BT-Drucksache 16/1702

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD -16/1410, 16/1696- Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende

Vom 31. Mai 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1702
16. Wahlperiode 31. 05. 2006

Entschließungsantrag
der Abgeordneten Klaus Ernst, Katja Kipping, Kornelia Möller, Karin Binder,
Dr. Martina Bunge, Werner Dreibus, Diana Golze, Dr. Barbara Höll, Inge Höger-
Neuling, Elke Reinke, Volker Schneider (Saarbrücken), Dr. Ilja Seifert, Frank Spieth,
Jörn Wunderlich, Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und der Fraktion DIE LINKE.

zu der dritten Beratung des Gesetzentwurfs der Fraktionen der CDU/CSU und SPD
– Drucksachen 16/1410, 16/1696 –

Entwurf eines Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung
für Arbeitsuchende

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Statt endlich eine makroökonomisch fundierte Beschäftigungs- und aktive Ar-
beitsmarktpolitik zur Bekämpfung der strukturellen Massenarbeitslosigkeit in
Angriff zu nehmen, konzentriert sich die Bundesregierung mit dem Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Fortentwicklung der Grundsicherung für Arbeitsuchende wei-
ter auf die Verschärfung staatlicher Kontrollen und Sanktionen gegenüber
Erwerbslosen. Durch die Einrichtung von Außendiensten zur Durchführung
regelmäßiger Kontrollen, zweifelhafte Sofortangebote zur Überprüfung der
Arbeitsbereitschaft von Neuantragsstellerinnen und Neuantragsstellern und die
Umkehr der Beweislast bei vermuteten eheähnlichen bzw. lebenspartnerschaft-
sähnlichen Gemeinschaften soll der angeblich verbreitete Leistungsmissbrauch
unter Beziehenden der Grundsicherung für Arbeitsuchende bekämpft werden.
Wie im Fall der Beweislastumkehr werden dabei geltende Grundprinzipien des
Rechtssystems und der rechtsstaatlichen Praxis auf den Kopf gestellt. Mit der
radikalen Verschärfung der Sanktionen durch den über Nacht eingebrachten
Änderungsantrag der Regierungsfraktionen, die bei wiederholter Pflichtverlet-
zung von Erwerbslosen eine völlige Streichung der Regelleistung sowie der
Kosten der Unterkunft ermöglicht, werden das Würdegrundrecht und das So-
zialstaatsgebot des Grundgesetzes eklatant verletzt. Außerdem wird das Grund-
recht auf Freizügigkeit von Langzeiterwerbslosen eingeschränkt und eine Art
Residenzpflicht eingeführt.
Als Vorwand für die Verschärfung der Überprüfungs- und Sanktionsmaßnah-
men gilt ein angebliches „Milliardendefizit“ bei Hartz IV. Dabei hat die Bun-
desregierung in ihrer Antwort auf die Fragen der Abgeordneten Katja Kipping
vom 8. Mai 2006 selbst eingeräumt, dass es aufgrund der ungünstigen Entwick-
lung des Arbeitsmarkts auch unter dem alten System der Arbeitslosenhilfe und
Sozialhilfe im Jahr 2005 zu Ausgabenbelastungen in Höhe von 35,5 Mrd. Euro
gekommen wäre und sich die Differenz zwischen den tatsächlichen Ausgaben

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für die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende in diesem Jahr und den
Projektionen für das alte System (1,8 Mrd. Euro) durch leistungsrechtliche Ver-
besserungen wie Beiträge für die Hilfebeziehenden an Renten- und Kranken-
versicherung erklären lässt. Der Behauptung eines weit verbreiteten Leistungs-
missbrauchs mangelt es also an einer empirischen Grundlage. Zum anderen
berichten Vertreter des Vorstandes der Bundesagentur für Arbeit, dass die
Nachfrage nach Zusatzjobs enorm sei und sie ohnehin kaum andere Maßnah-
men anzubieten hätten.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung daher auf,

1. die am 31. Mai 2006 im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen
Bundestages mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen beschlossenen Ver-
schärfungen der Sanktionen nach § 31 des Zweiten Buches Sozialgesetz-
buch, die bei wiederholter Pflichtverletzung durch Erwerbslose die völlige
Streichung der Leistungen inklusive der Kosten der Unterkunft vorsehen,
umgehend zurück zu nehmen;

2. statt die Überwachung und Sanktionierung von Erwerbslosen zu verschär-
fen, die Beratung und Vermittlung zu verbessern und die aufschiebende
Wirkung von Widersprüchen wieder herzustellen sowie ein Recht auf unab-
hängige Sozialberatung einzuführen;

3. von einer Einschränkung der Freizügigkeit von Erwerbslosen durch die
Knüpfung des Leistungsbezugs an den Aufenthalt im zeit- und ortsnahen
Bereich sowie die eingeschränkte Übernahme der Kosten der Unterkunft bei
Umzug in eine andere, ebenfalls angemessene, aber teurere Wohnung abzu-
sehen;

