BT-Drucksache 16/2542

Rettung bzw. Aufnahme von auf dem Seeweg befindlichen Migrantinnen und Migranten sowie von Flüchtlingen

Vom 7. September 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/2542
16. Wahlperiode 07. 09. 2006

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck
(Bremen), Monika Lazar, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard
Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Silke Stokar von Neuforn, Jürgen Trittin,
Wolfgang Wieland und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rettung bzw. Aufnahme von auf dem Seeweg befindlichen Migrantinnen
und Migranten sowie von Flüchtlingen

Auch in diesem Jahr sind wieder Hunderte von Menschen bei dem Versuch er-
trunken, über den Atlantik bzw. das Mittelmeer Europa zu erreichen. Mindestens
490 Bootsflüchtlinge sind nach Angaben der Regionalregierung der Kanaren auf
dem Weg von Afrika auf die Kanarischen Inseln ums Leben gekommen. Die
Summe bezieht sich jedoch ausschließlich auf geborgene Todesopfer. Hilfsorga-
nisationen wie das Rote Kreuz und der Rote Halbmond schätzen die Zahl der
Todesopfer bei den gefährlichen Überfahrten dagegen auf bis zu 3 000. Insge-
samt seien seit Januar bisher rund 19 000 Bootsflüchtlinge auf den Kanaren ge-
landet, fast drei Mal so viele wie im gesamten Jahr 2005.

Auch in Sizilien sind nach Angaben der italienischen Regierung in den ersten
sieben Monaten des Jahres über 12 000 afrikanische Flüchtlinge aufgegriffen
worden (SPIEGEL ONLINE vom 29. August 2006).

Bei der Rettung bzw. der Aufnahme von auf dem Seeweg befindlichen Migran-
tinnen und Migranten bzw. von Flüchtlingen gibt es drei Problemfelder:

1. Zivilen Handelsschiffen wird immer wieder – auch durch Mitgliedstaaten der
Europäischen Union – das Anlaufen von Häfen zum Absetzen von aus Seenot
geretteten Personen untersagt. Die hierdurch bedingten Verzögerungen kos-
ten die betroffenen Reedereien Zeit und Geld. Der Generalsekretär der Inter-
national Chamber of Shipping wandte sich daher am 7. Mai 2004 brieflich an
den Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan. Er wies darauf hin,
dass aufgrund dieses Verhaltens der eigentlich zuständigen Aufnahmeländer
zivile Handelsschiffe ohne Hilfe zu leisten immer häufiger an Booten vorbei-
fahren würden, in denen sich in Seenot geratene Personen befinden.

Im Mai 2004 hatte die International Maritime Organization der Vereinten
Nationen (IMO) Änderungen der „International Convention for the Safety of
Life at Sea“ von 1974 (SOLAS) sowie der „International Convention on Ma-

ritime Search and Rescue“ von 1979 (SAR) beschlossen (Resolutionen MSC
153 (78) und MSC 155 (78)). Diese Beschlüsse verpflichten die Unterzeich-
nerstaaten, mit den Kapitänen der betroffenen Schiffe zusammenzuarbeiten,
um ihnen ein unverzügliches Anlegen und Absetzen von aus Seenot gerette-
ten Personen zu ermöglichen. Die Änderungen von SOLAS und SAR sind
mit dem 1. Juli 2006 in Kraft getreten und seitdem für die Unterzeichnerstaa-
ten unmittelbar bindend.

Drucksache 16/2542 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Die IMO sprach von einem „Meilenstein“. Die Folgen der bisherigen Rechts-
lage seien für die Menschen „beängstigend“ gewesen. Nunmehr aber würde
durch diese „einmalige“ Staatenverpflichtung die „jahrhundertealte See-
fahrertradition gestärkt, Mitmenschen in Seenot zu helfen und zu retten“
(imo.org/home.asp).

Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) hat
diese Änderungen des völkerrechtlichen Seerechts begrüßt (www.unhcr.org/
cgi-bin/texis/vtx/news/opendoc.htm?tbl=NEWS&page=home&id=44a56a
724). Es hatte immer schon den Standpunkt vertreten, dass aus Seenot geret-
tete Flüchtlinge der Zugang zu dem nächstgelegenen geeigneten Hafen er-
möglicht werden müsste. Geeignet sind nach dem UNHCR solche Länder, in
denen die Rechte von Flüchtlingen effektiv gewahrt werden und deren Ver-
sorgung voll gewährleistet ist (vgl. „Background Discussing Paper informing
the Expert Roundtable on Rescue at Sea and Maritime Interception in the
Mediterranean“ vom 18. August 2005, S. 7, zit. nach: Europarats-Dokument
CAHAR (2005) 16, vom 23. Oktober 2005).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hatte dementsprechend
am 29. Januar 2004 in einer Empfehlung „Hilfe und Schutz für Asylsuchende
in europäischen Häfen und Küstengebieten“ die Unterzeichnerstaaten auf-
gefordert, „ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung von Asylanträgen anzu-
erkennen, wenn sie der erste Anlaufhafen auf der vorgesehenen Fahrroute
des Schiffes sind, dass diese Personen aus Seenot gerettet hat“ (Bundestags-
drucksache 15/2788 vom 25. März 2004, S. 34, 35).

2. Kapitäne werden mitunter aufgrund des Absetzens von aus Seenot geretteten
Drittstaatsangehörigen wegen angeblicher Beihilfe zur illegalen Einreise
strafrechtlich verfolgt. So hat z. B. erst jüngst ein Gericht auf Sizilien be-
schlossen, am 27. November 2006 die Hauptverhandlung gegen Elias Bier-
del, den früheren Chef der deutschen Hilfsorganisation Cap Anamur, zu be-
ginnen. Elias Bierdel sowie der damalige Kapitän und der erste Offizier des
Schiffes Cap Anamur hatten vor zwei Jahren 37 Afrikanerinnen und Afrika-
ner aus Seenot gerettet. Nach einer dreiwöchigen Odyssee im Mittelmeer und
einem Tauziehen mit den italienischen Behörden durften die Flüchtlinge
schließlich in Sizilien an Land gehen. Die drei Angeklagten werden beschul-
digt, Beihilfe zur illegalen Einwanderung geleistet zu haben (vgl. FAZ vom
5. Juli 2006).

3. Die Möglichkeiten – aber auch die Grenzen – beim Umgang mit auf hoher
See kontrollierten irregulären Migrantinnen und Migranten bzw. mit Flücht-
lingen durch Grenzschützerinnen und -schützer aus den Mitgliedstaaten der
EU ist unklar:

In ihrem Aktionsplan zur Verbesserung des Schutzes der EU-Seegrenzen hat-
ten die Innen- und Justizministerinnen bzw. -minister der EU vorgeschlagen,
dass die Menschen, die bei Kontrollen auf hoher See durch Grenzschützerin-
nen und -schützer aus den Mitgliedstaaten der EU aufgegriffen worden sind,
in die Transitländer zurücktransportiert werden sollten, wo sie ihre Schiffs-
reise begonnen hatten. Dort sollten sie in Auffanglagern auf ihre endgültige
Abschiebung in ihre Herkunftsländer warten. Aber – so heißt es in dem
Aktionsplan ausdrücklich – in diese Auffangzentren dürften „keine Asyl-
bewerber aufgenommen werden“ (Ratsdok. 15445/03 vom 28. November
2003, S. 11). Wie aber auf hoher See einerseits zwischen Migrantinnen und
Migranten und Flüchtlingen auf der anderen Seite unterschieden werden soll
bzw. wie mit an Bord genommenen Asylsuchenden verfahren werden soll,
ließ der Seegrenzen-Aktionsplan der EU offen. Die von der EU in Auftrag
gegebene Durchführbarkeitsstudie zur Intensivierung der europäischen See-

grenzkontrollen war zumindest in einem Punkt präziser gewesen: Sie hatte
empfohlen, dass Asylanträge von Personen, die bei Kontrollen durch Organe

