BT-Drucksache 16/10841

Historische Chance des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nutzen

Vom 12. November 2008


Deutscher Bundestag Drucksache 16/10841
16. Wahlperiode 12. 11. 2008

Antrag
der Abgeordneten Markus Kurth, Kerstin Andreae, Marieluise Beck (Bremen),
Volker Beck (Köln), Birgitt Bender, Ekin Deligöz, Priska Hinz (Herborn), Thilo
Hoppe, Monika Lazar, Kerstin Müller (Köln), Omid Nouripour, Claudia Roth
(Augsburg), Elisabeth Scharfenberg, Christine Scheel, Irmingard Schewe-Gerigk,
Silke Stokar von Neuforn, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Jürgen Trittin und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Historische Chance des VN-Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen nutzen

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Die Bundesrepublik Deutschland hat am 30. März 2007 das Übereinkommen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie das dazugehörige
Fakultativprotokoll (A/RES/61/106) der Vereinten Nationen (VN) unter-
zeichnet. Die Bundesrepublik Deutschland gehörte somit zu einem der ersten
79 Länder, die mit der Unterzeichnung die Absicht bekundeten, die nationale
Gesetzgebung so auszurichten, dass Menschen unabhängig von der Art und
vom Schweregrad ihrer Behinderung als vollwertige und gleichberechtigte
Bürger ihres Landes anerkannt werden.

Die Verhandlungen um das Übereinkommen fielen in eine Zeit, in der wichtige
Meilensteine auf dem Weg zu gleichberechtigter Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen in der Bundesrepublik Deutschland gelegt wurden. Mit der
Schaffung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), des Neunten Buches
Sozialgesetzbuch (SGB IX) und des horizontalen Ansatzes in der Antidiskrimi-
nierungsgesetzgebung hatte die Bundesrepublik Deutschland international eine
Vorreiterrolle inne.

Die Ratifizierung des Übereinkommens eröffnet nun eine historische Chance
zur konsequenten Fortentwicklung dieser Politik. Das Übereinkommen ist somit
auch Ausdruck eines langjährig angestoßenen Paradigmenwechsels in der Be-
hindertenpolitik. Auch wenn das deutsche Recht für Menschen mit Behinderun-
gen im internationalen Vergleich eine gute Position einnimmt, steht die deutsche
Rechtsordnung durch das Übereinkommen vor großen Herausforderungen.

Die nun vorliegende deutsche Übersetzung des Übereinkommens sowie die
dazugehörige Denkschrift der Bundesregierung gefährden den beschriebenen
Paradigmenwechsel. Beide Dokumente der Bundesregierung verkleinern – in
den nun vorliegenden Fassungen – die große Chance auf eine Fortentwicklung
der Rechte für Menschen mit Behinderungen.

Ganz besonders deutlich zeigt sich dies in den Bereichen der Rechts- und Hand-
lungsfähigkeit behinderter Menschen, der selbstbestimmten Teilhabe sowie bei

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dem Recht auf inklusive Bildung. So gibt es ganz offensichtlich einen Konflikt
zwischen dem in der Konvention beschriebenen Recht auf gleiche Anerkennung
als rechts- und handlungsfähige Person und dem bestehenden Konzept der recht-
lichen Vertretung im deutschen Recht.

Zudem erteilt die Konvention der räumlichen Trennung von behinderten und
nichtbehinderten Menschen eine Absage. Die Denkschrift hingegen erwähnt
zwar das Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 Abs. 1 SGB IX) bei der Entscheidung
über Leistungen und bei der Ausführung von Leistungen zur Teilhabe. Was sie
aber nicht benennt, ist der grundsätzliche Konflikt zwischen dem Vorrang der
ambulanten Leistung und dem so genannten Mehrkostenvorbehalt (§ 13 Abs. 1
Satz 3 SGB XII). Letzterer beschränkt das Wunsch- und Wahlrecht, wenn eine
stationäre Leistung zumutbar ist und die ambulante unverhältnismäßig teurer
wäre.

Außerdem ist das deutsche Bildungssystem bislang von der Idee und der Praxis
der Aussonderung geprägt. Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen
mit Behinderungen verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zur Errichtung eines in
Bezug auf Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen inklusiven Schul-
systems, in dem der gemeinsame Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit
und ohne Behinderungen der Regelfall ist. Die Bundesregierung übersetzt das
Wort „inclusion“ fälschlicher Weise mit „Integration“ und engt den Begriff der
inklusiven Beschulung in ihrer Denkschrift ein. Nach ihrer Auffassung sei „inte-
grative Bildung“ nur möglich, „wenn dort die notwendige sonderpädagogische
und auch sächliche Unterstützung sowie die räumlichen Voraussetzungen ge-
währleistet“ seien.

Fernab der inhaltlichen Fehler der Übersetzung und der Denkschrift wird die
Ausgestaltung des Umsetzungsinstrumentariums wesentlich darüber entschei-
den, wie die Vorgaben des Übereinkommens ins deutsche Recht umgesetzt wer-
den. Die Konvention sieht insgesamt vier zentrale Instrumente vor, um inner-
staatliche Anpassungen und Gesetzesänderungen vorzunehmen. So soll eine
Stelle eingerichtet werden, die für die Förderung, den Schutz und die Über-
wachung des Übereinkommens zuständig ist; so genannte „Focal Points“ im
Sinne von Verantwortungsträgern an hochrangiger Stelle (within government)
sollen in der Bundesregierung und den Landesregierungen eingerichtet werden;
ein Koordinationsmechanismus zum Austausch mit zivilgesellschaftlichen
Akteuren ist vorgesehen sowie die regelmäßige Berichterstattung über den
Stand der Umsetzung an den VN-Fachausschuss.

II. Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf,

1. die zwischen den einzelnen Staaten abgestimmte deutsche Übersetzung zu
überarbeiten und die zentralen Übersetzungsfehler zu beheben,

2. die Denkschrift so zu ändern, dass sie Zielkonflikte zwischen deutschem und
internationalem Recht aufzeigt und Änderungsnotwendigkeiten offenlegt,

3. dafür Sorge zu tragen, dass die in dem Übereinkommen vorgesehenen Instru-
mente zur Umsetzung vollumfänglich angewendet werden.

Berlin, den 12. November 2008

Renate Künast, Fritz Kuhn und Fraktion

Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode – 3 – Drucksache 16/10841

Begründung

Die Forderungen an die Bundesregierung werden wie folgt begründet:

Zu Nummer 1

Die zwischen den Staaten abgestimmte deutsche Übersetzung der Konvention
ist fehlerhaft. Dies liegt wohl auch daran, dass Menschen mit Behinderungen
und deren Organisationen zwar angehört, jedoch nicht regelmäßig in den Über-
setzungsprozess einbezogen wurden. Exemplarisch für die Übersetzungsfehler
gelten die Bereiche der Beschulung, des selbstbestimmten Lebens und der
Barrierefreiheit.

Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert in
ihrer Originalausfertigung ein Recht auf „inclusive education“ (Artikel 24). Die
deutschsprachige Fassung spricht in diesem Zusammenhang von einem Recht
auf „integrative Bildung“. Integration und Inklusion sind nicht als Synonyme
anzusehen. Während Integration von einer Anpassung des behinderten Kindes
an das bestehende Bildungssystem ausgeht, muss sich nach dem Inklusions-
konzept das Bildungssystem an den Bedürfnissen des einzelnen Kindes orientie-
ren. In der internationalen Menschenrechtsdebatte ist der Wandel vom Integra-
tions- zum Inklusionskonzept schon lange vollzogen worden. So ist er etwa
vom VN-Kinderrechtsausschuss bereits im Jahr 1997 ausdrücklich beschrieben
worden.

Ebenso falsch ist die Übersetzung von „living independently“ als „unabhängige
Lebensführung“ statt als „selbstbestimmt leben“. Der Begriff „Selbstbestim-
mung“ kommt in der Übersetzung nicht ein einziges Mal vor. Auch der Begriff
der „Barrierefreiheit“ wird nicht aufgenommen. „Accessibility“ wird durch-
gängig mit „Zugänglichkeit“ übersetzt.

Zu Nummer 2

Die Denkschrift zum Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen versäumt es, Zielkonflikte zwischen deutschem und internatio-
nalem Recht aufzuzeigen sowie Änderungsnotwendigkeiten vorzustellen. Zwar
haben Denkschriften zu Vertragsgesetzen einen nur erläuternden Charakter und
sind als reine Willensbekundung der Bundesregierung als dem vertragsschlie-
ßenden Organ der Bundesrepublik Deutschland anzusehen. Auch haben Denk-
schriften keine unmittelbare rechtliche Bedeutung. Dennoch ist nicht auszu-
schließen, dass sie wenigstens im Entscheidungsfindungsprozess eines gericht-
lichen Verfahrens beeinflussenden Charakter haben.

Exemplarisch für die Zielkonflikte und Änderungsnotwendigkeiten können die
Artikel 12 (Gleichberechtigte Anerkennung als rechtsfähige Person) und 13
(Zugang zur Justiz), Artikel 19 (Unabhängige Lebensführung und Teilhabe an
der Gemeinschaft) sowie Artikel 24 (Bildung) herangezogen werden.

Diese Herausforderungen und Zielkonflikte scheint die Bundesregierung in
ihrer Denkschrift zu negieren. In Antwort auf die schriftliche Frage 51 des Ab-
geordneten Markus Kurth erklärt die Bundesregierung, dass das Bundeskabinett
nach Ratifizierung der Konvention keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf
sieht, da die deutsche Rechtslage nach ihrer Auffassung den Anforderungen des
Übereinkommens entspreche (Bundestagsdrucksache 16/10520).

Zu Nummer 3

Die Konvention sieht vier Instrumente vor, um innerstaatliche Anpassungen und
Gesetzesänderungen vorzunehmen. Nach Artikel 33 des Übereinkommens wird
auf nationaler Ebene eine Stelle eingerichtet, die für die Förderung, den Schutz
und die Überwachung des Übereinkommens zuständig ist. Nach Auskunft der

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Bundesregierung wird das Deutsche Institut für Menschenrechte für diese Auf-
gaben mandatiert.

Darüber hinaus sieht das Übereinkommen so genannte „Focal Points“ im Sinne
von Verantwortungsträgern in der Bundesregierung und den Landesregierungen
vor sowie Koordinationsmechanismen zum Austausch mit zivilgesellschaft-
lichen Akteuren.

Leider ist die deutsche Übersetzung des Übereinkommens auch in diesem Punkt
nicht ganz korrekt, da die Übersetzung „Anlaufstelle“ für „Focal Points“ die
Frage der institutionellen Zuordnung, d. h. dass diese Stelle innerhalb der jewei-
ligen Regierungen sein muss, umgeht. Der Koordinationsmechanismus muss
dazu dienen, Transparenz nach außen herzustellen und auf diesem Wege ein
Forum für Austausch und Diskussion mit der Zivilgesellschaft zu schaffen.
Artikel 35 des Übereinkommens verpflichtet die Vertragsstaaten zudem, zwei
Jahre nach der Ratifizierung einen Bericht über den Umsetzungsstand des Über-
einkommens zu erstellen und an den Ausschuss nach Artikel 34 zu übermitteln.

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