BT-Drucksache 15/2576

Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

Vom 2. März 2004


Deutscher Bundestag Drucksache 15/2576
15. Wahlperiode 02. 03. 2004

Gesetzentwurf
der AbgeordnetenWolfgang Bosbach, Dr. Norbert Röttgen, Hartmut Koschyk,
Dr. Wolfgang Götzer, Dr. Jürgen Gehb, Ute Granold, Michael Grosse-Brömer,
VolkerKauder, SiegfriedKauder (BadDürrheim), Dr. GünterKrings,RonaldPofalla,
Daniela Raab, Thomas Silberhorn, Andreas Schmidt (Mülheim), Andrea
Voßhoff, MarcoWanderwitz, IngoWellenreuther, Wolfgang Zeitlmann, Thomas
Strobl (Heilbronn), Günter Baumann, Clemens Binninger, Hartmut Büttner
(Schönebeck), Norbert Geis, Roland Gewalt, Ralf Göbel, Reinhard Grindel,
Kristina Köhler (Wiesbaden), Dorothee Mantel, Erwin Marschewski
(Recklinghausen), Stephan Mayer (Altötting), Beatrix Philipp, Dr. Ole Schröder
und der Fraktion der CDU/CSU

Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren
Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung
in der Sicherungsverwahrung

A. Problem
Furchtbare Verbrechen, die von einschlägig vorbestraften Personen begangen
werden, machen immer wieder deutlich, dass der Schutz der Allgemeinheit vor
solchen Taten verbessert werden muss.
Der Schutz vor solchen Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Frei-
heitsstrafen schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit,
die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrschein-
lichkeit zu erwarten sind, stellt ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar. Die-
sen Schutz durch geeignete Mittel zu gewährleisten, ist Aufgabe des Staates (so
das BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2004, 2 BvR 834/02 und 2 BvR 1588/02,
S. 77).
Täter, die die formellen Voraussetzungen für die Anordnung der Sicherungsver-
wahrung erfüllen, deren besondere Gefährlichkeit sich aber erst während der
Haft zeigt, müssen derzeit nach Verbüßung der Freiheitsstrafe entlassen werden.
Der Schutz der Bevölkerung ist so nicht gewährleistet. Das Gesetz zur Einfüh-
rung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21. August 2002 (BGBl. I
S. 3344) greift, wenn – angesichts seines beschränkten Anwendungsbereichs –
überhaupt, frühestens in einigen Jahren. Nachdem das Bundesverfassungsge-
richt die Bundeskompetenz für die Regelung der nachträglichen Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bejaht hat (BVerfG, a. a. O.), bleibt
für landesgesetzliche Regelungen kein Raum. Bestehende landesgesetzliche Re-
gelungen, die den notwendigen Schutz gewährleisten sollten, sind vom Bundes-
verfassungsgericht für mit demGrundgesetz unvereinbar erklärt worden.Mit der
Anordnung der Fortgeltung dieser Landesgesetze für eineÜbergangszeit bis zum

Drucksache 15/2576 – 2 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

30. September 2004 hat das Gericht die Notwendigkeit solcher Regelungen un-
terstrichen. Es bedarf einer bundesgesetzlichen Regelung, bevor diese Über-
gangsfrist abläuft.
Bei Tätern, die extrem gefährlich sind, bisher jedoch erst eine gravierende Straf-
tat begangen haben, ist die Anordnung von Sicherungsverwahrung bisher ausge-
schlossen.
Bei Heranwachsenden ist die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch dann
nicht möglich, wenn Erwachsenenstrafrecht zu Anwendung kommt. Nach dem
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember
2003 (BGBl. I S. 1074, 1319) kann Sicherungsverwahrung – zudem nur in ge-
genüber Erwachsenen äußerst eingeschränktem Umfang – lediglich vorbehalten
werden.

B. Lösung
l Nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

– auch ohneVorbehalt –, wenn sichwährend der Haft ergibt, dass der Täter für
die Allgemeinheit gefährlich ist, weil von ihm schwerste Straftaten zu erwar-
ten sind, namentlich solche, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich
schwer geschädigt werden;

l nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
auch gegen Ersttäter, bei denen die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB
nicht vorliegen, sich aber während der Haft ergibt, dass diese mit hoherWahr-
scheinlichkeit erneut besonders schwer wiegende Taten, durch die die Opfer
seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, begehen werden;

l Anordnungsverfahren: Beschluss der Strafvollstreckungskammer nach vor-
heriger mündlicher Anhörung des Verurteilten, der Staatsanwaltschaft und
der Justizvollzugsanstalt unter Mitwirkung des Verteidigers sowie nach obli-
gatorischer Einholung zweier externer Sachverständigengutachten, die die
Sachverständigen in einem gemeinsamen Termin mündlich zu erstatten ha-
ben;

l Überführung der nach landesrechtlichenRegelungen untergebrachten Straftä-
ter in die nachträgliche Sicherungsverwahrung;

l Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen Heranwachsende, sofern auf
sie allgemeines Strafrecht Anwendung findet.

C. Alternativen
Keine

D. Kosten
Durch die vermehrte Anordnung von Sicherungsverwahrung werden für den
Strafvollzug bei den LändernMehrkosten entstehen. Weitere zusätzliche Kosten
werden durch die obligatorische Anordnung von Gutachten anfallen.

