden. Vielmehr ist ihnen zunächst im Inland die erforderliche
medizinische Behandlung zu gewähren (Artikel 20 der Richtlinie 2003/9/

EG).

Drucksache 16/5103 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

14. Opfern von Menschenhandel ist regelmäßig eine Bedenkzeit von bis zu
sechs Monaten einzuräumen, in der sie entscheiden können, ob sie mit den
Ermittlungsbehörden zusammenarbeiten wollen. Sie sind von einer Vertei-
lung gemäß § 15a AufenthG auszunehmen. Nach Ablauf der Bedenkfrist
ist Opfern von Menschenhandel eine befristete Aufenthaltserlaubnis von
mindestens sechs Monaten zu erteilen, wenn sie entweder zur Zusammen-
arbeit mit den Behörden bei den Ermittlungen bereit sind oder der Verbleib
des Opfers aufgrund seiner persönlichen Situation erforderlich ist. In Här-
tefällen ist ein Aufenthaltsrecht auch über das Strafverfahren hinaus zu er-
teilen.

15. Verstöße gegen die Residenzpflicht für Asylsuchende müssen entkrimina-
lisiert werden. Die Bußgeld- und Strafvorschriften von § 85 Nr. 2 und § 86
des Asylverfahrensgesetzes sind aufzuheben.

16. Ausländerbehörden dürfen kein eigenständiges Festnahmerecht erhalten.
Es gilt der Richtervorbehalt.

17. Die Rechtsschutzmöglichkeit bei der Verhängung von Zurückweisungshaft
muss gewahrt bleiben.

18. Es darf keine zeitliche Ausweitung des Bezugs abgesenkter Leistungen
nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geben.

19. Es darf keine Beweislastumkehr bei der Altersfeststellung von Jugend-
lichen geben.

Berlin, den 25. April 2007

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Zu Ziffer I

Die Bundesrepublik Deutschland muss elf EU-Richtlinien umsetzen, die das
Aufenthalts- und Flüchtlingsrecht betreffen. Bereits der vom Bundesministe-
rium des Innern vorgelegte Referentenentwurf wurde von Fachverbänden, Kir-
chen, Gewerkschaften und anderen Nichtregierungsorganisationen kritisiert.
Auch der inzwischen von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf eines Geset-
zes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäi-
schen Union wird den Anforderungen nicht gerecht. „Die Verschärfungen ste-
hen in krassem Widerspruch zu den Intentionen des von Ihnen initiierten
Integrationsgipfels“, schreiben Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Integra-
tionsgipfels in einem offenen Brief an die Bundeskanzlerin vom 27. März 2007.

Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, den in diesem Antrag dargeleg-
ten Forderungen bei der Änderung des Zuwanderungsgesetzes zu entsprechen.

Zu Ziffer II

Zu Buchstabe A

Prägende Merkmale des Gesetzentwurfs der Bundesregierung sind Abschot-
tung und zusätzliche Hürden für Aufenthaltsverfestigung und Einbürgerung.

Misstrauen, bürokratische Gängelung und das Vorenthalten von Rechten sind
der Integration abträglich.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/5103

Zu Nummer 1

Das grundgesetzlich besonders geschützte Recht auf familiäre Gemeinschaft
darf nicht durch Sprachanforderungen eingeschränkt werden, wie sie der Ge-
setzentwurf der Bundesregierung in § 30 Abs. 1 AufenthG vorsieht. Mit dieser
Regelung durchbricht die Bundesregierung das mit dem Zuwanderungsgesetz
2004 geschaffene System der Integrationskurse. Diese beinhalten vor allem die
Vermittlung der Deutschkenntnisse, die zweifellos notwendig sind, um in
Deutschland ein gleichberechtigtes Leben zu führen. Deutschkenntnisse kön-
nen viel besser in dem bestehenden verbindlichen Rahmen in Deutschland er-
worben werden als im Ausland, wo ein flächendeckendes System entsprechen-
der Kurse nicht existiert.

Daher besteht für die Regelung keine Erforderlichkeit, zumal es sich nicht um
ein Umsetzungserfordernis aus der Familiennachzugsrichtlinie 2003/86/EG
handelt. Mit der Regelung lassen sich auch keine Zwangsverheiratungen ver-
hindern. Die absehbare Wirkung wäre ein dramatischer Rückgang des Ehegat-
tennachzuges. Eine vergleichbare Regelung für Spätaussiedler hatte einen
Rückgang des Zuzuges um rund 40 Prozent zur Folge – trotz erheblicher mate-
rieller Aufwendungen des Bundes für die Sprachförderung in den entsprechen-
den Herkunftsgebieten. Die von der Bundesregierung vorgesehene Regelung
bedeutet zudem eine Diskriminierung insbesondere türkischer Staatsangehöri-
ger, da für visafreie Staaten eine Ausnahme vorgesehen ist (§ 30 Abs. 1 Satz 3
Nr. 4 AufenthG-E in Verbindung mit § 41 der Aufenthaltsverordnung. Danach
gilt die Ausnahme für Staatsangehörige von Australien, Israel, Südkorea, Neu-
seeland, den USA sowie Andorra, Honduras, Monaco, San Marino).

