BT-Drucksache 16/12539

Aufklärung von schwerwiegenden humanitären Völkerrechtsverstößen im jüngsten Gaza-Krieg

Vom 31. März 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/12539
16. Wahlperiode 31. 03. 2009

Kleine Anfrage
der Abgeordneten Winfried Nachtwei, Kerstin Müller (Köln), Jürgen Trittin,
Marieluise Beck (Bremen), Volker Beck (Köln), Alexander Bonde, Dr. Uschi Eid,
Thilo Hoppe, Ute Koczy, Monika Lazar, Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg),
Manuel Sarrazin, Irmingard Schewe-Gerigk, Rainder Steenblock, Hans-Christian
Ströbele und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Aufklärung von schwerwiegenden humanitären Völkerrechtsverstößen
im jüngsten Gaza-Krieg

Als Reaktion auf den fortwährenden Raketenbeschuss Israels durch bewaffnete
palästinensische Gruppen begann die israelische Armee am 27. Dezember 2008
mit Luftangriffen auf den Gaza-Streifen. In den drei Wochen nach Beginn der
israelischen Militäroffensive sind nach Angaben der Menschenrechtsorganisa-
tion Amnesty International mehr als 1 300 Palästinenserinnen und Palästinen-
ser, darunter etwa 300 Kinder, sowie 13 Israelis getötet worden. Im Rahmen
weiterer unabhängiger Untersuchungen werden auch diese Opferzahlen über-
prüft. In dem Bericht vom 23. Februar 2009 „Fuelling conflict: Foreign arms
supplies to Israel/Gaza“ (www.amnesty.org) legt Amnesty International nach
Recherchen in Gaza und Israel konkrete Hinweise vor, dass beide Konflikt-
parteien in ihrer Kriegsführung Regeln des humanitären Völkerrechts grob
missachtet und damit Kriegsverbrechen begangen haben. Dabei seien unter-
schiedslos und besonders grausam wirkende Waffen gezielt und zum Teil in er-
heblichem Umfang in bewohnten und dicht besiedelten Gebieten eingesetzt
worden. Viele der eingesetzten Waffen stammten ganz oder teilweise aus
Rüstungsexporten.

Amnesty international und andere Menschenrechtsorganisationen wie Human
Rights Watch sowie israelische Menschenrechtsorganisationen wie B‘Tselem
appellieren deshalb an die Vereinten Nationen (VN) und den Sicherheitsrat,
eine unabhängige Untersuchung der ernsthaften Verletzungen des humanitären
Völkerrechts aller Beteiligten einzuleiten und die Verantwortlichen zur
Rechenschaft zu ziehen.

Am 19. März 2009 berichteten die beiden israelischen Zeitungen „Haaretz“ und
„Maariv“ von Darstellungen israelischer Soldatinnen und Soldaten über völker-
rechtswidrige Befehle zur Kriegsführung gegenüber Zivilistinnen und Zivilis-
ten und deren Umsetzung im Gaza-Krieg. Palästinensische Menschenrechtsor-

ganisationen wie das Palestinian Center for Human Rights (PCHR) und
verschiedene Augenzeugen kritisieren ihrerseits auch unter den schwierigen
Bedingungen in Gaza das brutale Vorgehen der Hamas, insbesondere auch nach
dem Gaza-Krieg. Sie beklagen die Ermordung von Hamas-Gegnern und die ge-
waltsame Einschüchterung von Kritikern (The Guardian, 13. Februar 2009).

Die Bundesrepublik Deutschland hat ein fundamentales Interesse an der Exis-
tenz und Sicherheit des Staates Israel und einem israelisch-palästinensischen

Drucksache 16/12539 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Friedensprozess. Vor diesem Hintergrund hat es in der Vergangenheit auch
immer wieder von deutscher Seite Unterstützung für die Verteidigungsfähigkeit
Israels gegeben. Diese Unterstützung ist an die Einhaltung der im EU-Verhal-
tenskodex für Waffenausfuhren und an die in den Rüstungsexportrichtlinien der
Bundesregierung fixierten Grundsätze, nicht zuletzt des Völkerrechts, gebun-
den.