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 3 – Drucksache 15/2576

Entwurf eines Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung vor schweren
Wiederholungstaten durch nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung

Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:

Artikel 1
Änderung des Strafgesetzbuches

Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung
vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), zuletzt geändert
durch…, wird wie folgt geändert:
1. In der Inhaltsübersicht wird in der Angabe zu § 66a das

Wort „Vorbehalt“ durch die Wörter „Nachträgliche An-
ordnung“ ersetzt.

2. § 66a wird wie folgt gefasst:
㤠66a

Nachträgliche Anordnung
der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

(1) Ergibt sich während des Vollzugs der verhängten
Freiheitsstrafe, dass der Täter für die Allgemeinheit ge-
fährlich ist, weil von ihm erhebliche Straftaten im Sinne
des § 66 Abs. 1 Nr. 3 zu erwarten sind, kann das Gericht
nachträglich die Sicherungsverwahrung anordnen, wenn
die sonstigen Voraussetzungen für die Anordnung der
Sicherungsverwahrung gemäß § 66 gegeben sind.
(2) Die Sicherungsverwahrung kann unabhängig von

den Voraussetzungen des § 66 nachträglich angeordnet
werden, wenn sich während des Vollzugs einer Freiheits-
strafe von mindestens vier Jahren wegen einer oder meh-
rerer Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unver-
sehrtheit oder die sexuelle Selbstbestimmung oder nach
den §§ 239a, 239b, 250 oder 251, auch in Verbindung mit
den §§ 252 oder 255, ergibt, dass der Täter mit hoher
Wahrscheinlichkeit erneut solche Taten begehen wird,
durch die die Opfer seelisch oder körperlich schwer ge-
schädigt werden.“

Artikel 2
Änderung des Jugendgerichtsgesetzes

§ 106 Abs. 2 des Jugendgerichtsgesetzes in der Fassung
der Bekanntmachung vom 11. Dezember 1974 (BGBl. I
S. 3427), das zuletzt durch ... geändert worden ist, wird wie
folgt geändert:
1. Satz 1 wird aufgehoben.
2. In Satz 2 wird dasWort „Er“ durch dieWörter „Der Rich-

ter“ ersetzt.

Artikel 3
Änderung des Gesetzes zur Änderung der

Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung und zur Änderung anderer

Vorschriften
Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straf-

taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Ände-
rung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003 (BGBl. I
S. 3007) wird wie folgt geändert:
Die Artikel 5 und 6 werden aufgehoben.

Artikel 4
Änderung der Strafprozessordnung

Die Strafprozessordnung in der Fassung der Bekanntma-
chung vom 7. April 1987 (BGBl. I S. 1074, 1319), zuletzt ge-
ändert durch…, wird wie folgt geändert:
1. In der Inhaltsübersicht wird in den Angaben zum Zweiten

Buch die Angabe „Siebenter Abschnitt. Verfahren über
die Entscheidung des Vorbehalts der Sicherungsverwah-
rung § 275a“ gestrichen.

2. In § 246a Satz 1 werden die Wörter „oder vorbehalten“
gestrichen.

3. In § 260 Abs. 4 Satz 4 werden die Wörter „Entscheidung
über die Sicherungsverwahrung vorbehalten, die“ gestri-
chen.

4. In § 267 Abs. 6 wird Satz 1 wie folgt gefasst:
„Die Urteilsgründe müssen auch ergeben, weshalb eine
Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet oder
einem in der Verhandlung gestellten Antrag entgegen
nicht angeordnet worden ist.“

5. § 268d wird aufgehoben.
6. Im Zweiten Buch wird der Siebente Abschnitt aufgeho-

ben.
7. § 454 Abs. 2 wird wie folgt geändert:

a) Satz 3 wird wie folgt gefasst:
„Der Sachverständige ist mündlich zu hören.“

b) Nach Satz 3 werden folgende Sätze eingefügt:
„Der Verurteilte, sein Verteidiger, die Staatsanwalt-
schaft und die Vollzugsanstalt sind von demTermin zu
benachrichtigen.Auf dieVerlegung eines Terminswe-
gen Verhinderung haben sie keinen Anspruch. Ihnen
ist im Termin Gelegenheit zu geben, Fragen an den
Sachverständigen zu stellen und Erklärungen abzuge-
ben.“

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8. Nach § 456a wird folgender § 456b eingefügt:
㤠456b

Verfahren bei nachträglicher Anordnung der
Unterbringung in der Sicherungsverwahrung

(1) Die Entscheidung über die nachträgliche Anord-
nung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung
(§ 66a des Strafgesetzbuches) trifft das Gericht durch Be-
schluss.
(2) Vor der Entscheidung sind der Verurteilte, die

Staatsanwaltschaft und die Vollzugsanstalt mündlich zu
hören, wobei dem Verteidiger Gelegenheit zur Mitwir-
kung zu geben ist.
(3) Das Gericht holt Gutachten von zwei Sachverstän-

digen über den Verurteilten ein, wenn es erwägt, die Un-
terbringung des Verurteilten in der Sicherungsverwah-
rung nachträglich anzuordnen. Die Gutachter sollen im
Rahmen des Strafvollzuges nicht mit der Behandlung des
Verurteilten befasst gewesen sein. Einer der Gutachter
kann in der Strafvollzugsanstalt, in der der Verurteilte in-
haftiert ist, regelmäßig tätig gewesen sein. Die Sachver-
ständigen sind in einem gemeinsamen Termin mündlich
zu hören. Der Verurteilte, sein Verteidiger und die Staats-
anwaltschaft sind von dem Termin zu benachrichtigen.
Ihnen ist im Termin Gelegenheit zu geben, Fragen an die
Sachverständigen zu stellen und Erklärungen abzugeben.
(4) Der Beschluss ist mit sofortiger Beschwerde an-

fechtbar.
(5) § 453c Abs. 1 und 2 Satz 2 ist sinngemäß anzuwen-

den.“
9. In § 462a Abs. 1 Satz 1 werden nach der Angabe „454a“

ein Komma und die Angabe „456b“ eingefügt.