Mit der von der Bundesregierung in § 28 AufenthG beabsichtigten Änderung
kann erstmals der Familiennachzug zu Deutschen von einem gesicherten
Lebensunterhalt abhängig gemacht werden. Wer Sozialleistungen bezieht, kann
nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, eine binationale Partnerschaft in
Deutschland führen zu können. Die Regelung richtet sich laut Begründung der
Bundesregierung explizit gegen Eingebürgerte, Doppelstaatler und Personen,
die längere Zeit im Ausland gelebt haben und die dortige Sprache kennen.
Ihnen sei eine eheliche Gemeinschaft im Ausland zumutbar. Das ist zynisch
und entspricht nicht dem grundgesetzlichen Auftrag des Staates, Ehe und Fami-
lie besonders zu schützen.

Mit einem generellen Misstrauen werden binationale Partnerschaften zudem
mit dem vorgesehenen § 27 Abs. 1a AufenthG-E überzogen, nach dem der
Nachzug nicht zugelassen wird, wenn für die Behörden feststeht, dass die Ehe
ausschließlich zum Zweck des Nachzuges geschlossen wurde. Bereits jetzt
finden umfangreiche Prüfungen statt, ob eine Scheinehe vorliegt – unter erheb-
licher Beeinträchtigung der Privatsphäre. Dies im Gesetz festzuschreiben ist ein
Signal an die Behörden, ihre Praxis noch zu verschärfen.

Nach der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2004/83/EG) ist auch die Mög-
lichkeit der Familienzusammenführung für Personen mit einer Aufenthalts-
erlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu verbessern. Artikel 23 Abs. 1 der Qua-
lifikationsrichtlinie sieht vor: „Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass der
Familienverband aufrechterhalten werden kann.“ Absatz 2 beschränkt das dies-
bezügliche Ermessen der Mitgliedstaaten. § 29 Abs. 3 AufenthG muss entspre-
chend verändert werden.

Zu Nummer 2

Zwangsverheiratung ist eine schwere Straftat. Das wurde 2005 mit entspre-
chender Änderung des Strafgesetzbuches unmissverständlich klargestellt. Das

Strafrecht allein reicht jedoch nicht aus, um die Betroffenen zu schützen. Um
Opfern von Zwangsverheiratung wirksam zu helfen, ist es außerdem dringend

Drucksache 16/5103 – 6 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

erforderlich, ihre aufenthaltsrechtliche Situation zu verbessern. Das ist die ein-
hellige Auffassung von Expertinnen und Experten, die sowohl bei der Anhö-
rung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen
Bundestages im vergangenen Jahr als auch erneut im Rahmen der Arbeits-
gruppe 4 des Integrationsgipfels vorgetragen wurde (Arbeitsgruppenbericht 4 –
Nationaler Integrationsplan). Im Gesetzentwurf der Bundesregierung findet
sich keine einzige Maßnahme zur Verbesserung der aufenthaltsrechtlichen Situ-
ation der Betroffenen.

Es muss sichergestellt sein, dass sie sofort ein eigenständiges Aufenthaltsrecht
erhalten und nicht erst nach zwei Jahren. Dies ist in § 31 AufenthG entspre-
chend klarzustellen. Zudem muss Frauen, die zur Verheiratung ins Ausland ver-
bracht wurden, ein längeres Rückkehrrecht als die bisherigen sechs Monate
garantiert werden. Bislang greift das eigenständige Aufenthaltsrecht nicht für
von Gewalt bedrohte Ausländerinnen, die nur eine Duldung besitzen bzw.
deren gewalttätiger Ehepartner nur eine Duldung oder Aufenthaltsgestattung
besitzt. Ihnen muss Zugang zu einem humanitären Schutzstatus im Rahmen des
§ 25 AufenthG ermöglicht werden.

Zu Nummer 3

Die Erfahrungen und das Rambøll-Gutachten haben gezeigt, dass Migrantinnen
und Migranten Integrationskurse wahrnehmen. Das Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge kann eine signifikante Abbruchquote von angeblichen Inte-
grationsverweigern nicht bestätigen – wohl aber, dass 40 Prozent der Kurs-
abbrüche wegen fehlender Kinderbetreuung erfolgen. In diesem Bereich gibt
es folglich Gegensteuerungsbedarf. Bußgelder von 1 000 Euro als einzige Maß-
nahme anzudrohen (§ 98 Abs. 5 AufenthG-E) ist nicht zielführend. Integration
lässt sich nicht mit Drohungen erzwingen.

