BT-Drucksache 16/10944

Rehabilitierung für die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik und Entschädigung der Verurteilten

Vom 13. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10944
16. Wahlperiode 13. 11. 2008

Antrag
der Abgeordneten Dr. Barbara Höll, Wolfgang Neskovic, Karin Binder, Dr. Martina
Bunge, Roland Claus, Lutz Heilmann, Katja Kipping, Monika Knoche, Jan Korte,
Ulrich Maurer, Kornelia Möller, Kersten Naumann, Dr. Norman Paech, Petra Pau,
Bodo Ramelow, Dr. Petra Sitte, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Rehabilitierung für die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher
gleichgeschlechtlicher Handlungen in der Bundesrepublik Deutschland und der
Deutschen Demokratischen Republik und Entschädigung der Verurteilten

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Sowohl in der Bundesrepublik Deutschland als auch in der Deutschen Demokra-
tischen Republik wurden Männer wegen einvernehmlicher gleichgeschlecht-
licher sexueller Handlungen strafrechtlich verfolgt. Dies hat die Freiheit und die
Würde der Betroffenen beeinträchtigt und eine freie Entfaltung ihrer Persönlich-
keit unmöglich gemacht. Die Verfolgung einvernehmlicher gleichgeschlecht-
licher Beziehungen verstößt im Weiteren gegen die Europäische Menschenrechts-
konvention und nach aufgeklärtem Verständnis auch gegen das freiheitliche
Menschenbild des Grundgesetzes.

II. Der Deutsche Bundestag bedauert, dass das Recht der Bürger auf freie
sexuelle Selbstbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland und in der
Deutschen Demokratischen Republik dadurch und so lange verletzt wurde,
dass einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen zwischen
Männern mit Strafe bedroht waren. In diesem Zusammenhang besonders kri-
tikwürdig ist die Tatsache, dass in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969
sogar die strafverschärfende, nationalsozialistische Fassung der §§ 175 und
175a des Strafgesetzbuches (StGB) in Kraft blieb.

Ebenso bedauert der Deutsche Bundestag die Diskriminierung und Unterdrü-
ckung gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Frauen, die, obschon nicht
von Strafe bedroht, dennoch durch die restriktive heterosexuelle Norm der Ge-
sellschaft an der freien Entfaltung ihrer Sexualität gehindert wurden.

III. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,
einen Gesetzentwurf vorzulegen, der

1. alle Urteile nach den §§ 175 und 175a Nr. 4 StGB in der Fassung des Geset-
zes vom 28. August 1935 (RGBl. S. 839), soweit diese nicht bereits von dem
Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Straf-
rechtspflege erfasst sind, aufhebt und die ihnen zugrunde liegenden Verfah-
ren einstellt,

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2. alle Urteile, die in der Deutschen Demokratischen Republik zwischen 1950
und 1968 nach § 175 wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen zwi-
schen Männern ergangen sind, aufhebt und die ihnen zugrunde liegenden
Verfahren einstellt,

3. eine Regelung zur teilweisen Aufhebung dieser Urteile enthält, sofern einver-
nehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern nicht der einzige Grund
der Verurteilung waren und

eine Regelung zur Entschädigung der von der Strafverfolgung Betroffenen
enthält. Etwaige weitergehende Entschädigungsregelungen sollen davon un-
berührt bleiben.

Berlin, den 11. November 2008

Dr. Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Fraktion

Begründung

In dem traurigen Kapitel der Verfolgung und Unterdrückung gleichgeschlecht-
lichen Begehrens in Deutschland stellt die strafrechtliche Verfolgung einver-
nehmlicher sexueller Handlungen zwischen volljährigen Männern in der Bun-
desrepublik Deutschland, aber auch in der Deutschen Demokratischen Republik,
eine besonders düstere Episode dar. Es dauerte in der Deutschen Demokratischen
Republik bis 1968 und in der Bundesrepublik Deutschland bis 1969, bis einver-
nehmliche sexuelle Handlungen zwischen Männern straffrei wurden. Die unter-
schiedlichen Schutzaltersgrenzen für Homo- und Heterosexualität bestanden in
der Deutschen Demokratischen Republik bis 1988, in der Bundesrepublik
Deutschland sogar bis 1994 fort.

Mit der Bezeichnung und Verurteilung gleichgeschlechtlichen Begehrens durch
die Medizin, die Psychiatrie und später das Rechtswesen im 19. Jahrhundert
wurde gleichgeschlechtliches Begehren pathologisiert. Homosexuelle wurden
zu einer „Spezies“, die von der als normal geltenden Heterosexualität abgegrenzt
und kriminalisiert wurde. Erst hiermit wurden die Homosexuellen zu einer (kri-
minalisierbaren) gesellschaftlichen Gruppe (Michel Foucault, Der Wille zum
Wissen, Sexualität und Wahrheit, Band 1, Frankfurt a. M. 1977, S. 58).

1871 war der § 175 ins Strafgesetzbuch des Deutschen Reiches aufgenommen
worden, der „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen
Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird“, mit Gefängnis be-
drohte. Trotz aller Bemühungen in der Weimarer Republik, den § 175 zu Fall zu
bringen, gelang das bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht.