Artikel 5
Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes

In § 78b Abs. 1 Nr. 1 des Gerichtsverfassungsgesetzes in
der Fassung der Bekanntmachung vom 9. Mai 1975 (BGBl. I
S. 1077), das zuletzt durch…geändert worden ist, werden
nach dem Wort „Sicherungsverwahrung“ die Wörter „oder
die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung“ eingefügt.

Artikel 6
Änderung des Einführungsgesetzes zum

Strafgesetzbuch
Artikel 1a des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch

vom 2. März 1974 (BGBl. I S. 469), das zuletzt durch … ge-
ändert worden ist, wird aufgehoben.

Artikel 7
Änderung des Bundeszentralregistergesetzes
Das Bundeszentralregistergesetz in der Fassung der Be-

kanntmachung vom 21. September 1984 (BGBl. I S. 1229,
1985 I S. 195), zuletzt geändert durch …, wird wie folgt ge-
ändert:

1. In § 5 Abs. 1 Nr. 7 werden die Wörter „oder vorbehalte-
nen“ gestrichen.

2. In § 12 Abs. 1 Nr. 9 werden die Wörter „Entscheidungen
über eine vorbehaltene“ durch die Wörter „die nachträg-
liche Anordnung der Unterbringung in der“ ersetzt.

3. In § 32 Abs. 2 Nr. 11 wird das Komma durch einen Punkt
ersetzt. Die folgende Nummer 12 wird gestrichen.

Artikel 8
Änderung des Gerichtskostengesetzes

Anlage 1 zum Gerichtskostengesetz in der Fassung der
Bekanntmachung vom 15. Dezember 1975 (BGBl. I
S. 3047), das zuletzt durch … geändert worden ist, wird wie
folgt geändert:
1. In Nummer 6110 Buchstabe c wird der Satz „Die Gebühr

entsteht auch bei Anordnung der Sicherungsverwahrung
im Verfahren nach § 275a StPO.“ gestrichen.

2. Im Teil 6 wird im Hauptabschnitt I nach dem Abschnitt 3
folgender Abschnitt eingefügt:
„4. Verfahren über die nachträglich angeordnete Siche-

rungsverwahrung (§ 456b StPO) 6140 Beschluss,
durch den die Sicherungsverwahrung angeordnet
wird… 41,00 EUR“.

Artikel 9
Änderung der Bundesgebührenordnung für

Rechtsanwälte
Die Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte in der im

Bundesgesetzblatt Teil III, Gliederungsnummer 368-1, ver-
öffentlichten bereinigten Fassung, zuletzt geändert durch…,
wird wie folgt geändert:
1. § 87 Satz 3 wird gestrichen.
2. Nach § 92 wird folgender § 92a eingefügt:

㤠92a
Gerichtliche Entscheidung der Strafvollstreckungs-

kammer
Der Rechtsanwalt erhält als Verteidiger im Verfahren

über die Entscheidung über die nachträgliche Sicherungs-
verwahrung (§ 456b StPO) eine Gebühr von 60 bis
780 Euro. Im Verfahren über die Beschwerde gegen die
Entscheidung erhält der Rechtsanwalt die Gebühr beson-
ders.“

3. In § 97 Abs. 1 wird nach Satz 3 folgender Satz eingefügt:
„Das Fünffache der Mindestgebühr erhält der Rechtsan-
walt auch in den Fällen des § 92a.“

Artikel 10
Übergangsregelung

Ist gegen einen Täter auf Grundlage des baden-württem-
bergischen Gesetzes über die Unterbringung besonders rück-
fallgefährdeter Straftäter vom 14. März 2001 (GBl. BW
S. 188), des Bayerischen Gesetzes zur Unterbringung von
besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern
vom 24. Dezember 2001 (BayGVBl. S. 978), des Gesetzes

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 5 – Drucksache 15/2576

des Landes Sachsen-Anhalt über die Unterbringung beson-
ders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher
Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom
6. März 2002 (GVBl. LSA S. 80), des Thüringer Gesetzes
über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straf-
täter vom 17. März 2003 (ThüGVBl. S. 195) oder des Nie-
dersächsischen Gesetzes über die Unterbringung besonders
gefährlicher Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für
die öffentliche Sicherheit vom 30. Oktober 2003 (Nds.

GVBl. 2003, S. 368) die Unterbringung angeordnet worden,
gilt § 66a StGB entsprechend. Das Anordnungsverfahren ist
bis zum 30. September 2004 abzuschließen.

Artikel 11
Inkrafttreten

Dieses Gesetz tritt am Tage nach der Verkündung in Kraft.