Zu Nummer 4

1. Die vorgesehene Änderung in § 8 Abs. 2 AufenthG stellt die Verlängerung
der Aufenthaltserlaubnis in Frage, wenn Verpflichtungen zur Teilnahme am
Integrationskurs nicht nachgekommen wurde. Das soll sogar dann gelten,
wenn es eigentlich einen gesetzlichen Anspruch auf Verlängerung gibt. Dies
stellt eine unnötige Verschärfung dar. Auch jetzt schon kann Nichtteilnahme
Konsequenzen für die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis haben. Nicht-
verlängerung zum Regelfall zu machen, öffnet bürokratischer Gängelung
Tür und Tor und schadet der Integration.

2. Wer in Deutschland aufgewachsen ist und eine Niederlassungserlaubnis hat,
genießt aus gutem Grund einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 Abs. 2
AufenthG). Eine Abschiebung in ein anderes Land ist auch bei schweren
Straftaten nicht zumutbar. Für die Ahndung der Straftaten steht das gesamte
Instrumentarium zur Verfügung, das es auch für deutsche Straftäter gibt.
Prävention und Ahndung von Straftaten sind wichtig, aber das Aufenthalts-
recht ist dafür weder ein geeignetes noch ein legitimes Mittel. Die Anglei-
chung von Rechten bei der Aufenthaltsverfestigung dient der Integration.

3. Der Entwurf der Bundesregierung sieht für § 55 AufenthG vor, dass Auslän-
der ausgewiesen werden können, wenn sie „eine andere Person in verwerf-
licher Weise, insbesondere unter Anwendung von Gewalt davon abhält, am
wirtschaftlichen, kulturellen oder gesellschaftlichen Leben in der Bundes-
republik teilzunehmen.“ Ausweisungsdrohungen mit unbestimmten Rechts-
begriffen fördern nicht die Integration.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 7 – Drucksache 16/5103

Zu Nummer 5

Aus demokratie- wie aus integrationspolitischen Gründen ist anzustreben, dass
möglichst alle langfristig in Deutschland Lebenden rechtlich gleich gestellt
sind. Volle rechtliche Integration einschließlich politischer Teilhaberechte wird
nur durch die Staatsbürgerschaft garantiert. Vor diesem Hintergrund ist es be-
sorgniserregend, dass die Einbürgerungszahlen zurückgegangen sind. Um die-
sen Trend umzukehren, ist Folgendes erforderlich:

Die bereits bestehenden Hürden für die Einbürgerung dürfen nicht durch zu-
sätzliche Bedingungen erhöht werden. Der von der Bundesregierung vorgese-
hene Nachweis auch schriftlicher Deutschkenntnisse über ein Zertifikat stellt
eine Verschärfung dar, die Einbürgerungsinteressierten neue Kosten auferlegt.
Auf keinen Fall darf die Gesinnung Gegenstand von Einbürgerungstests wer-
den. Dazu ist auch eine Klarstellung bezüglich § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des
Staatsangehörigkeitsgesetzes (StAG) ratsam, der von Ländern wie Baden-
Württemberg ansonsten auch künftig zur Begründung entsprechender Tests in-
strumentalisiert werden könnte.

Von der Voraussetzung, den Lebensunterhalt sichern zu können, müssen 14- bis
23-jährige Einbürgerungswillige vollständig befreit bleiben. Die bestehende
Regelung in § 10 Abs. 1 Satz 2 StAG muss unverändert erhalten bleiben. Es
kann nicht angehen, dass junge Menschen sich zwischen Studium und Staats-
bürgerschaft entscheiden sollen.

Die Beibehaltung bestehender Staatsangehörigkeiten hat sich als unproble-
matisch erwiesen und sollte daher nicht nur (wie von der Bundesregierung vor-
gesehen) bei Staatsangehörigen der EU und der Schweiz generell akzeptiert
werden, sondern auch bei Angehörigen von Staaten, die der EU mit Beitritts-
perspektive assoziiert sind. Damit würde in diesem Punkt eine Benachteiligung
von türkischen Staatsangehörigen vermieden werden, die ansonsten aufgrund
des europäischen Assoziationsrechts bereits weitgehend mit EU-Bürgern
gleichgestellt sind. Dies wäre zudem geeignet, die Zahl der Einbürgerungs-
anträge erheblich zu erhöhen.

Wesentlicher Erfolg der Novelle des Staatsangehörigkeitsrechts war der Erwerb
der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt. Ab 2008 werden jedoch immer
mehr volljährige deutsche Staatsangehörige, die seit Geburt außerdem einen
weiteren Pass besitzen, gezwungen werden, sich für eine Staatsangehörigkeit zu
entscheiden. Um zu verhindern, dass ein großer Teil damit die deutsche Staats-
bürgerschaft wieder verliert, ist der Optionszwang (§ 29 StAG) zu streichen.