1935 verschärften die Nationalsozialisten den Paragraphen: Nicht nur das Straf-
maß wurde drastisch erhöht, schon der Versuch einer Kontaktaufnahme konnte
zu einer Strafverfolgung führen. Über 50 000 Männer wurden zwischen 1933
und 1943 verurteilt, ca. 6 000 von ihnen kamen in Konzentrationslager, etwa
60 Prozent überlebten die Qualen nicht (Lutz van Dijk/Günter Grau, Einsam war
ich nie, Berlin 2003). Frauen mit einem gleichgeschlechtlichen Begehren wur-
den zwar weder strafrechtlich noch systematisch verfolgt, doch bedeutete die
Propagierung der traditionellen Geschlechternormen durch die National-
sozialisten zur Stützung der heterosexistischen Gesellschaftsstruktur für sie,
dass sie gezwungen wurden, sich zu „maskieren“. In Einzelfällen waren sie
ebenfalls von Denunziation und anschließender Verfolgung bedroht (Claudia

Schoppman, Zeit der Maskierung, Berlin 1993).

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10944

Das Sexualverhalten veränderte sich in den Kriegsjahren, denn entgegen der
nationalsozialistischen Propaganda war ein heterosexuelles und auf die Fort-
pflanzung ausgerichtetes „gesittetes“ Eheleben nicht möglich. Daher war es in
beiden deutschen Staaten noch nicht entschieden, ob sich die Diskriminierung
des gleichgeschlechtlichten Begehrens unmittelbar fortsetzen sollte. Mit Beginn
der 1950er Jahre kam es zu einer Wiederbelebung restriktiver Geschlechter-
normen, wobei insbesondere die Homophobie durch christliche Gruppen ver-
stärkt in die bundesrepublikanische Gesellschaft getragen wurde, um „die
Sexualität wieder in jenen Rahmen der Ehe zurückzuführen, den sie im Zuge des
Dritten Reiches so unübersehbar verlassen hatte“ (Dagmar Herzog, Die Politi-
sierung der Lust, München 2005, S. 119).

Der Nationalsozialismus zerstörte die lebendige lesbische und schwule Kultur
der Weimarer Zeit. Die Infrastruktur des kulturellen Lebens und der Beratungs-
zentren war unwiederbringlich zerstört. Zudem waren die Menschen mit einem
gleichgeschlechtlichen Begehren eingeschüchtert und in ihrem Selbstverständ-
nis nach 1945 schwer verletzt. Auch die, die den Nationalsozialismus überlebten
und nicht zwangkastriert wurden, waren in ihrer Psyche gebrochen – aufgrund
der Verfolgung und Diskriminierung. Um so schlimmer wog, dass in beiden
deutschen Staaten der Wiederaufbau dieser Struktur, die für eine lesbische und
schwule Kultur so entscheidend war, verhindert wurde.

Die Deutsche Demokratische Republik kehrte bereits 1950 mit einem Urteil des
Kammergerichts Berlin zur Weimarer Fassung des § 175 zurück, behielt aller-
dings den § 175a in der Fassung von 1935 bei. 1968 wurden mit der Einführung
des § 151 im neuen Strafgesetzbuch einvernehmliche Handlungen zwischen
Erwachsenen bei Beibehaltung unterschiedlicher Jugendschutzgrenzen für he-
tero- und homosexuelle Kontakte legalisiert. Doch Lesben und Schwule wurden
weiterhin gesellschaftlich diskriminiert; ihnen war es nahezu unmöglich, als
Paar eine gemeinsame Wohnung zu finden; auch die Selbstorganisation wurde
ihnen untersagt, da ihnen das Recht genommen wurde, Vereine zu gründen. Das
normative Leitbild einer erfüllten Partnerschaft war monogam und heterosexuell
und schloss die Möglichkeit einer offenen schwulen wie lesbischen Beziehung
besonders in den 1950er und 1960er Jahren aus (Christian Schenk in: Lesben
und Schwule in der DDR, Heinrich-Böll-Stiftung Sachsen-Anhalt (Hg.), Halle
2008).

In der Bundesrepublik Deutschland blieb § 175 StGB bis 1969 unverändert in
Kraft. Allein in den ersten 15 Jahren ihrer Existenz wurden in der Bundesrepu-
blik Deutschland über 100 000 Ermittlungsverfahren nach § 175 StGB einge-
leitet, über 50 000 homosexuelle Männer wurden in den Jahren 1950 bis zur
Entschärfung des § 175 StGB 1969 verurteilt. Erst 1994 wurde der Paragraf
endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Über lesbisches Begehren wurde
beharrlich geschwiegen. Die Zerschlagung der lesbischen Kultur der Weimarer
Republik machte es für viele Frauen mit einem lesbischen Begehren schwierig,
ihre Liebe auch öffentlich zu leben; einige heirateten einen Mann, da eine Alter-
native zur Ehe weder strukturell noch gesellschaftlich vorstellbar war (Kirsten
Plötz in: In Bewegung bleiben, Gabriele Dennert, Christiane Leidinger, Fran-
ziska Rauchut (Hg.), Berlin 2008).