Berlin, den 2. März 2004

Wolfgang Bosbach
Dr. Norbert Röttgen
Hartmut Koschyk
Dr. Wolfgang Götzer
Dr. Jürgen Gehb
Ute Granold
Michael Grosse-Brömer
Volker Kauder
Siegfried Kauder (Bad Dürrheim)
Dr. Günter Krings
Ronald Pofalla
Daniela Raab
Thomas Silberhorn
Andreas Schmidt (Mülheim)
Andrea Voßhoff
MarcoWanderwitz
IngoWellenreuther
Wolfgang Zeitlmann
Thomas Strobl (Heilbronn)
Günter Baumann
Clemens Binninger
Hartmut Büttner (Schönebeck)
Norbert Geis
Roland Gewalt
Ralf Göbel
Reinhard Grindel
Kristina Köhler (Wiesbaden)
DorotheeMantel
ErwinMarschewski (Recklinghausen)
StephanMayer (Altötting)
Beatrix Philipp
Dr. Ole Schröder
Dr. AngelaMerkel, Michael Glos und Fraktion

Drucksache 15/2576 – 6 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

Begründung

A. Allgemeines
1. Der Schutz vor solchenVerurteilten, von denen auch nach

Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen schwere Straftaten ge-
gen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Frei-
heit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit ho-
herWahrscheinlichkeit zu erwarten sind, stellt ein überra-
gendes Gemeinwohlinteresse dar. Diesen Schutz durch
geeignete Mittel zu gewährleisten, ist Aufgabe des Staa-
tes (so das BVerfG, Urteil vom 10. Februar 2004, 2 BvR
834/02 und 2 BvR 1588/02, S. 77).
Ergibt sich die besondereGefährlichkeit eines schuldfähi-
gen Straftäters erst während des Strafvollzugs und ist des-
halb die Anordnung der von den formellen Voraussetzun-
gen her möglichen Sicherungsverwahrung durch das er-
kennende Gericht unterblieben, sind daher Mechanismen
erforderlich, um den im Strafvollzug gewonnenen Er-
kenntnissen Rechnung zu tragen und den Schutz der Be-
völkerung zu gewährleisten. Die geltende Rechtslage ge-
währleistet diesen Schutz nicht.

2. Das Gesetz vom 21. August 2002 zur Einführung der vor-
behaltenen Sicherungsverwahrung (BGBl. I S. 3344) leis-
tet keinen wirksamen Beitrag zur Problemlösung. Es
bleibt weit hinter den Erfordernissen zurück. Nach die-
sem Gesetz besteht die Möglichkeit der Verhängung
nachträglicher Sicherungsverwahrung nämlich nur dann,
wenn bereits das Tatgericht bei der Verurteilung eine
nachträgliche Anordnung vorbehält. All diejenigen Straf-
täter, die derzeit in den Justizvollzugsanstalten einsitzen
und deren Gefährlichkeit sich jetzt herausstellt, werden
nicht erfasst. Das Gesetz greift damit frühestens in eini-
gen Jahren und auch nur dann, wenn ein Vorbehalt vom
Gericht ausgesprochen worden ist. Außerdem ist der An-
wendungsbereich des Gesetzes in nicht hinnehmbarer
Weise eingeschränkt. Indem das Gesetz die Möglichkeit
nachträglicher Anordnung der Sicherungsverwahrung
auf die Fälle des § 66 Abs. 3 StGB beschränkt, nimmt es
jeden gefährlichen Straftäter, der noch nicht zu einer Frei-
heitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden
ist, von der nachträglichen Anordnung der Sicherungs-
verwahrung aus, unabhängig davon, welche erheblichen
Straftaten in der Zukunft zu erwarten sind.

3. Die einschlägigenBestimmungen in denUnterbringungs-
gesetzen der Länder bieten regelmäßig keine Handhabe
gegen zur Entlassung anstehende hochgefährliche Straf-
täter, bei denen zwar eine schwere Persönlichkeitsstö-
rung, jedoch keine psychische Erkrankung besteht, deren
Vorliegen zu einer Unterbringung in einem psychiatri-
schen Krankenhaus führen könnte. Für die Landesgesetze
zur Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftä-
ter, wie sie in Baden-Württemberg, Bayern, Niedersach-
sen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ergangen sind, bleibt
nach der Bejahung der Bundeskompetenz für die Rege-
lung der nachträglichen Anordnung der Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung durch das Bundesverfas-
sungsgericht (BVerfG, a. a. O) kein Raum. Sie waren
ohnehin ungeeignet, einen der vorgeschlagenen bundes-
gesetzlichen Regelung vergleichbaren Schutz der Bevöl-

kerung zu gewährleisten und wurden von den betreffen-
den Landesgesetzgebern nur deswegen geschaffen, da der
Bundesgesetzgeber seine bestehende Gesetzgebungs-
kompetenz bislang nicht wahrgenommen hat.

4. Das geltende Recht bedarf der Änderung, um die aufge-
zeigten Defizite zu beheben. Von der Konzeption der vor-
behaltenen SicherungsverwahrungmussAbstand genom-
men werden. Es muss ermöglicht werden, dass die Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung vorbehaltlos auch
nachträglich, d. h. zwischen Rechtskraft der Verurteilung
und Entlassung aus der Strafhaft angeordnet werden
kann, wenn sich erst nach der Verurteilung während der
Strafhaft ergibt, dass der Täter weiterhin gefährlich ist
und die weiteren Voraussetzungen des § 66 StGB vorlie-
gen. Schon der Umstand, dass das Bundesverfassungsge-
richt die zur Prüfung gestellten Landesgesetze nicht für
nichtig erklärt, sondern ihre weitere Anwendbarkeit bis
zum30. September 2004 angeordnet hat, beweist dieNot-
wendigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung. Das
überragende Interesse der Allgemeinheit an effektivem
Schutz vor bestimmten hochgefährlichen Straftätern hat
es für das Bundesverfassungsgericht unerlässlich ge-
macht, die Fortgeltung der Landesgesetze anzuordnen.
Durch die bundesweit einheitliche Regelung einer nach-
träglichen Sicherungsverwahrung wird dem verfassungs-
rechtlich gebotenen Schutz vor gefährlichen Rückfalltä-
tern effektiv Rechnung getragen.