Wer deutscher Staatsangehöriger ist, ist ohne Einschränkungen als solcher zu
behandeln. Das von der Bundesregierung in § 33 StAG geplante Bundesregister
über Entscheidungen in Staatsangehörigkeitsangelegenheiten birgt dagegen die
Gefahr, dass Deutsche, die die deutsche Staatsbürgerschaft aufgrund des
Jus- soli-Rechts oder einer Einbürgerung erhalten haben, diskriminiert werden.
Um Vorbehalte, gesonderte Überprüfung in Rasterfahndungen o. Ä. für die
Zukunft auszuschließen, darf es keine zentrale Registrierung geben. Vielmehr
ist vorzusehen, dass entsprechende personenbezogene Daten gelöscht werden,
wenn sie nach erfolgter Einbürgerung nicht mehr benötigt werden.

Zu Buchstabe B

Zu Nummer 1

Die Qualifikationsrichtlinie 2004/83/EG regt an, die sexuelle Identität eines
Flüchtlings als Verfolgungsursache bei dessen Anerkennung zu berücksichti-
gen. In Artikel 10 Abs. 1 Buchstabe d Satz 2 heißt es: „Je nach den Gegeben-

heiten im Herkunftsland kann als eine soziale Gruppe auch eine Gruppe gelten,
die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Ausrichtung gründet.“

Drucksache 16/5103 – 8 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Eine solche Regelung fehlt im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung.

Zu Nummer 2

Artikel 10 Abs. 1 Buchstabe b der Qualifikationsrichtlinie schreibt vor, dass Per-
sonen, die aufgrund religiöser Handlungen im öffentlichen Raum als Flücht-
linge anzuerkennen sind: „Der Begriff der Religion umfasst (…) die Teilnahme
(…) an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich“. Der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung setzt diese Vorschrift nicht um.

Zu Nummer 3

Artikel 9 der Qualifikationsrichtlinie ermöglicht die flüchtlingsrechtliche Aner-
kennung einer Kriegsdienstverweigerung. In Artikel 9 Abs. 2 der Qualifika-
tionsrichtlinie heißt es: „Als Verfolgung im Sinne von Absatz 1 können unter
anderem die folgenden Handlungen gelten: (…) e) Strafverfolgung oder Be-
strafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der
Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Aus-
schlussklauseln des Artikels 12 Absatz 2 fallen“. Eine solche Regelung fehlt
aber im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung.

Zu Nummer 4

Die Vorgabe aus der Qualifikationsrichtlinie ist es, den gebotenen Schutz von
Bürgerkriegsflüchtlingen sicherzustellen. Nach dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung bleibt es auch in Zukunft in § 60 Abs. 7 AufenthG bei der jetzigen
Sperrklausel („Gefahren, die der Bevölkerung allgemein drohen“) im Gesetz,
die solch einen Schutz weitgehend ausschließt.

Nach Artikel 15 Buchstabe c der Richtlinie 2004/83/EG gilt als den subsidiären
Schutzstatus begründender „ernsthafter Schaden“ „eine ernsthafte individuelle
Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge
willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen be-
waffneten Konflikts.“

Der zur Umsetzung dieser Norm vorgeschlagene Text des Gesetzentwurfs ent-
hält den Begriff der willkürlichen Gewalt nicht. Der Wortlaut von Artikel 15
Buchstabe c der Richtlinie 2004/83/EG ist wortgetreu in nationales Recht um-
zusetzen.

Zu Nummer 5

Artikel 24 Abs. 2 der Qualifikationsrichtlinie schreibt vor, dass die Mitglied-
staaten „So bald wie möglich nach Zuerkennung des Schutzstatus (…) Perso-
nen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist, einen Aufent-
haltstitel“ ausstellen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung unterlässt es,
dieser Vorgabe der Qualifikationsrichtlinie folgend, § 25 Abs. 3 AufenthG von
einer „Soll-“ in eine „Ist-Vorschrift“ umzuwandeln.

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung wird in § 25 Abs. 3 Satz 2 AufenthG
die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ausgeschlossen, wenn die Ausreise in
einen anderen Staat möglich und zumutbar ist oder wenn der Ausländer wieder-
holt oder gröblich gegen entsprechende Mitwirkungspflichten verstößt. Weder
Artikel 24 Abs. 2 noch Artikel 17 der Qualifikationsrichtlinie stellen derartige
Anforderungen an die Gewährung subsidiären Schutzes.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 9 – Drucksache 16/5103