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Unterstützt die Bundesregierung die Forderung von Amnesty International
und anderen Menschenrechtsorganisationen, die u. a. auch von der VN-
Hochkommissarin Navi Pillay erhoben wird, eine unabhängige Aufklärung
der schwerwiegenden humanitären Völkerrechtsverstöße und Kriegsverbre-
chen beider Konfliktparteien durch eine Kommission der Vereinten Natio-
nen in die Wege zu leiten?

Wenn ja, in welcher Form?

Wenn nein, warum nicht?

2. Inwieweit war der unverhältnismäßige und völkerrechtswidrige Waffenein-
satz von beiden Seiten Gegenstand von Gesprächen der Bundeskanzlerin
oder der Bundesregierung mit Vertretern der Konfliktparteien, der USA, der
VN oder Partnern in der EU?

Welche Ergebnisse wurden dabei erzielt?

3. Inwieweit unterstützt die Bundesregierung ganz oder teilweise die Forde-
rung nach einer zeitweisen Suspendierung aller laufenden Waffentransfers,
solange die Aufklärung der Vorwürfe von Amnesty International gegen die
Konfliktparteien nicht abgeschlossen ist?

Wie begründet sie ihre Haltung?

Palästinensische Militäraktionen

4. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Anzahl an Toten/
Verletzten und das Ausmaß der Zerstörung auf israelischem Gebiet sowie in
Gaza selber, das durch den Abschuss von Raketen von Seiten bewaffneter
palästinensischer Gruppen seit Anfang 2008 insgesamt und speziell seit dem
27. Dezember 2008 verursacht wurde?

5. Welche Waffen wurden dabei in welchem Umfang verwendet, und was
waren die vorrangig getroffenen Ziele?

6. Welche Zerstörungskraft/Wirkung haben die laut dem Bericht von Amnesty
International von bewaffneten palästinensischen Gruppen eingesetzten Waf-
fen (z. B. Qassam-Raketen, Mörser), insbesondere wenn sie in bewohnten
Gebieten oder gegen ungeschützte Zivilisten eingesetzt werden?

7. Woher stammen nach Einschätzung und Erkenntnissen der Bundesregierung
die jeweiligen Waffen und Waffenzulieferungen der bewaffneten palästinen-
sischen Gruppen in Gaza, wie werden die Waffenkäufe finanziert, und auf
welchen Wegen, und mit wessen Hilfe gelang(t)en sie nach Gaza?

8. In welcher Form, und in welchem Umfang trägt die Bundesregierung dazu
bei, dass der Waffennachschub unterbunden wird?

9. Wie beurteilt die Bundesregierung den Raketenbeschuss von südisraelischen
Städten und Dörfern durch bewaffnete palästinensische Gruppen in Gaza
völkerrechtlich?
Welche Bestimmungen des humanitären Völkerrechts wurden von palästi-
nensischer Seite konkret verletzt?

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/12539

10. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung darüber, ob bewaffnete
palästinensische Gruppen in Gaza gezielt Zivilpersonen als menschliche
Schutzschilde missbraucht und damit deren Tod riskiert haben?

Israelische Militäraktionen

11. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über die Anzahl an Toten/
Verletzten und das Ausmaß der Zerstörung in Gaza, das durch israelische
Angriffe seit Anfang 2008 insgesamt und speziell seit dem 27. Dezember
2008 verursacht wurde?

12. Welche Waffen wurden dabei von israelischer Seite in welchem Umfang
verwendet, und was waren die vorrangig getroffenen Ziele?

13. Welche Zerstörungskraft/Wirkung haben die laut dem Bericht von Amnesty
International von Israel eingesetzten Waffen:

a) Waffen mit weißem Phosphor,

b) Pfeilmunition (Flechets),

c) scharfkantige, würfelförmige Schrapnellmunition,

d) DIME (Dense Inert Metal Explosive),

insbesondere wenn sie in bewohnten Gebieten oder gegen ungeschützte
Zivilisten zum Einsatz kommen?

14. Kann die Bundesregierung bestätigen oder entkräften, dass in dicht besie-
delten Gebieten (z. B. Gaza-Stadt) und gegen zivile Einrichtungen (z. B.
der VN) Munition mit weißem Phosphor eingesetzt wurde, und wie bewer-
tet die Bundesregierung einen solchen Einsatz unter Gesichtspunkten des
humanitären Völkerrechts?

15. Inwieweit hat die Bundesregierung direkte oder indirekte Erkenntnisse,
dass Israel Flechets, neuartige Schrapnellmunition oder eine noch weitge-
hend unbekannte und unerforschte Waffe (DIME) eingesetzt hat?