Mit dem Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der
Strafrechtspflege und von Sterilisationsentscheidungen der ehemaligen Erb-
gesundheitsgerichte vom 25. August 1998 wurden nicht zugleich die Urteile
nach § 175 StGB pauschal für Unrecht erklärt. Zwar bot die Generalklausel die
Möglichkeit, solche Urteile durch Einzelfallentscheidung aufheben zu lassen,
aber die Anerkenntnis, dass die Verurteilten grundsätzlich in ihren Menschen-
rechten verletzt worden waren, fehlte. Daher ersuchte der Deutsche Bundestag

mit Beschluss auf Bundestagsdrucksache 14/4894 am 7. Dezember 2000 die
Bundesregierung ein entsprechendes Gesetz vorzulegen. Gleichzeitig bekannte

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er, „dass durch die nach 1945 weiter bestehende Strafdrohung homosexuelle
Bürger in ihrer Menschenwürde verletzt worden sind.“

Auf Initiative der damaligen Koalitionsfraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN beschloss der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2002 das Gesetz zur
Änderung des Gesetzes zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in
der Strafrechtspflege (NS-AufhGÄndG). Damit wurden die §§ 175 und 175a
Nr. 4 RStGB in die Liste der Gesetze aufgenommen, auf deren Grundlage Urteile
„unter Verstoß gegen elementare Gedanken der Gerechtigkeit […] zur Durch-
setzung oder Aufrechterhaltung des nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus
politischen, militärischen, rassischen, religiösen oder weltanschaulichen Grün-
den ergangen sind“, und pauschal aufgehoben.

In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte
(EGMR) ist anerkannt, dass eine strafrechtliche Verfolgung einvernehmlicher
homosexueller Handlungen zwischen Männern menschenrechtswidrig ist.
Erstmals 1981 (Dudgeon gegen Vereinigtes Königreich, EGMR, NJW 1984,
541) und seither in ständiger Rechtsprechung (Norris gegen Irland, EuGRZ
1992, 477; Modinos gegen Zypern, ÖJZ 1993, 821) hat der EGMR festgestellt,
dass eine Strafbedrohung einvernehmlicher homosexueller Handlungen zwi-
schen Erwachsenen die seit 1952 gültige Europäische Menschenrechtskon-
vention, insbesondere das in Artikel 8 garantierte Recht auf Achtung des Pri-
vatlebens, verletzt.

Dem Gesetzgeber kann es schon im Hinblick auf die Europäische Menschen-
rechtskonvention und ihre Auslegung durch den EGMR nicht versagt sein, eine
pauschale Aufhebung der auf § 175 StGB beruhenden Urteile zu beschließen.

Den Verurteilten sind aufgrund des erlittenen Unrechts schwere physische,
psychische und Vermögensschäden entstanden. Dies rechtfertigt es, den Betrof-
fenen eine angemessene Entschädigung zu leisten. Auch der EGMR hat regel-
mäßig Länder wegen der Verfolgung von einvernehmlichen homosexuellen
Handlungen zwischen Männern zu Entschädigungen verurteilt und dies auch
„nur“ bei Vorliegen einer unterschiedlichen Schutzaltersgrenze bei homo- und
heterosexuellen Sexualkontakten (L. und V. gegen Österreich, nos. 39392/98
und 39829/98 (Sect. 1) (bil.), ECHR 2003-I – (9. Januar 2003); Woditschka
und Wilfling gegen Österreich, nos. 69756/01 und 6306/02 (Sect. 1) (Eng) –
(21. Oktober 2004); H. G. und G. B. gegen Österreich, nos. 11084/02 und
15306/02 (Sect. 1) (Eng) – (2. Juni 2005); F. L. gegen Österreich 2005).

In einem langwierigen Prozess hat der Deutsche Bundestag Stück für Stück ein-
gestanden, dass die Verfolgung und Unterdrückung einvernehmlicher gleichge-
schlechtlicher Handlungen unter Erwachsenen ein Unrecht und eine Verletzung
grundlegender Menschenrechte war. Im Nachhinein wird grundsätzlich keine
Rehabilitierung und Entschädigung für Verurteilungen gewährt, nur weil aus ge-
änderter Erkenntnis die Strafbarkeit beseitigt wird. Dies kann aber hier nicht gel-
ten, weil volljährigen Männern ein Leben lang ein Grundrecht entzogen wird
und sie bei Verletzung bestraft werden. Die Rehabilitierung und Entschädigung
ist deshalb notwendig. Es ist an der Zeit, auch die letzten Konsequenzen aus die-
ser Erkenntnis zu ziehen und die Opfer rechtlich und moralisch zu rehabilitieren
und materiell zu entschädigen, damit ein deutliches Zeichen gesetzt wird, dass
die erkämpfte sexuelle Vielfalt der heutigen Zeit ein errungener Wert ist, der auf
den Menschrechten beruht.

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