4. dafür zu sorgen, dass Ein-Euro-Jobs (Arbeitsgelegenheiten nach der Mehr-
aufwandsentschädigungsvariante) und andere arbeitsmarktpolitische Maß-
nahmen von den Trägern der Grundsicherung für Arbeitsuchende nur noch
auf freiwilliger Basis vergeben werden;

5. die Möglichkeit zu schaffen, wie auch vom Deutschen Gewerkschaftsbund
vorgeschlagen, die Mittel für Ein-Euro-Jobs und Transferleistungen zur
Finanzierung sozialversicherungspflichtiger Angebote, die Tarif- oder Min-
destlohnstandards entsprechen, bündeln zu können;

6. keine Umkehr der Beweislast für eheähnliche und lebenspartnerschaftsähn-
liche Gemeinschaften vorzunehmen;

7. die Freibeträge für Sparbücher von Kindern in der jetzigen Höhe zu belas-
sen, keine Absenkung des Schonbetrags für frei verfügbares Vermögen vor-
zunehmen und die Freibeträge für Altersvorsorgevermögen deutlich zu
erhöhen. Außerdem müssen die Anrechnungsregelungen für Partnereinkom-
men erheblich verbessert werden.

Berlin, den 31. Mai 2006

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

Zu Nummer 1

Mit der aktuellen Vorlage des Entwurfs eines Gesetzes zur Fortentwicklung der

Grundsicherung für Arbeitsuchende verstößt die Bundesregierung gegen das

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/1702

Grundgesetz, da der Gesetzentwurf bei wiederholter Pflichtverletzung die
völlige Streichung der Grundsicherung und der Kosten für die Unterkunft er-
möglicht. Nach dem Motto, wer nicht arbeitet, soll weder essen noch wohnen,
entzieht die Regierung dem Bürger die verfassungsmäßige Garantie einer men-
schenwürdigen Grundsicherung. Das Grundgesetz sieht mit Artikel 1 („Würde-
grundrecht“) und Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) („Sozialstaatsgebot“)
aber zwei Grundsätze vor, die durch keinen Beschluss des Deutschen Bundes-
tages oder des Bundesrates beseitigt werden können („Ewigkeitsgesetze“). Der
Kernbereich des Würdegrundrechts und des Sozialstaatsprinzips wurde in einer
langen Folge von Entscheidungen vom Bundesverfassungsgericht definiert. So
ist der Staat verpflichtet, die „Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdi-
ges Dasein seiner Bürger zu schaffen“ (BVerfGE 82, 60, 80). Das Bundesver-
waltungsgericht (BVerG FEVS 18, 86) hat zudem definiert, dass würdevoll der-
jenige lebt, der seinen notwendigen Bedarf über das existentiell Unerlässliche
hinaus auch in soziokultureller Hinsicht bestreiten kann, was jeweils an den
herrschenden Lebensgewohnheiten neu ausgerichtet werden muss und eine
soziale Ausgrenzung verhindern soll. Wenn es laut Artikel 79 GG unzulässig
ist, die Grundsätze des Sozialstaatsgebots und des Würdegrundrechts durch
Änderung des Grundgesetzes zu berühren, dann ist es erst recht unzulässig,
diese Grundsätze auf dem Wege einfacher Gesetzgebung auszuhöhlen.

Zu Nummer 2

Die zuständigen Träger kommen ihrer Beratungspflicht häufig nur in ungenü-
gendem Maße nach, viele Leistungsbescheide sind fehlerhaft und aufgrund
mangelnder Möglichkeit, einen aufschiebenden Widerspruch gegen belastende
Verwaltungsakte einlegen zu können, müssen viele Betroffene monatelang auf
ihnen zustehende Leistungen warten. Statt die Überwachung und Sanktionie-
rung von Erwerbslosen zu verschärfen, wäre es daher geboten, die Beratungs-
und Rechtsschutzmöglichkeiten der von Langzeitarbeitslosigkeit Betroffenen
zu verbessern.

Zu Nummer 3

Das Recht auf Freizügigkeit, das als Grundrecht auch für Erwerbslose uneinge-
schränkt zu gelten hat, wird durch die beschriebenen Maßnahmen erheblich
und in unzulässiger Weise eingeschränkt. Die Knüpfung des Leistungsbezugs
an die Erreichbarkeitsanordnung kommt der Einführung einer Residenzpflicht
für Erwerbslose gleich, die auch im Sinne der Eingliederung und gesellschaft-
lichen Integration kontraproduktiv ist. Alleiniges Kriterium für die Übernahme
der Kosten der Unterkunft ist die Angemessenheit der Wohnung. Ein Wechsel
in eine andere angemessene Wohnung muss weiterhin möglich bleiben, ohne
dass Abstriche an der vollen Übernahme der Kosten gemacht werden.