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/2542

der EU auf hoher See aufgegriffen worden sind, in den zuständigen Einrich-
tungen der Mitgliedstaaten bearbeitet werden sollten (Ratsdok. 11490/1/03
vom 19. September 2003, S. 64). In diesem Kontext hatte die damalige nie-
derländische EU-Ratspräsidentschaft im September 2004 angeregt, ein Pilot-
projekt zu starten für ein System zur gemeinsamen Behandlung von Anträgen
u. a. von Asylsuchenden, die auf hoher See aufgegriffen worden sind (Rats-
dok. 12710/04 vom 22. September 2004).

Der UNHCR hält das Anhalten und die Kontrolle von Schiffen sowohl in
eigenen Hoheitsgewässern bzw. in internationalen Gewässern zur Verhinde-
rung der irregulären Migration für grundsätzlich zulässig. Gleichwohl hat der
UNHCR große Bedenken, wenn bei Kontrollen auf Hoher See eine Prüfung
von Asylgesuchen durchgeführt wird. Asylanträge sollten – dem Non-Re-
foulment-Gebot der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechend – an „siche-
ren Orten“ stattfinden, die – so der UNHCR – die Rechte von Flüchtlingen
effektiv gewahrt werden und deren Versorgung voll gewährleistet ist. Sofern
diese Flüchtlinge bei Kontrollen auf hoher See aufgegriffen werden, läge – so
der UNHCR – der nächstgelegene sichere Hafen grundsätzlich im Flaggen-
staat des Patrouillenbootes (vgl. „Background Note on the Protection of
Asylum-Seekers and Refugees rescued at Sea“ vom 18. März 2002, S. 8, zit.
nach: Europarats-Dokument CAHAR (2005) 16, vom 23. Oktober 2005).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hatte vor diesem Hinter-
grund in ihrer o. g. Empfehlung aus dem Jahr 2004 die Konventionsstaaten
dazu aufgefordert, „Patrouillenfahrten auf See so durchzuführen, dass die
Flüchtlingskonvention von 1951 und die Europäische Menschenrechtskon-
vention von 1950 in vollem Umfang eingehalten werden“.

Der UNHCR hat in seinen beiden o. g. Papieren (und zuletzt angesichts der
Ereignisse um den spanischen Trawler Francisco Catalina, dem im Juli 2006
mit 51 Flüchtlingen an Bord das Anlegen in Malta nicht gestattet worden war)
angeregt, dass eine Vereinbarung zur Teilung der Verantwortung zwischen
den Staaten, die aus Seenot gerettete Asylsuchende aufnehmen und anderen
Mitgliedstaaten der EU erarbeitet werden solle (www.unhcr.org/cgi-bin/texis/
vtx/news/opendoc.htm?tbl=NEWS&page=home&id=44bcbaec16). Dies sei
nicht nur ein Akt der Solidarität mit denjenigen Ländern, die von der Auf-
nahme aus Seenot geretteter irregulärer Einwanderinnen und Einwanderer
bzw. Flüchtlinge am stärksten betroffen sind. Ein derartiges verbindliches
System der Verantwortungsteilung könnte die Furcht der Mitgliedstaaten
(wie Malta, Italien und Spanien) vor steigenden Asylbewerberzahlen mildern
und sie unterstützen, ihren völkerrechtlichen humanitären Verpflichtungen
nachzukommen.