16. Wie beurteilt die Bundesregierung unter dem Gesichtspunkt des humanitä-
ren Völkerrechts den von Amnesty International dokumentierten Einsatz
von Artilleriemunition, Pfeil-/Schrapnellmunition und anderen Nichtpräzi-
sionswaffen in den dicht besiedelten Wohngebieten in Gaza?

17. Kann nach Ansicht der Bundesregierung die Tatsache, dass sich bewaff-
nete palästinensische Gruppen und deren militärisch relevante Objekte
häufig in bewohnten Gebieten befinden, es völkerrechtlich rechtfertigen,
diese bewohnten Gebiete auch dann unter massiven Beschuss zu nehmen,
wenn damit zu rechnen ist, dass überwiegend und in großem Umfang Zivi-
listen verletzt und getötet werden?

Wenn ja, wie begründet die Bundesregierung die Völkerrechtskonformität
eines solchen Waffeneinsatzes?

18. Wie beurteilt die Bundesregierung Äußerungen israelischer Soldatinnen
und Soldaten über völkerrechtswidrige Befehle während des Gaza-Krie-
ges?

19. Wie beurteilt die Bundesregierung insgesamt die Angriffe in Gaza durch
israelische Truppen völkerrechtlich, und welche Schlussfolgerungen zieht
sie daraus?

Drucksache 16/12539 – 4 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

Rüstungsexporte und Zulieferungen

20. Wurden von Seiten der bewaffneten palästinensischen Gruppen Kriegs-
waffen oder sonstige Rüstungsgüter gegen Israel eingesetzt, die

a) aus deutscher Produktion stammen,

b) deutsche Zulieferungen oder Technologien enthielten oder

c) nur mit Hilfe deutscher Staatsbürger oder Unternehmen (z. B. Banken,
Transportunternehmen) zum Einsatz gebracht werden konnten?

Wenn ja, um welche Waffen, Zulieferungen und Hilfsleistungen handelt es
sich dabei?

21. Wurden von Seiten Israels im Gaza-Krieg Kriegswaffen oder sonstige Rüs-
tungsgüter eingesetzt, die

a) aus deutscher Produktion stammen,

b) deutsche Zulieferungen oder Technologien enthielten oder

c) nur mit Hilfe deutscher Staatsbürger oder Unternehmen (z. B. Banken,
Transportunternehmen) zum Einsatz gebracht werden konnten?

Wenn ja, um welche Waffen, Zulieferungen und Hilfsleistungen handelt es
sich dabei?

22. Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung, dass das Containerschiff
MS WEHR ELBE der Oskar Wehr KG 989 Container mit Munition aus
den USA nach Israel transportiert hat (siehe Bericht von Amnesty Inter-
national, S. 33)?

Ist ein solcher Transport von Kriegswaffen genehmigungspflichtig, und
wenn ja, wann hat die Bundesregierung die Genehmigung erteilt?

23. Gab es in den vergangenen Jahrzehnten konkrete Fälle, in denen die Bun-
desregierung Rüstungsexportgenehmigungen oder die Ausfuhr von Rüs-
tungsgütern an Israel bzw. israelische Endempfänger nicht erlaubt hat, weil
sich Israel in einer bewaffneten Auseinandersetzung befand bzw. konkret
die Gefahr bestand, dass diese Güter nicht in Übereinstimmung mit dem
Völkerrecht und den Exportrichtlinien der Bundesregierung verwendet
werden?

Wenn ja, in welchen Fällen, und was sind die Gründe, warum eine Ausfuhr
verweigert wurde?

24. Gab es in den vergangenen Jahrzehnten konkrete Fälle, in denen die Bun-
desregierung Rüstungsexportgenehmigungen oder die Ausfuhr von Rüs-
tungsgütern in die palästinensischen Gebiete bzw. an palästinensische End-
empfänger nicht erlaubt hat, weil sich die Gebiete in einer bewaffneten
Auseinandersetzung befanden bzw. konkret die Gefahr bestand, dass diese
Güter nicht in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht und den Export-
richtlinien der Bundesregierung verwendet werden?

Wenn ja, in welchen Fällen, und was sind die Gründe, warum eine Ausfuhr
verweigert wurde?

25. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass die bisher gelieferten Rüstungs-
güter deutschen Ursprungs von Israel im Gaza-Krieg

a) völkerrechtskonform,

b) in Übereinstimmung mit den Politischen Grundsätzen der Bundesregie-
rung für den Rüstungsexport – insbesondere hinsichtlich des Ab-
schnitts I Nummer 1 bis 4 sowie des Abschnitts III Nummer 2, 3, 5

und 7 – sowie

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 5 – Drucksache 16/12539

c) im Einklang mit den Kriterien Nummer 2 (Einhaltung Menschenrechte),
Nummer 4 (Frieden und Sicherheit in der Region) und Nummer 6
(Nichtanwendung von Gewalt, einschließlich der Einhaltung des huma-
nitären Völkerrechts) des EU-Verhaltenskodex

verwendet wurden und verwendet werden?

Wenn ja, wie begründet sie dies jeweils (bitte jeweils separat begründen,
wieso die einzelnen Kriterien aus Sicht der Bundesregierung eingehalten
wurden)?

Wenn nein, in welchen Fällen hat die Bundesregierung Hinweise darauf,
dass dies nicht geschehen ist, und wie hat sie darauf reagiert?

26. Ist die Bundesregierung der Ansicht, dass, solange die Vorwürfe von
schweren Völkerrechtsverstößen bis hin zu Kriegsverbrechen nicht ent-
kräftet werden, deutsche Rüstungsexporte an Israel und in die palästinensi-
schen Gebiete ausgesetzt werden müssten?

Wenn nein, wie begründet sie dies hinsichtlich Abschnitt 1 Nummer 3 der
Rüstungsexportrichtlinie, die besagt, dass Genehmigungen für Exporte von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern grundsätzlich nicht erteilt
werden, wenn und so lange ein hinreichender Verdacht besteht, dass diese
zur internen Repression im Sinne des EU-Verhaltenskodex für Waffenaus-
fuhren oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschen-
rechtsverletzungen missbraucht werden?

27. Welche Maßnahmen wird die Bundesregierung ergreifen, um gemäß Ab-
schnitt 1 Nummer 4 der Rüstungsexportrichtlinie die Frage von Menschen-
rechtsverletzungen zu prüfen, und inwieweit wird dabei der Bericht von
Amnesty International berücksichtigt?

28. Ist die Frage des Exports von Rüstungsgütern nach Israel und in die paläs-
tinensischen Gebiete Gegenstand der COARM-Beratungen (EU-Ratsar-
beitsgruppe „Ausfuhr konventioneller Waffen“), und welche Auffassung
wird dort vertreten?

Inwieweit trifft es nach Kenntnis der Bundesregierung zu, dass Schweden
und acht weitere EU-Staaten erklärt haben, keinerlei Rüstungsprodukte an
Israel exportieren zu wollen (siehe Bericht von Amnesty International,
S. 20)?

29. Wie überwacht die EU im Falle Israels und im Falle der palästinensischen
Gebiete die Einhaltung des EU-Verhaltenskodexes für Waffenausfuhren,
und wie werden Verstöße von Seiten der Exporteure oder des Importeurs
diskutiert und ggf. sanktioniert?

30. In welchem Umfang hat die Bundesregierung 2008 bzw. 2009 den Export
von Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern oder Dual-Use-Gütern an
Israel genehmigt, und welche Genehmigungsentscheidungen und Ausfuh-
ren stehen noch in diesem Jahr an?

Wie verteilen sich die Genehmigungen auf die Positionen der Ausfuhrlis-
ten?

31. In welchem Umfang hat die Bundesregierung 2008 bzw. 2009 den Export
von Kriegswaffen, sonstigen Rüstungsgütern oder Dual-Use-Gütern in die
palästinensischen Gebiete genehmigt, und welche Genehmigungsentschei-
dungen und Ausfuhren stehen noch in diesem Jahr an?

Wie verteilen sich die Genehmigungen auf die Positionen der Ausfuhrlis-
ten?

Berlin, den 31. März 2009
Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

x

Schnellsuche

Suchen Sie z.B.: "13 BGB" oder "I ZR 228/19". Die Suche ist auf schnelles Navigieren optimiert. Erstes Ergebnis mit Enter aufrufen.
Für die Volltextsuche in Urteilen klicken Sie bitte hier.