Zu Nummer 4

Die Nachfrage nach den so genannten Ein-Euro-Jobs ist aufgrund eines Man-
gels an alternativen Instrumenten größer als das Angebot, die Bereitschaft zur
Arbeitsaufnahme so groß, dass sogar unbezahlte Arbeit nachgefragt wird. Die
Pflicht zur Aufnahme einer solchen Tätigkeit zwecks Erprobung der Arbeits-
willigkeit als Voraussetzung zur Gewährung einer Grundsicherung erweist sich
damit als überflüssig. In Verbindung mit den strikten Sanktionen ist sie zudem
verfassungsrechtlich fragwürdig. Darüber hinaus ist die arbeitsmarktpolitische
Zweckmäßigkeit der Zusatzjobs nicht zu erkennen. Erste Erfahrungen zeigen,
dass kaum Übergänge in reguläre Erwerbsarbeit erfolgen. Das Instrument dient
daher weniger arbeitsmarktpolitischen als Disziplinierungszwecken. Statt den
Erwerbslosen immer mehr Pflichten und Gegenleistungen abzuverlangen,

sollte die Bundesregierung vorrangig ihrer Bringeschuld bei der Schaffung
arbeitsmarktpolitisch zweckmäßiger Maßnahmen nachkommen.

Drucksache 16/1702 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Zu Nummer 5

Hierzu sollen die Vorraussetzungen geschaffen werden, die finanziellen Mittel
für die Ein-Euro-Jobs zur Finanzierung sozialversicherungspflichtiger Ange-
bote einsetzen zu können. Durch die Umwandlung der Ein-Euro-Jobs in sozial-
versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, die Tarif- bzw. Mindestlohnstan-
dards entsprechen und freiwillig eingegangen werden können, kann ein erster
Schritt in Richtung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors gegan-
gen werden. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor bedeutet für Lang-
zeiterwerbslose eine Beschäftigungsperspektive. Zugleich können gesellschaft-
lich notwendige und sinnvolle Arbeiten (im Bereich Umwelt, Kultur, Sport und
Soziales) strukturell und längerfristig ermöglicht werden.

Zu Nummer 6

Die geplante Umkehr der Beweislast in „Einstandsgemeinschaften“ kommt
einer staatlichen Aufforderung zur Entsolidarisierung gleich. Finanziell bestraft
werden sollen zukünftig Personen, die zusammen leben und bereit sind, „Ver-
antwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen“. Betroffen sind
nicht nur eheähnliche Gemeinschaften, sondern auch Wohngemeinschaften
oder Freundinnen und Freunde, die länger als ein Jahr zusammen wohnen oder
allein Erziehende, die sich mit jemandem die Wohnung teilen. Personen, die
sich jenseits eheähnlicher Versprechen im solidarischen Miteinander eine Woh-
nung teilten, sollen zukünftig in die gegenseitige Haftungspflicht genommen
werden und haben sich vor dem Staat zu verantworten.

Eine Umkehr der Beweislast bezüglich der Bedarfsgemeinschaft führt dazu,
dass die tatsächliche Erfüllung einer zivilrechtlich auch nicht vorhandenen
Unterhaltspflicht vermutet wird. Durch die Vermutungsregelung wird die Ab-
sicherung der Betroffenen gefährdet, weil unter Umständen die vermutete Be-
reitschaft zu Zahlungen gar nicht besteht (und zivilrechtlich auch nicht einge-
klagt werden kann). Die Rechtlosigkeit der betroffenen Personen, die weder
gegen Staat noch Mitbewohnerin oder Mitbewohner einen Anspruch haben,
kann dazu führen, dass der existenznotwendige Bedarf ungedeckt bleibt. Das
ist angesichts der Bedeutung einer existenziellen Grundsicherung aus rechts-
und sozialstaatlicher Sicht nicht hinzunehmen. Hierfür spricht auch ein aktuel-
ler Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, dass die Bedürftigkeit im Verfah-
ren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht ungeklärt bleiben darf und existenz-
sichernde Leistungen nicht auf eine bloße Vermutung hin versagt werden
dürfen (BVerfG v. 12. Mai 2005, Az: 1 BvR 569/05). Auch das Argument, dass
sich zahlungsunwillige Menschen dann eben räumlich trennen müssten, kann
diese Bedenken nicht entschärfen. Dies wäre ebenfalls eine grundgesetzwidrige
Einmischung in die Privatsphäre.

Zu Nummer 7

Erheblich mehr Hilfebeziehende verfügen über kleine Sparvermögen als über
private Altersversicherungen. Daher sind wesentlich mehr Menschen von der
Kürzung des Schonbetrages für frei verfügbares Vermögen betroffen als von
der Erhöhung des Freibetrags für private Alterssicherung profitieren. Bemü-
hungen um Kostenneutralität dürfen außerdem nicht dazu führen, dass die Frei-
beträge für Kindersparbücher, die oftmals der Absicherung der Ausbildung
oder Investitionen in Bildungs- und Entwicklungschancen dienen, abgesenkt
werden. Der im Gesetzentwurf vorgesehene Freibetrag für privates Altersvor-
sorgevermögen ist zudem immer noch unzureichend und sollte auf 520 Euro
pro Person und Lebensjahr erhöht werden. Die Anrechnungsregelungen für
Partnereinkommen sollten deutlich verbessert werden, um zu verhindern, dass
Erwerbslose bereits bei geringem Einkommen ihres Partners bzw. ihrer Part-
nerin ihren Anspruch auf Grundsicherung verlieren und auf diese Weise das

Risiko der Erwerbslosigkeit auf die Familien abgewälzt wird.

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