BT-Drucksache 16/11918

Europäische Innenpolitik rechtsstaatlich gestalten

Vom 11. Februar 2009


Deutscher Bundestag Drucksache 16/11918
16. Wahlperiode 11. 02. 2009

Antrag
der Abgeordneten Wolfgang Wieland, Manuel Sarrazin, Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Dr. Uschi Eid, Monika Lazar, Jerzy Montag, Kerstin Müller
(Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth (Augsburg), Irmingard Schewe-Gerigk,
Rainder Steenblock, Silke Stokar von Neuforn, Hans-Christian Ströbele, Josef
Philip Winkler und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Innenpolitik rechtsstaatlich gestalten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

1. Unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft wurde im Januar 2007 eine soge-
nannte Zukunftsgruppe zur europäischen Innenpolitik eingerichtet. Sie sollte
Ideen für die zukünftige europäische Innenpolitik entwickeln. Kernthemen
waren die polizeiliche Zusammenarbeit, Terrorbekämpfung, Einsätze außer-
halb der EU, Migration, Asyl, Grenzpolitik, neue Technologien und Bevöl-
kerungsschutz.

2. Im Juni 2008 hat die Zukunftsgruppe ihren Bericht unter dem Titel „Freiheit,
Sicherheit, Privatheit – Europäische Innenpolitik in einer offenen Welt“ vor-
gelegt. Er soll vor allem als Grundlage für das im Jahr 2009 zu verabschie-
dende Stockholmer Programm dienen, das den Rahmen für die weitere Ge-
staltung der Innen- und Rechtspolitik der Europäischen Union bilden soll.

3. Solange der Vertrag von Lissabon noch nicht in Kraft getreten ist, bleibt die
Entscheidungsgewalt über die europäische Innenpolitik in der Hand der natio-
nalen Regierungen. Das Europäische Parlament bleibt weitestgehend ohne
Kompetenzen. Es bleibt also die Verantwortung der Bundesregierung, auf
europäischer Ebene konsequent für den Schutz der Bürgerrechte einzutreten
und diesbezügliche Beschlüsse des Deutschen Bundestages umzusetzen.

4. Der Bericht der Zukunftsgruppe enthält eine Reihe von Vorschlägen und
Politikansätzen zu Fragen der inneren Sicherheit, die auf Kosten der indivi-
duellen Freiheitsrechte der EU-Bürgerinnen und EU-Bürger gehen. Zudem
widersprechen einige Vorschläge dem deutschen Verständnis von Grund-
rechtsschutz und den Verfassungstraditionen der Bundesrepublik Deutsch-
land. Sie stellen die bewährte Sicherheitsarchitektur in Frage. Das gilt beson-
ders für die Aufweichung des Trennungsgebotes zwischen Polizei und

Geheimdiensten sowie die angestrebte Kooperation zwischen Polizei und
Militär.

5. Das Bundesministerium des Innern hat dem Bericht bei der Übermittlung
an den Innenausschuss des Deutschen Bundestages eine Übersicht mit
25 wesentlichen Forderungen beigegeben. Hier finden sich Forderungen, die
mit einer rechtsstaatlichen Innenpolitik nicht vereinbar sind und teilweise im
Widerspruch zum Bericht der Zukunftsgruppe stehen.

Drucksache 16/11918 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode

6. Besonders fragwürdig ist die Forderung Nr. 23, nach der ein „transnationales
Konfliktrecht“ für den polizeilichen Bereich geschaffen werden soll. Dieser
Vorschlag einer „Fortentwicklung des Völkerrechts“ legt – in Zusammen-
hang mit früheren Äußerungen des Bundesministers des Innern – nahe, dass
es hierbei um die Übertragung kriegsvölkerrechtlicher Kategorien auf den
Bereich der zivilen Terrorbekämpfung und um die Schaffung eines soge-
nannten Feindstrafrechts geht. Das wäre eine Übernahme der grundrechts-
feindlichen Ideen, die durch die frühere Regierung der Vereinigten Staaten
unter anderem mit den Internierungen in Guantánamo und der Definition von
ungesetzlichen Kombattanten umgesetzt wurden.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. bei den Verhandlungen über die zukünftige europäische Kooperation im Be-
reich der Innenpolitik solchen Vorschlägen die Zustimmung zu verweigern,
die der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, der Trennung von
Polizei und Geheimdiensten sowie der Trennung von Polizei und Militär zu-
widerlaufen;

2. bei derartigen Verhandlungen jede vorgeschlagene Maßnahme auf ihre Ver-
einbarkeit mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu prüfen.
Die Erhaltung des hohen deutschen Schutzniveaus und des individuellen
Rechtsschutzes sind hier besonders wichtig;

3. bei derartigen Verhandlungen Vorschläge abzulehnen, die eine Ausstattung
der Polizei mit militärischen Mitteln vorsehen;

4. einer Aufweichung der etablierten und bewährten Trennung zwischen Polizei
und Militär entgegenzuwirken und den Einsatz des Militärs bzw. paramilitä-
rischer Einheiten (wie der European Gendarmerie Force) im Inland auszu-
schließen;

5. einer Vermischung von Polizei- und Geheimdienstarbeit auf europäischer
Ebene entgegenzuwirken, die das in der Bundesrepublik Deutschland gültige
Trennungsprinzip weiter beeinträchtigen würde;

6. bei Vereinbarungen über die Zusammenarbeit mit Nicht-EU-Staaten und ins-
besondere beim Datenaustausch mit solchen Staaten sicherzustellen, dass der
Schutz der Grundrechte, insbesondere der Rechtsschutz in vollem Umfang
gewährleistet werden;

7. dem Deutschen Bundestag und seinen zuständigen Ausschüssen regelmäßig
und umfassend über den Fortgang der Planungen im Bereich Innenpolitik auf
EU-Ebene zu berichten.