5. Darüber hinausmuss aber auch eineMöglichkeit geschaf-
fen werden, solche Täter sicher zu verwahren, bei denen
die formellen Voraussetzungen des § 66 StGB noch nicht
vorliegen, die sich aber bereits einmal besonders gravie-
render Straftaten gegen die Person schuldig gemacht ha-
ben und bei denen sich während der Haft zeigt, dass sie
auch nach ihrer Entlassung mit hoher Wahrscheinlichkeit
gleichartige schwerste Delikte begehenwürden. Es ist der
Bevölkerung nicht verständlich zumachen und auch nicht
zuzumuten, dass solche Personen trotz nahezu sicher vor-
herzusehender schwerster Wiederholungstaten auf freien
Fuß gesetzt werden.

6. Da es sich bei der nachträglichen Anordnung der Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung nicht um eine
Modifizierung der ursprünglichen gerichtlichen Ent-
scheidung handelt, sondern um eine selbständige Sank-
tion, muss das Verfahren so ausgestaltet sein, dass es die
angesichts der Schwere des Eingriffs zu fordernden
rechtsstaatlichen Garantien in vollem Umfang verwirk-
licht. Hierzu sieht der Entwurf eine Stärkung des Einflus-
ses des Vollstreckungsgerichts vor. Allein dieses Gericht,
das regelmäßig bereits im Laufe des Vollzugs der Frei-
heitsstrafe mit dem Verurteilten befasst war, kann am
Ende der Strafzeit die Frage sachgerecht beurteilen, ob
nunmehr die Gefährlichkeit des Straftäters seine Unter-
bringung in der Sicherungsverwahrung zwingend erfor-
dert. Die Verpflichtung zur mündlichen Anhörung des
Verurteilten, der Staatsanwaltschaft und der Justizvoll-
zugsanstalt unter Mitwirkung des Verteidigers, die Ver-
pflichtung zur Einholung zweier Sachverständigengut-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 7 – Drucksache 15/2576

achten sowie die übrige Verfahrensgestaltung verschafft
dem Gericht eine möglichst breite und zuverlässige Ent-
scheidungsgrundlage und gewährleistet, dass die Siche-
rungsverwahrung gegen Verurteilte, die ihre Strafe voll
verbüßt haben, nur dann angeordnet wird, wenn die von
ihnen ausgehende Gefahr weiterer Straftaten so groß ist,
dass ihre Entlassung in die Freiheit angesichts des Schutz-
bedürfnisses der Gesellschaft nicht verantwortet werden
kann.

7. Das Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straf-
taten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zurÄnde-
rung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003
(BGBl. I S. 3007), das ab 1. April 2004 in Kraft tritt, ent-
hält in seinen Artikeln 4a und 4b eine Regelung zur Ein-
führung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung für
Heranwachsende, auf die Erwachsenenstrafrecht ange-
wandt wird. Diese Regelung ist unzureichend und daher
aufzuheben.
Eine Vorbehaltssicherungsverwahrung, die sich an
§ 66a StGB anlehnt, aber keine vorbehaltlose Anordnung
gemäß § 66 StGB zulässt, ist inkonsequent und wird dem
Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht gerecht. Es
besteht kein durchgreifender Grund dafür, dass gegenHe-
ranwachsende, bei denen sämtliche Voraussetzungen des
§ 66 StGB vorliegen, Sicherungsverwahrung nicht ange-
ordnet werden kann.
Darüber hinaus ist zur Vermeidung der Fehlbelegung
teuerer Therapieplätze mit ungeeigneten Sexualstraftä-
tern die ersatzlose Streichung von § 106 Abs. 4 JGG
– neu – notwendig.

B. Einzelbegründung
Zu Artikel 1 (Änderung des StGB)
ZuNummer 1 (Inhaltsübersicht)
Folgeänderung wegen Artikel 1 Nr. 2.
ZuNummer 2 (§ 66a)
Bei der Entscheidung über die Unterbringung in der Siche-
rungsverwahrung durch das erkennende Gericht bleiben
wertvolle Erkenntnisse aus dem späteren Strafvollzug natur-
gemäß ausgeblendet. Es besteht das dringende Bedürfnis,
Sicherungsverwahrung anordnen zu können, wenn sich die
Gefährlichkeit erst während des Vollzugs der verhängten
Freiheitsstrafe ergibt. Die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts vom 10. Februar 2004 (2 BvR 834/02, 2 BvR
1588/02) weist diesem Bedürfnis einen so hohen Stellenwert
zu, dass es sogar geeignet ist, die fortdauernde Anwendung
eines aus Gründen fehlender Gesetzgebungskompetenz für
mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärten Landesgesetzes
für eine Übergangszeit zu rechtfertigen.
Im Unterschied zum geltenden Recht ermöglicht es § 66a
StGB-E, Sicherungsverwahrung bis zum Ende des Vollzugs
der verhängten Freiheitsstrafe anzuordnen, sofern sich die
Gefährlichkeit des Verurteilten imVerlaufe des Strafvollzugs
erweist. Die im Strafvollzug gewonnenen Erkenntnisse über
die Gefährlichkeit des Verurteilten können bei der Entschei-
dung über die Anordnung der Sicherungsverwahrung – ab-
weichend von der Regelung des geltenden Rechts in § 66a