Zu Nummer 6

In einer Reihe von EU-Richtlinien wird dem besonderen Schutzbedürfnis von
Kindern durch spezifische, auf das Kindeswohl gerichtete Vorschriften Rech-
nung getragen. Dies betrifft z. B. die Opferschutzrichtlinie (Artikel 9 Abs. 2,
Artikel 10), die Aufnahmerichtlinie (Artikel 10), die Verfahrensrichtlinie (Arti-
kel 17) wie auch die Qualifikationsrichtlinie (Artikel 30). Die Asylverfahrens-
richtlinie ermächtigt die Mitgliedstaaten in Artikel 6 Abs. 4 Buchstabe b, die
altersbezogene Handlungsfähigkeit für unbegleitete Flüchtlingskinder in Asyl-
verfahren auf 18 Jahre heraufzusetzen. („Die Mitgliedstaaten können im
nationalen Recht festlegen, (…)“ b) in denen der Antrag eines unbegleiteten
Minderjährigen von einem Vertreter gemäß Artikel 17 Absatz 1 Buchstabe a zu
stellen ist“). Artikel 2 Buchstabe h der Richtlinie definiert unbegleitete minder-
jährigere Asylsuchende wie folgt: „jede Person unter 18 Jahren, (…) solange
sie sich nicht tatsächlich in der Obhut [eines für sie verantwortlichen Erwachse-
nen] befindet“. Ein solcher Schritt ist überfällig. Er entspricht der UN-Kinder-
rechtskonvention und dem Votum des 15. Deutschen Bundestages (vgl. Bun-
destagsdrucksache 15/4724).

Zu Nummer 7

Die bisherige Anwendungspraxis des Zuwanderungsgesetzes zeigt, dass bun-
desweit nur in wenigen Einzelfällen Anträge auf Erteilung einer Aufenthalts-
erlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG positiv beschieden worden sind. Wird
eine Aufenthaltserlaubnis anstelle einer Duldung beantragt, prüfen die Auslän-
derbehörden in aller Regel nur, ob eine Ausreise möglich ist. Ob eine Ausreise
für den Betroffenen – insbesondere nach langen Jahren des Aufenthalts – noch
zumutbar ist, wird in der Regel nicht geprüft. Eine entsprechende Klarstellung
in § 25 Abs. 5 AufenthG fehlt im Gesetzentwurf der Bundesregierung. Eine
Klarstellung, die insbesondere die Zumutbarkeit einer Ausreise sowie die be-
sondere Situation in Deutschland aufgewachsener Kinder und Jugendlicher be-
rücksichtigt, wurde auch von Flüchtlingsorganisationen und Kirchen anlässlich
des Praktikererfahrungsaustausches zur Evaluierung des Zuwanderungsgeset-
zes gefordert.

Zu Nummer 8

Eine gesetzliche Bleiberechtsregelung ist sowohl aus humanitären als auch aus
integrationspolitischen Gründen dringend erforderlich. Weder die Altfallrege-
lung der Innenministerkonferenz vom November 2006 noch die aktuell von der
Bundesregierung geplante Altfallregelung wird den Erfordernissen gerecht,
weil sie Bedingungen enthalten, die von den meisten Geduldeten voraussicht-
lich nicht erfüllt werden können. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
hatte sich bereits im Gesetzentwurf auf Bundestagsdrucksache 16/218 für eine
wirksame Bleiberechtsregelung eingesetzt.

Eine wirksame gesetzliche Bleiberechtsregelung muss den langjährig Gedulde-
ten eine realistische Aufenthaltsperspektive geben und darf nicht mit zahlrei-
chen Ausschlussgründen ausgehebelt werden. Die Sicherung des Lebensunter-
halts durch ein Arbeitsverhältnis darf nicht zur Bedingung für die Erteilung der
Aufenthaltserlaubnis gemacht werden. Die Begünstigten erhalten keine Verlän-
gerung der Duldung, sondern sofort eine Aufenthaltserlaubnis. Es dürfen keine
unverhältnismäßigen Anforderungen an die Erfüllung von Mitwirkungspflich-
ten gestellt werden.

Vorhandene Deutschkenntnisse dürfen nicht zur Voraussetzung für ein Bleibe-
recht gemacht werden, weil Geduldete von Sprachkursen ausgeschlossen sind.

Drucksache 16/5103 – 10 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Niedrigere Aufenthaltszeiten müssen für besonders schutzbedürftige Gruppen,
wie unbegleitete Minderjährige, Traumatisierte und Opfer von rassistischen
Übergriffen vorgesehen sein.

Bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Bleiberechtsregelung muss sicherge-
stellt werden, dass potentiell Begünstigte nicht abgeschoben werden. Regelun-
gen, wie im Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgeschlagen, die die Ertei-
lung eines Bleiberechts an Jugendliche von der Ausreise der Eltern abhängig
machen, sind rechtsstaatlich bedenklich. Auch der mögliche Ausschluss einzel-
ner Nationalitäten ist nicht kompatibel mit internationalem Flüchtlingsrecht. Es
besteht die Gefahr, dass so eine sog. Problemstaatenliste entsteht, die auf Er-
kenntnissen beruht, die keiner Überprüfung zugänglich sind.

