BT-Drucksache 16/1171

Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes

Vom 5. April 2006


Deutscher Bundestag Drucksache 16/1171
16. Wahlperiode 05. 04. 2006

Antrag
der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Markus Kurth, Britta Haßelmann,
Monika Lazar, Jerzy Montag, Claudia Roth (Augsburg), Elisabeth Scharfenberg,
Irmingard Schewe-Gerigk, Hans-Christian Ströbele, Wolfgang Wieland und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nichtigkeitserklärung des Erbgesundheitsgesetzes

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (Erbgesundheitsgesetz)
war das erste Rassegesetz des NS-Staats. Auf Grundlage dieses Gesetzes wur-
den hunderttausende Menschen zwangsweise sterilisiert. Das Erbgesundheits-
gesetz bildete den Auftakt für die Verfolgung behinderter Menschen, die im
Massenmord der so genannten Euthanasie gipfelte.

Das Leid der Zwangssterilisierten und „Euthanasie“-Geschädigten wurde in
Deutschland lange Zeit nicht angemessen gewürdigt. Die Betroffenen sehen
das Unrecht des Erbgesundheitsgesetzes bis heute nicht als ausreichend aner-
kannt an. Der Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten
e. V. ist mit einem Appell an die Fraktionen und Abgeordneten des Deutschen
Bundestages herangetreten, „das durch und durch rassistische nationalsozialis-
tische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses endlich und nach über
70 Jahren aufzuheben und für nichtig zu erklären“. Dieser Appell hat breite
gesellschaftliche Unterstützung gefunden. Zu den Unterstützern gehört auch
der Nationale Ethikrat.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

einen Vorschlag vorzulegen, wie der Gesetzgeber dem Anliegen des Bundes der
„Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e. V. gerecht werden kann.

Berlin, den 5. April 2006

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion
Begründung

Die Gesellschaft ist in der Pflicht, die Opfer von Zwangssterilisierung und
„Euthanasie“ vollständig zu rehabilitieren, die Überlebenden nach Kräften zu
unterstützen und die Erinnerung an das Unrecht wach zu halten.

Drucksache 16/1171 – 2 – Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode
In den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Nationalsozialismus waren die
Überlebenden aus diesem Personenkreis weiter Diskriminierung ausgesetzt.
Ihre Verfolgung wurde nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht aner-
kannt.

Erst in den 80er Jahren wurden erste Härteregelungen für alle im Nationalsozia-
lismus Zwangssterilisierten eingeführt. In den Jahren 2004 und 2005 ist es auf
Initiative von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gelungen, die Härteleistungen für
Zwangssterilisierte und „Euthanasie“-Geschädigte erheblich auszubauen. So
wurden beispielsweise die Leistungen für Personen, die Opfer von Zwangsste-
rilisierungen wurden, praktisch verdoppelt auf nunmehr 120 Euro monatlich.
Diese Leistungen sind einkommensunabhängig. Sie können freilich kein Aus-
gleich für das erlittene Unrecht sein, sondern sind eine Geste der Anerkennung
und Unterstützung.

Die formelle Gültigkeit des Erbgesundheitsgesetzes wurde – soweit es Bundes-
recht betraf – im Jahr 1974 mit dem Fünften Gesetz zur Reform des Strafrechts
aufgehoben. 1988 hat der Deutsche Bundestag festgestellt, dass die im Erbge-
sundheitsgesetz vorgesehenen und auf der Grundlage dieses Gesetzes während
der Zeit von 1933 bis 1945 durchgeführten Zwangssterilisierungen national-
sozialistisches Unrecht sind. Der Deutsche Bundestag hat diese Maßnahmen zu-
dem in der gleichen Entschließung geächtet.

Mit dem „Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erbge-
sundheitsgerichte“ von 1998 wurden die Beschlüsse, die von Gerichten auf-
grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ erlassen worden
waren, sämtlich pauschal aufgehoben.

Das waren wichtige Fortschritte. Angesichts des ungeheuren Unrechtsgehalts
des Erbgesundheitsgesetzes darf der Deutsche Bundestag aber nicht den ge-
ringsten Zweifel offen lassen, dass dieses Gesetz von Anfang als nichtig ange-
sehen werden muss.

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