Abs. 2 a. F. – bis zum Entlassungszeitpunkt herangezogen
werden. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsver-
wahrung wird für alle Anwendungsfälle des § 66 StGB, und
ohne dass es im Urteil eines diesbezüglichen Vorbehalts be-
darf, ermöglicht. Die Entscheidung über die (nachträgliche)
Anordnung der Sicherungsverwahrung wird nicht dem er-
kennenden Gericht, sondern der Strafvollstreckungskammer
übertragen (dazu unten zu Artikel 4 Nr. 8).
Durch dieMöglichkeit der nachträglichenAnordnung der Si-
cherungsverwahrung wird demVerurteilten ein Anreiz gege-
ben, imVollzugmitzuarbeiten, etwa an therapeutischenMaß-
nahmen teilzunehmen. Die nachträgliche Anordnung der Si-
cherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1 StGB-E setzt voraus,
dass eineGesamtwürdigung des Täters sowie seiner Taten er-
gibt, dass er für die Allgemeinheit gefährlich ist, weil von
ihm erhebliche Straftaten, namentlich solche, durch welche
die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden
oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird
(§ 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB), zu erwarten sind. Hierzu kann auf
die zu § 66 StGB in Rechtsprechung und Literatur entwickel-
ten Grundsätze zurückgegriffen werden. Neben der Entwick-
lung des Verurteilten im Strafvollzug werden bei der auf-
grund umfassender Gesamtwürdigung zu treffenden Gefähr-
lichkeitsprognose vor allem die Anlasstat des Verurteilten,
die (bekannte) prädeliktische Persönlichkeit einschließlich
der (bekannten) Kriminalität, die postdeliktische Persönlich-
keitsentwicklung einschließlich der Perspektiven und Au-
ßenbezüge, zu berücksichtigen sein (vgl. BVerfG, a. a. O.,
S. 83 ff.). Wie schon nach geltendem Recht bei der vorbehal-
tenen Sicherungsverwahrung (§ 66a Abs. 2 Satz 2 a. F.) wird
auch bei der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf das
Merkmal des Hanges als Grundlage der Gefährlichkeit ver-
zichtet. Die Sicherungsverwahrung nach § 66a Abs. 1
StGB-E darf nur dann nachträglich angeordnet werden, wenn
die weiteren (formellen) Voraussetzungen für die Anordnung
(§ 66 Abs. 1 Nr. 1 und 2 sowie § 66 Abs. 2, 3 und 4 StGB)
gegeben sind. Regelungsinhalt des Artikels 1 ist insoweit
also lediglich das Hinausschieben des Prognosezeitpunkts
nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB. Durch die Verweisung auf die
formellen Voraussetzungen für die Anordnung nach § 66
StGB wird sichergestellt, dass diese Voraussetzungen jeden-
falls im Zeitpunkt der nachträglichen Anordnung der Siche-
rungsverwahrung vorliegen müssen.
Die Erfahrung der vergangenen Jahre hat gezeigt, dass es im-
mer wieder – wenn auch glücklicherweise selten – Straftäter
gibt, die schon sehr früh in ihrer „Karriere“ sehr schwerwie-
gende Straftaten begehen und bei denen – noch bevor sie die
von § 66 StGB geforderten formellen Voraussetzungen er-
füllt haben – abzusehen ist, dass sie mit großer Wahrschein-
lichkeit erneut solche schwersten Taten begehen werden.
Wenn sich diese Erwartung erfüllt, ist es der zu Recht empör-
ten Öffentlichkeit kaum verständlich zu machen, dass es das
Strafrecht erfordert, schwerste Wiederholungstaten sehen-
den Auges abzuwarten, bis mit einer dauerhaften Sicherung
des gefährlichen Rechtsbrechers die Bevölkerung geschützt
werden kann. Um diesem augenscheinlichen Missstand zu
begegnen, will es § 66a Abs. 2 StGB-E ermöglichen, bereits
gegen Ersttäter Sicherungsverwahrung anzuordnen, wenn
sich im Vollzug einer hohen Freiheitsstrafe wegen bestimm-
ter Straftaten ergibt, dass der Täter nach seiner Haftentlas-
sung mit hoher Wahrscheinlichkeit gleichartige Taten bege-
hen würde. Der Entwurf sieht davon ab, für diesen Täterkreis

