BT-Drucksache 16/3202

Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus gesetzlich schützen - Rechtsprechung zur Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen auswerten

Vom 27. Oktober 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/3202
16. Wahlperiode 27. 10. 2006

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Kai Boris Gehring, Britta
Haßelmann, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk,
Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele, WolfgangWieland,
Josef Philip Winkler, und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechtsextremismus gesetzlich
schützen – Rechtsprechung zur Verwendung von Kennzeichen verfassungs-
widriger Organisationen auswerten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

§ 86a des Strafgesetzbuches (StGB) schützt den demokratischen Rechtsstaat und
soll der Gefahr einer Identifizierung mit dem Bedeutungsgehalt solcher Kenn-
zeichen vorbeugen, deren Verwendung den Anschein erwecken, verfassungs-
widrige Organisationen könnten trotz ihres Verbots ungehindert ihre Wieder-
belebung betreiben. Nicht beabsichtigt ist dagegen, die Strafverfolgung auch für
solche Fälle zu eröffnen, in denen Personen demonstrativ ihre Ablehnung einer
verfassungswidrigen Organisation zumAusdruck bringen wollen.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Rechtspre-
chung der Strafgerichte zu § 86a StGB sorgfältig zu beobachten und gegebenen-
falls eine gesetzgeberischeKlarstellung für den Fall vorzunehmen, dass der Bun-
desgerichtshof diesen Tatbestand auch für solche Kennzeichen als einschlägig
betrachtet, die unmissverständlich eine Ablehnung der jeweiligen verfassungs-
widrigen Organisation zumAusdruck bringen.

Berlin, den 27. Oktober 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Das Landgericht Stuttgart (LG Stuttgart) hat in einer Entscheidung vom
29. September 2006 der 18. Strafkammer (AZ 18KLS 4Js63331/05) denVertrieb
von Anti-Nazi-Symbolen wie durchgestrichene Hakenkreuze auf Buttons oder
T-Shirts als Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen
nach § 86a StGB gewertet. Ein 32-jähriger Versandhändler war deshalb zu einer
Geldstrafe in Höhe von 3 600 Euro verurteilt worden. Laut Presseberichten hatte
das Gericht unter anderem erklärt, bei Verwendung des Hakenkreuzes bestehe

Drucksache 16/3202 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
unabhängig vom Kontext die Gefahr, sich an das Symbol zu gewöhnen (vgl. die
tageszeitung vom 2. Oktober 2006).

Das Urteil des LG Stuttgart hat parteiübergreifendUnverständnis und Empörung
hervorgerufen. Die Kriminalisierung von Personen, deren Anliegen es gerade
sei, durch Verwendung entsprechender Symbole auf ihre Gegnerschaft zum
Nationalsozialismus hinzuweisen und damit auch nationalsozialistischen Be-
strebungen entgegenzuwirken, sei nicht Sinn und Zweck des strafrechtlichen
Verbots. Gesellschaftspolitisch sei es zudem im Hinblick auf eine erfolgreiche
Bekämpfung des Rechtsextremismus in Deutschland das falsche Signal (vgl.
z. B. Meldung der Nachrichtenagentur AP vom 4. Oktober 2006). Bundesminis-
terin der Justiz, Brigitte Zypries, hat laut Pressemeldungen für den Fall, dass das
Urteil des LG Stuttgart rechtskräftig würde, angekündigt, das Strafgesetzbuch zu
ändern (vgl. Märkische Allgemeine vom 2. Oktober 2006). Auf der anderen
Seite haben Politiker der Großen Koalition (der Fraktionen der CDU/CSU und
SPD) diese Ankündigung relativiert (vgl. Aussagen des rechtspolitischen Spre-
chers der Fraktion der CDU/CSU, Dr. Jürgen Gehb, gegenüber der Nachrichten-
agentur ddp vom 2. Oktober 2006).

§ 86a soll vor allem den demokratischen Rechtsstaat schützen: Bestraft werden
soll daher nach überwiegender Auffassung die abstrakte Gefahr einer inhalt-
lichen Identifizierung mit dem Bedeutungsgehalt solcher Kennzeichen, deren
Verwendung den Anschein erwecken, verfassungswidrige Organisationen könn-
ten trotz ihres Verbots ungehindert ihreWiederbelebung betreiben.

Bei der Frage, ob die Tatbestandsmäßigkeit des § 86a StGB auch dann erfüllt ist,
wenn das entsprechende Kennzeichen gerade die Gegnerschaft und Ablehnung
der jeweiligen verfassungswidrigenOrganisationen demonstrativ zumAusdruck
bringen soll, ist die strafrechtliche Praxis uneinheitlich. Während das LG Stutt-
gart diese Frage jetzt bejaht hat, wurde noch imMärz 2006 ein Student wegen der
Verwendung eines durchgestrichenen Hakenkreuzes vom Landgericht Tübingen
freigesprochen, nachdem ihn zuvor das Amtsgericht der Stadt schuldig gespro-
chen, laut Presseberichten aber keine Strafe verhängt hatte (vgl. Netzeitung
vom 29. September 2006). In Berlin hat die Staatsanwaltschaft jetzt „mangels
strafrechtlicher Relevanz“ die Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens wegen der
Verwendung eines Hakenkreuzes auf einer Anti-Nazi-Flagge am Gebäude der
Bundesgeschäftsstelle der Partei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN abgelehnt (vgl.
Tagesspiegel vom 1. Oktober 2006).

Nach ständiger Rechtsprechung setzt § 86a StGB als abstraktes Gefährdungs-
delikt weder eine inhaltliche Zustimmung des Täters zum Symbolgehalt des
Kennzeichens (vgl. BGH 23, 267 f.; 25, 30, 31f.) noch den Eintritt oder die kon-
krete Gefahr einer identifizierenden Wirkung der Verwendung voraus. Auf der
anderen Seite nimmt die Rechtsprechung jedoch eine aus „Sinn und Zweck“ der
Vorschrift erwachsende tatbestandliche Begrenzung auf solche Handlungen an,
welche nach den Umständen des Einzelfalls geeignet sind, bei objektiven Beob-
achtern den Eindruck einer Identifikation desHandelndenmit den Zielen der ver-
botenen Organisation zu erwecken (vgl. Tröndle/Fischer, § 86a Rn.18 m. w. N.).

In derartigen Fällen ist rechtliche Klarheit erforderlich und geboten. Die gegen-
wärtige Rechtsunsicherheit behindert das Engagement gegen Rechtsextremis-
mus. Es ist nicht akzeptabel, dass Menschen, die Anti-Nazi-Symbole an ihrer
Kleidung tragen oder auf Protestplakaten verwenden, mit strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren rechnen müssen.

Wir erwarten daher, dass die Bundesregierung die weitere Rechtssprechung in
ähnlich gelagerten Fällen sorgfältig beobachtet und insbesondere für den Fall,
dass der Bundesgerichtshof das Urteil des LG Stuttgart vom 29. September 2006
dem Grunde nach bestätigt, gesetzgeberisch tätig wird und im § 86a StGB eine
Klarstellung vornimmt, die eine Strafbarkeit derartiger Fälle für die Zukunft
ausschließt.

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