Auch das Europäische Parlament (EP) hat in seiner am 6. April 2006 verab-
schiedeten Entschließung zur Situation der Flüchtlinge in Malta (Dokument-
Nr. P6_TA(2006)0136) die Auffassung vertreten, dass man „mehr Solidarität
mit den Mitgliedstaaten zeigen solle, die besonders stark dem Zustrom von
Migranten in die EU ausgesetzt sind“. Das EP forderte die Mitgliedstaaten
auf, „aus Malta und anderen kleinen Ländern kommende Asylbewerber auf
ihrem Hoheitsgebiet aufzunehmen“.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Wie wirken sich die Änderungen der beiden Konventionen SOLAS und
SAR, die am 1. Juli 2006 in Kraft getreten sind, hinsichtlich der Rettung bzw.
Aufnahme von auf dem Seeweg befindlichen irregulären Migrantinnen und
Migranten sowie von Flüchtlingen aus?

2. Hat die Bundesregierung den Beschlüssen der IMO damals zugestimmt?
Wenn ja, aus welchen Erwägungen heraus?

Wenn nein, warum nicht?

Drucksache 16/2542 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
3. Wie sieht die derzeitige Rechtspraxis in Deutschland aus, im Hinblick auf
die Aufnahme von aus Seenot geretteten Personen bzw. die diesbezügliche
strafrechtliche Verantwortung von Kapitänen?

4. Inwiefern ergibt sich aus dem Inkrafttreten der Änderungen von SOLAS
und SAR eine Erforderlichkeit zur Änderung der deutschen Rechtslage bzw.
Rechtspraxis?

5. Mit welchen Maßnahmen hat man sich innerhalb der EU auf das Inkrafttre-
ten der Änderungen von SOLAS und SAR vorbereitet bzw. diese Maßnah-
men zwischen den Mitgliedstaaten koordiniert?

6. Hat die Bundesregierung hierzu in den zuständigen Gremien der EU Vor-
schläge unterbreitet?
Wenn ja, welche?
Wenn nein, warum nicht?

7. Was wurde aus dem Vorschlag der damaligen niederländischen EU-Präsi-
dentschaft aus dem Jahr 2004, ein Pilotprojekt zu starten, für ein System zur
gemeinsamen Behandlung von Anträgen u. a. von Asylsuchenden, die auf
hoher See aufgegriffen worden sind?
Hat die Bundesregierung sich für ein solches Projekt eingesetzt, und wenn
nein, warum nicht?
Hält die Bundesregierung ein solches Projekt heute noch für sinnvoll, und
wenn ja, wo und wann wird sie sich dafür einsetzen?

8. Was hält die Bundesregierung von den Vorschlägen des UNHCR bzw. des
EP zur Aufnahme von aus Seenot geretteten Personen ein Instrument zur
verbindlichen Verantwortungsteilung innerhalb der EU zu schaffen?

9. Welches Recht gilt auf einem deutschen Patrouillenboot, wenn es in inter-
nationalen Gewässern bzw. in Hoheitsgewässern anderer Staaten Kontrol-
len durchführt bzw. Personen aufgreift?

10. Welcher Staat ist für die Aufnahme bzw. für die Durchführung eines Flücht-
lingsanerkennungsverfahrens zuständig, wenn deutsche Grenzschützerin-
nen bzw. Grenzschützer bei Kontrollen in internationalen Gewässern bzw.
in Hoheitsgewässern anderer Staaten Personen aufgreifen, die an Bord um
Abschiebungsschutz nachsuchen?

11. Welcher Staat wäre für die Aufnahme bzw. für die Durchführung von
Flüchtlingsanerkennungsverfahren zuständig, wenn deutsche Grenzschüt-
zerinnen bzw. Grenzschützer als Beamte eines sog. Soforteinsatzteams der
Europäischen Grenzschutzagentur der Befehlsgewalt und dem Recht des
Einsatzmitgliedstaates unterworfen wären (vgl. KOM(2006) 401 endg.,
19. Juli 2006), bei Kontrollen aber (sei es in internationalen Gewässern bzw.
in Hoheitsgewässern anderer Staaten) Personen aufgegriffen würden, die
dann an Bord eines unter deutscher Flagge fahrenden Bootes um Abschie-
bungsschutz nachsuchen?

Berlin, den 6. September 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.