Drucksache 15/2576 – 8 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

durch eine weitere Absenkung der Voraussetzungen des § 66
StGB die Möglichkeit der Anordnung der Sicherungsver-
wahrung durch das erkennende Gericht zu schaffen. Bei Tä-
tern, die erstmals mit einer sehr schwerwiegenden Tat in Er-
scheinung getreten sind, würde sich in der Praxis nicht selten
das Problem ergeben, dass die Beurteilungsbasis im Urteils-
zeitpunkt trotz sorgfältiger Aufklärung des Vorlebens und
psychiatrischer Begutachtung noch zu schmal wäre, um die
sehr schwerwiegende Anordnung der Sicherungsverwah-
rung zu tragen. Deshalb soll für diesen speziellen Täterkreis
generell noch die Entwicklung während des Strafvollzugs in
die Beurteilung einbezogen werden.
Außerdem würde eine Regelung im Rahmen des § 66 StGB
zu einer weiteren Differenzierung in der ohnehin schon sehr
unübersichtlichen Norm führen. Die Neuregelung stellt an
die nachträgliche Sicherungsverwahrung ohne die Voraus-
setzungen des § 66 StGB bewusst hohe Anforderungen. Der
Täter muss sich einer oder mehrerer sehr schwerwiegender
Taten gegen die Person schuldig gemacht haben; Straftaten
gegen andere Rechtsgüter, insbesondere gegen Eigentum
und Vermögen, sollen diesen gravierenden Eingriff in die
Freiheit des Straftäters nicht ermöglichen. Deshalb be-
schränkt sich die Regelung auf Straftaten aus dem Dreizehn-
ten, Sechzehnten und Siebzehnten Abschnitt des Besonderen
Teils des Strafgesetzbuches und einige wenige weitere De-
likte, durch die die Opfer regelmäßig seelisch oder körperlich
schwer geschädigt werden. Dem Grundsatz der Verhältnis-
mäßigkeit wird dadurch Rechnung getragen. Darüber hinaus
muss der Täter zu einer zeitigen Freiheitsstrafe von mindes-
tens vier Jahren verurteilt sein, um das Gewicht der von ihm
bereits ausgegangenen und im Falle vonWiederholungstaten
drohenden Gefährlichkeit zu kennzeichnen. Eine Freiheits-
strafe in dieser Höhe kann eine Einzelstrafe wegen einer
Straftat aus dem genannten Bereich sein. Bei tateinheitlicher
Verurteilung muss die mindestens vier Jahre Freiheitsstrafe
erreichende Strafhöhe wesentlich durch das Delikt aus dem
genannten Bereich geprägt sein. Es kann aber auch eine Ge-
samtstrafe von mindestens vier Jahren sein, wenn alle Taten
den genannten Deliktsbereichen angehören oder wenn sonst
hinreichend sicher festzustellen ist, dass diese Delikte eine
entsprechende Verurteilungshöhe getragen hätten.
Der Entwurf verzichtet darauf, entsprechend § 66 Abs. 1
Nr. 3 StGB zu fordern, dass die Gefährlichkeit des Täters auf
einem Hang zu erheblichen Straftaten beruhen muss. Abge-
sehen davon, dass die eigenständige Bedeutung dieses Tatbe-
standsmerkmals ohnehin strittig ist (vgl. Tröndle/Fischer,
StGB, § 66 Rn. 19), wäre es in der Praxis schwierig, auf der
Grundlage möglicherweise nur einer einzigen Straftat einen
Hang zu Straftaten zu begründen. Es muss ausreichen, dass
sich aus der Straftat oder den Straftaten, die § 66a Abs. 2
StGB-E voraussetzt, aus dem gegebenenfalls auch sonst kri-
minellen Vorleben des Täters, aus seinemVerhalten im Straf-
vollzug und aus weiteren Umständen belegen lässt, dass der
Verurteilte nach seiner Haftentlassung Taten der in § 66a
Abs. 2 StGB-E genannten Art begehen würde, durch die die
Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt würden.
Dabei begnügt sich der Entwurf nicht mit einer „normalen“
Wahrscheinlichkeit, die im Rahmen der sonstigen Vorausset-
zungen des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB für die Annahme der Ge-
fährlichkeit vorauszusetzen ist. Vielmehr wird ein erhöhter
Grad der Wahrscheinlichkeit gefordert. Die Ausgestaltung
der Vorschrift in beiden Absätzen als Kann-Vorschrift er-