Zu Nummer 9

Artikel 26 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie schreibt zwingend vor: „Die Mit-
gliedstaaten stellen sicher, dass Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zu-
erkannt worden ist, entsprechend den nationalen Rechtsvorschriften über die
vorrangige Behandlung auf dem Arbeitsmarkt Zugang zu einem Arbeitsplatz
erhalten, der ihnen angeboten worden ist.“ Eine solche Vorschrift fehlt aber im
vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregierung.

Zu Nummer 10

Artikel 26 Abs. 3 der Qualifikationsrichtlinie schreibt zudem zwingend vor:
„Unmittelbar nach der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gestatten die
Mitgliedstaaten Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden
ist, die Aufnahme einer (…) selbstständigen Erwerbstätigkeit.“ Auch diese
zwingende Vorschrift wird im vorliegenden Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung nicht umgesetzt.

Zu Nummer 11

Asylsuchende, die im Rahmen der Dublin-II-Verfahren in einen anderen EU-
Staat überstellt werden, sollen nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung
künftig nicht mehr die Möglichkeit haben, im Eilverfahren gegen ihre Abschie-
bung Rechtsmittel einzulegen.

Rechtswidrige Abschiebungen können nicht verhindert werden. Schon jetzt
kommt es in der Praxis zu illegalen Familientrennungen. Auch werden Kinder
wegen unklarer Zuständigkeiten zum Teil mehrfach zwischen Staaten hin und
her geschoben. Mit der Neuregelung würde ein rechtsschutzfreier Zustand
zementiert.

Insbesondere mit Blick auf unbegleitete minderjährige Kinder (Artikel 6 der
Dublin-II-Verordnung) sowie auch Familienangehörige (Artikel 7 der Dublin-
II-Verordnung) wie auch im Hinblick auf das Selbsteintrittsrecht aus huma-
nitären Gründen (Artikel 15 der Dublin-II-Verordnung) liegt die Intention der
Dublin-II-Verordnung nahe, einen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, da
andernfalls unmittelbare gemeinschaftsrechtliche Ansprüche gegenüber dem
betreffenden Mitgliedstaat nicht umgesetzt werden können. Darauf weist auch
Artikel 19 Abs. 3 der Verordnung (EG) Nr. 343/2203/EG hin, wonach die Mit-
gliedstaaten zwar die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen beseitigen
können. Eine darüber hinausgehende Kompetenz, auch die Eilrechtsschutz-
verfahren zur Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung abzuschaffen,
beinhaltet diese Norm aber nicht.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 11 – Drucksache 16/5103

Zu Nummer 12

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung werden keine Vorschläge zur Umset-
zung der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie) gemacht. Regelungsbe-
darf ist insbesondere mit Blick auf die medizinische Versorgung von Asyl-
suchenden und auf die spezifischen Betreuungsbedürfnisse besonders bedürfti-
ger Personen angezeigt. Auch die umfangreichen Vorschriften zur spezifischen
Betreuung besonders schutzbedürftiger Personen, wie z. B. Opfer von Men-
schenhandel (Artikel 15 Abs. 2, Artikel 17 bis 20 der Richtlinie 2003/9/EG),
sind bislang nicht umgesetzt worden.

Zu Nummer 13

Die Mitgliedstaaten haben nach Artikel 20 der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnah-
merichtlinie) Sorge dafür zu tragen, dass Personen, die Folter, Vergewaltigung
oder andere schwere Gewalttaten erlitten haben, im Bedarfsfall die erforder-
liche Behandlung erhalten. Dies erfordert die Bereitstellung eines Verfahrens
zur Feststellung des Bedarfsfalles. Ist der Bedarfsfall festgestellt, sind beson-
dere medizinische Vorkehrungen zu treffen und die erforderlichen verfahrens-
rechtlichen Schritte einzuleiten. Hiermit unvereinbar ist die Durchführung
eines Flughafenverfahrens (§ 18a des Asylverfahrensgesetzes – AsylVfG).
Vielmehr ist bei Hinweisen auf Folter, Vergewaltigung oder andere schwere
Gewalttaten das Verfahren zwecks Feststellung des Bedarfsfalles auszusetzen
und zu diesem Zweck die Einreise zu gestatten (vgl. § 18a Abs. 6 Nr. 1
AsylVfG). Zur Klarstellung sind die Einreiseansprüche in § 18a Abs. 6
AsylVfG um diese Fallgruppe zu ergänzen.