Berlin, den 11. Februar 2009

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Begründung

Eine Innenpolitik, die sich an den zentralen Aussagen dieses Berichts orientiert,
würde zahlreiche Elemente der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik
Deutschland in Frage stellen. Es ist bei zahlreichen Vorschlägen auch kaum zu
erkennen, wie sie mit dem deutschen Verständnis von Rechtsstaat und Grund-

rechtsschutz in Einklang gebracht werden können.

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/11918

So wird beispielsweise für das Europäische Polizeiamt Europol eine weitaus
größere operative Rolle vorgeschlagen, insbesondere auf dem Gebiet des Daten-
austauschs (Nummer 46 ff.). Damit wird ihm jene Funktion zugedacht, die in der
Bundesrepublik Deutschland bisher dass Bundeskriminalamt als Sammel- und
Koordinationsstelle innehatte. Diese Aufwertung von Europol bedeutet einen
erheblichen Zentralisierungsschritt und verträgt sich nicht mit der föderalen Po-
lizeistruktur in der Bundesrepublik Deutschland.

Der Bericht macht zahlreiche Vorschläge zu einem deutlich erweiterten Daten-
austausch zwischen den europäischen und nationalen Sicherheitsbehörden und
zielt auf die Zusammenführung europäischer Datenbanken. Die Ziele der tech-
nischen Interoperabilität und Konvergenz zeigen, dass hier ein europaweiter
Informationsverbund entstehen soll. Ein solcher technischer Verbund stellt
Grundelemente des Datenschutzes wie die Vertraulichkeit, die Zweckbindung
und die Hoheit der erhebenden Behörde über die Daten infrage. Angesichts der
unterschiedlichen Sicherheitsarchitekturen der EU-Mitgliedstaaten gefährdet
ein umfassender Austausch auch das Trennungsgebot zwischen Polizei und Ge-
heimdiensten, einen der Grundpfeiler der bundesdeutschen Sicherheitsarchitek-
tur.

In zahlreichen technischen Bereichen wie etwa Videoüberwachung oder der
Überwachung der Internettelefonie werden ebenfalls Interoperabilität und Kon-
vergenz angestrebt. Die geforderte Vernetzung und integrierte Verwaltung be-
rücksichtigt die Stellung der Länder im Sicherheitssystem der Bundesrepublik
Deutschland und insbesondere im Bereich der Gefahrenabwehr nicht aus-
reichend. Es ist auch nicht zu erkennen, wie etwa die vom Bundesverfassungs-
gericht gesetzten Standards eingehalten werden sollen.

Für die Zukunft ist eine sehr viel engere Kooperation von Militär und Polizei
vorgesehen (Nummer 78 f.). Eine Verschmelzung von Polizei und Militär und
der Einsatz (para)militärischer Kräfte im Inland sind der deutschen Sicherheits-
architektur fremd.

Der Wunsch nach einer „stärkeren Synergie zwischen Polizei und den Nachrich-
tendiensten“ auf nationaler wie europäischer Ebene (Nummer 62) gefährdet
ebenfalls das Trennungsgebot zwischen Polizei und Geheimdiensten. Die etab-
lierten Formen der Geheimdienstkontrolle und des besonderen Grundrechts-
schutzes (z. B. G10-Kommission) könnten kaum aufrechterhalten werden, wenn
Erkenntnisse europäisch ausgetauscht werden.

An verschiedenen Stellen im Bericht (z. B. Kapitel VI sowie Nummern 48-50
der Zusammenfassung) ist von der untrennbaren Verbindung von Innen- und
Außenpolitik die Rede. Zwar ist die dargelegte Koordination im Bereich Sicher-
heit notwendig, eine Vermischung beider Aufgabenfelder ist jedoch falsch.
Dann droht die Vermengung polizeilicher und militärischer Aufgaben, ihrer
jeweiligen Rechtsgrundlagen und ihrer Entscheidungslogiken.

Im Zusammenhang mit der Außendimension der inneren Sicherheit ist von
einem „euro-atlantischen Raum der Zusammenarbeit“ die Rede (Nummer 50 der
Zusammenfassung). Das zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den
USA geschlossene Abkommen zum Datenaustausch steht nicht nur dieser ge-
meinsamen europäischen Idee entgegen, es ist auch ein Warnsignal, dass in ei-
nem solchen Raum dem Grundrechts- und Datenschutz nicht genüge getan wird.
In den Ausführungen hierzu im Bericht ist die Frage nach dem individuellen
Rechtsschutz vollkommen unbefriedigend beantwortet.

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