Zu Nummer 14

Die Entscheidung darüber, ob sie als Zeuginnen in einem Strafverfahren gegen
die Täter auszusagen bereit sind, wiegt für das persönliche Schicksal der Opfer
schwer. Oftmals sind sie traumatisiert und brauchen Zeit, um von dem Erlebten
Abstand zu gewinnen. Für ihre Entscheidung muss ihnen daher eine angemes-
sene Erholungs- und Bedenkzeit zugestanden werden. Auch die Opferschutz-
richtlinie (2004/81/EG) fordert in Artikel 6: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür,
dass den betroffenen Drittstaatsangehörigen Bedenkzeit zugestanden wird, in
der sie sich erholen und dem Einfluss der Täter entziehen können, so dass sie
eine fundierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie mit den zuständigen
Behörden zusammenarbeiten.“ In dieser Bedenkzeit sollen die Opfer gemäß
Artikel 7 der Opferschutzrichtlinie Mittel zur Sicherstellung ihres Lebensunter-
halts ebenso erhalten wie den Zugang zu medizinischer Notversorgung ein-
schließlich angemessener psychologischer Hilfe. Die Dauer dieser Bedenkzeit
können die Mitgliedstaaten selbst festlegen. Wir halten es für sinnvoll, hier dem
Vorschlag des Bundesweiten Koordinierungskreises gegen Frauenhandel und
Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e. V. (KOK) zu folgen, der eine Be-
denkzeit von bis zu sechs Monaten empfiehlt.

Nach § 15a des AufenthG werden unerlaubt eingereiste Ausländerinnen und
Ausländer auf die Länder verteilt. Betroffene von Menschenhandel sind oft-
mals illegal in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Der Stellungnahme
des KOK zum Referentenentwurf des Bundesministeriums des Innern zur Um-
setzung der Opferschutzrichtlinie zufolge ist die Verteilung für die Opfer von
Menschenhandel sehr nachteilig. Die Frauen brauchen einen geschützten
Raum, der in Gemeinschaftsunterkünften naturgemäß nicht gegeben ist. Ebenso
ist eine qualifizierte psychosoziale Betreuung dort nicht möglich. Da pro Bun-
desland meist nur eine zentrale Einrichtung besteht, sind die Frauen in hohem
Maße gefährdet, da die Täter sie dort leicht ausfindig machen können. Die

bestehende Praxis widerspricht auch der Opferschutzrichtlinie, nach der diesen

Drucksache 16/5103 – 12 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Menschen „in Anbetracht ihrer Schutzbedürftigkeit“ ermöglicht werden soll
„sich zu erholen und dem Einfluss der Täter zu entziehen.“ Ebenso ist „den Si-
cherheits- und Schutzbedürfnissen der Opfer des Menschenhandels gebührend
Rechnung zu tragen“.

Artikel 8 Abs. 2 der Opferschutzrichtlinie schreibt dem nationalen Gesetzgeber
vor, den Opfern von Menschenhandel ein Aufenthaltsrecht zu erteilen, wenn
das Opfer „seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit eindeutig bekundet hat“.
Diese Aufenthaltserlaubnis ist auf eine Frist von mindestens sechs Monaten
festzusetzen und zu verlängern, sofern die Voraussetzungen für die erstmalige
Erteilung weiterhin vorliegen. Nach Abschluss eines Strafverfahrens ist die
Aufenthaltserlaubnis zumindest für den Zeitraum zu verlängern, der für die
Planung und Durchführung einer sicheren Rückkehr in das Herkunftsland er-
forderlich ist. Artikel 14 der von der Bundesrepublik Deutschland unterzeich-
neten Europaratskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels sieht den
Aufenthaltstitel außerdem vor, „wenn die zuständige Behörde der Auffassung
ist, dass der Verbleib des Opfers aufgrund seiner persönlichen Situation erfor-
derlich ist.“ Dies kann sich aus gesundheitlichen Gründen wie aus der Gefähr-
dungssituation im Herkunftsland ergeben.

Die Opfer erweisen dem Staat mit ihrer Aussage einen wertvollen Dienst. Da
sich die Prozesse oft über mehrere Jahre hinziehen, muss es den Frauen mög-
lich sein, in dieser Zeit eine neue Perspektive zu entwickeln. Artikel 12 der
Opferschutzrichtlinie sieht für die Opfer von Menschenhandel einen Anspruch
auf Zugang zu Maßnahmen für die Rückkehr in ein normales soziales Leben
vor, einschließlich Lehrgängen zur Verbesserung der beruflichen Fähigkeiten.
Auch sollte den Opfern Zugang zu den Sprach- und Orientierungskursen des
Aufenthaltsgesetzes gewährt werden. Weiterhin ist der Zugang zum öffent-
lichen Bildungssystem zu gewährleisten; dies gilt in besonderem Maße für
minderjährige Opfer.

Zu Nummer 15

Die nationalen Strafvorschriften wegen Verletzungen der Aufenthaltsbeschrän-
kungen durch Asylbewerber (§ 85 Nr. 2, § 86 AsylVfG) stimmen mit Artikel 16
Abs. 3 der Richtlinie 2003/9/EG (Aufnahmerichtlinie) nicht überein. Zwar
erlaubt die Richtlinie Sanktionen für grobe Verstöße gegen die Vorschriften
hinsichtlich der Unterbringungszentren. Nach dem Gesamtzusammenhang der
Regelungen in Artikel 16 der Richtlinie 2003/9/EG kommen hiermit jedoch nur
verwaltungsrechtliche Sanktionen, wie etwa der Entzug bisher gewährter Vor-
teile, in Betracht. Sanktionen strafrechtlicher Art werden in der Richtlinie nicht
genannt (vgl. auch Artikel 16 Abs. 4 der Richtlinie 2003/9/EG). Da die Richt-
linie Mindestnormen für die Praxis der Mitgliedstaaten festlegt, dürfen deren
Sanktionen den festgelegten Standard nicht dadurch unterschreiten, dass anstelle
verwaltungsrechtlicher strafrechtliche Sanktionen gesetzt werden. § 85 Nr. 2 und
§ 86 AsylVfG sind deshalb aufzuheben.

Zu Nummer 16

Im Gesetzentwurf der Bundesregierung soll künftig in Eilfällen nicht mehr nur
die Polizei, sondern auch die Ausländerbehörde oder Grenzbehörden das Recht
zur vorläufigen Festnahme eines Ausländers haben (§ 62 Abs. 4 AufenthG). Es
müssen die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft und
Fluchtgefahr vorliegen. Mit dieser neuen Befugnis soll offensichtlich die ille-
gale Praxis einiger Ausländerbehörden legalisiert werden, die Ausländer wäh-
rend eines Termins festnehmen, wenn diese sich nicht ausreisewillig zeigen.
Verfassungsrechtlich ist die vorläufige Festnahme als Vorstufe zur Freiheits-

beraubung nur bei Gefahr in Verzug zulässig. Will die Ausländerbehörde den

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 13 – Drucksache 16/5103

Ausländer in Haft nehmen, muss sie den Richtervorbehalt beachten. Für die
nun geplante Änderung gibt es keinen Bedarf. Bei Gefahr in Verzug steht die
Polizei zur Verfügung, ansonsten ist ohnehin der Richtervorbehalt zu beachten.

Zu Nummer 17

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht auch für Asylantragsteller, für
die die Unzuständigkeit nach der Dublin-II-Verordnung festgestellt worden ist,
die Zurückweisungshaft vor. Sie sollen künftig schon in Grenznähe abgefangen
und inhaftiert werden. Ist nach der Dublin-II-Verordnung die Unzuständigkeit
Deutschlands festgestellt worden, können die Flüchtlinge direkt aus der Haft
zwangsweise in den anderen EU-Staat verbracht werden. Hier liegt eine Verlet-
zung internationaler Standards vor, nach denen Flüchtlinge während des Asyl-
verfahrens generell nicht in Haft genommen werden sollen. Wer um Asyl nach-
sucht, hat keine Straftaten begangen, sondern bittet um Schutz und Hilfe.

Zu Nummer 18

Der Vorschlag der Bundesregierung, die Hilfen für den leistungsberechtigten
Personenkreis nach § 2 des Asylbewerberleistungsgesetzes von bisher 36 Mo-
naten auf 48 Monate unter das Existenzminimum abzusenken, ist reine Sym-
bolpolitik: Im Zuwanderungsgesetz ist der Personenkreis, für den das Asyl-
bewerberleistungsgesetz entfristet werden sollte, präzise auf diejenigen
Personen begrenzt, die „die Dauer ihres Aufenthaltes rechtsmissbräuchlich
selbst beeinflusst haben“. Eine Ausweitung dieses Personenkreises auf alle
Leistungsberechtigten des Asylbewerberleistungsgesetzes ist weder notwendig
noch verhältnismäßig.

Zu Nummer 19

In der Praxis wird minderjährigen Flüchtlingen von den Ausländerbehörden
oftmals unterstellt, falsche Altersangaben zu machen. Künftig sollen laut Ge-
setzentwurf der Bundesregierung im Zweifel sogar unter 14-Jährige betroffen
sein. Um dem körperlichen Eingriff zu entgehen, muss das unter 14-jährige
Kind sein Alter selbst nachweisen. Konkret sollen zur Altersfeststellung die
Handwurzelknochen von minderjährigen Flüchtlingen geröntgt werden. Eine
solche Röntgenuntersuchung stellt einen Eingriff in die körperliche Unversehrt-
heit der Betroffenen dar, der bislang verfassungsrechtlich unzulässig ist. Der
körperliche Eingriff ist unverhältnismäßig, weil die wissenschaftliche Beweis-
kraft solcher Methoden nicht erwiesen ist. Die geplante Änderung widerspricht
eklatant dem Kindeswohl.

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