möglicht es, die gesamten Umstände des Einzelfalls in die
Entscheidung mit einzubeziehen und hierbei insbesondere
auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (§ 62 StGB) Rech-
nung zu tragen. Nur wenn mildere Mittel nicht ausreichen,
um der Gefahr der Begehung erheblicher Straftaten wirksam
zu begegnen, kommt die Unterbringung in der Sicherungs-
verwahrung in Betracht. Im Hinblick darauf, dass gegen
Ende des Vollzugs der Freiheitsstrafe die Möglichkeit der
HeranziehungmildererMaßnahmen regelmäßig besser beur-
teilt werden kann, beschränkt sich der Entwurf auf die Mög-
lichkeit der fakultativen Anordnung der Sicherungsverwah-
rung. Bei der nachträglich angeordneten Sicherungsverwah-
rung handelt es sich um eine vollwertige Sicherungsmaß-
nahme, die der durch das erkennende Gericht angeordneten
Sicherungsverwahrung rechtlich gleichsteht. Ihr Vollzug be-
stimmt sich nach den bereits bisher geltenden Regelungen.
Soweit in anderen Bestimmungen auf die Anordnung der
Sicherungsverwahrung im Rahmen der Verurteilung abge-
stellt wird, versteht es sich von selbst, dass hiervon künftig
auch eine nachträglich im Beschlusswege angeordnete
Sicherungsverwahrung umfasst ist. Einer besonderen gesetz-
lichen Regelung bedarf es insoweit nicht.
ZuArtikel 2 (Änderung des JGG)
Das in § 106Abs. 2 Satz 1 JGG enthalteneVerbot der Anord-
nung von Sicherungsverwahrung gegen Heranwachsende
auch bei Anwendung des allgemeinen Strafrechts hat sich
nicht bewährt. In der Praxis treten zwar selten, aber doch im-
mer wieder Fälle auf, in denen heranwachsende Täter bereits
schwerste oder eine so große Zahl von schweren Straftaten
begangen haben, dass von gravierender Gefährlichkeit für
die Allgemeinheit ausgegangen werden muss. Es ist nicht
einzusehen, dass das Gesetz die Anordnung von Sicherungs-
verwahrung bei einem Heranwachsenden ausschließt, bei
demdieVoraussetzungen des Erwachsenenstrafrechts vorlie-
gen. Der Gedanke, dass auf die Sicherungsverwahrung bei
einem frühkriminellen Hangtäter nicht verzichtet werden
kann (vgl. BGH, NStZ 1989, 67; NStZ-RR 2001, 13), trifft
auch auf ihn zu. Dass dem Ausnahmecharakter derartiger
Konstellationen durch eine besonders sorgfältigeGefährlich-
keitsprognose Rechnung zu tragen ist (vgl. BGH a. a. O.),
versteht sich von selbst.
Die ab 1. April 2004 durch das Gesetz zur Änderung der Vor-
schriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestim-
mung und zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. De-
zember 2003 normierte Lösung einer Vorbehaltsicherung,
die sich an § 66a StGB anlehnt, aber keine vorbehaltlose An-
ordnung gemäß § 66 StGB zulässt, ist inkonsequent und wird
dem Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung nicht gerecht. Es
besteht kein durchgreifender Grund dafür, dass gegen Heran-
wachsende, bei denen sämtliche Voraussetzungen des § 66
StGB vorliegen, (vorbehaltlose) Sicherungsverwahrung
nicht angeordnet werden kann. Die außerdem in Kraft tre-
tende Begrenzung der Möglichkeit der Anordnung vorbehal-
tener Sicherungsverwahrung auf Fälle, in denen der Verurtei-
lung eine der in § 66 Abs. 3 Satz 1 StGB genannten Strafta-
ten zugrunde liegt, darüber hinaus das Opfer schwer geschä-
digt oder gefährdet worden ist, die Anlasstat mit einer
Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren geahndet wurde
und sämtliche dieser Voraussetzungen auch hinsichtlich der
erforderlichen Vortat(en) vorliegen, schränkt den Anwen-
dungsbereich so massiv ein, dass damit nahezu kein Sicher-

Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode – 9 – Drucksache 15/2576

heitsgewinn zu erzielen ist. Unverständlich ist auch, dass
Sicherungsverwahrung nur angeordnet werden können soll,
wenn eine der Anlasstaten nach Inkrafttreten des Gesetzes
begangen wird.
Notwendig ist die ersatzlose Streichung von § 106 Abs. 4
JGG, wie er in dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften
über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung und
zur Änderung anderer Vorschriften vom 27. Dezember 2003
vorgesehen ist, wonach das Gericht anordnen kann, dass be-
reits die Strafe in einer sozialtherapeutischen Anstalt zu voll-
ziehen ist. Gegen eine solche Regelung spricht insbesondere,
dass die Gerichte bei der Auswahl therapiegeeigneter Sexual-
straftäter in der kurzen Zeitspanne einer Hauptverhandlung
in der Regel überfordert wären. Die Belegung teurer Thera-
pieplätze mit ungeeigneten Sexualstraftätern und eine Ver-
geudung wichtiger Behandlungsressourcen wären die Folge.
Deshalb ist es weitaus sachgerechter, die Therapiegeeignet-
heit eines Sexualstraftäters nach einer gewissen Beobach-
tungszeit im Justizvollzug durch erfahrene Vollzugsthera-
peuten beurteilen zu lassen. Auf diese Weise wird sicherge-
stellt, dass eine Therapie auch zumErfolg führt. Darüber hin-
aus wäre den Justizvollzugsanstalten die Entscheidung über
die Rückverlegung von therapieunwilligen und therapiere-
sistenten Gefangenen entzogen. Bis zur Herbeiführung einer
gerichtlichen Entscheidung müsste der Gefangene weiter in
der sozialtherapeutischen Einrichtung verbleiben, mit ent-
sprechend negativen Auswirkungen auf das Behandlungs-
klima für die übrigen Gefangenen. Letztlich sind auch keine
Gründe dafür ersichtlich, warum hier eine andere Beurtei-
lung als bei Erwachsenen (vgl. § 9 StVollzG) geboten sein
soll. Die Verlegung in die Sozialtherapie kann auch während
des Vollzugs der Jugendstrafe erfolgen.
ZuArtikel 3 (Änderung des Gesetzes zur Änderung

der Vorschriften über die Straftaten ge-
gen die sexuelle Selbstbestimmung und
zur Änderung anderer Vorschriften)

Es handelt sich um eine Folgeänderung zu Artikel 2 des Ent-
wurfs. Durch ersatzlose Streichung einer lediglich vorbehal-
tenen Sicherungsverwahrung wird somit die nachträgliche
Anordnung einer Sicherungsverwahrung gegen Heranwach-
sende bei Anwendung von Erwachsenenstrafrecht ermög-
licht.
ZuArtikel 4 (Änderung der StPO)
ZuNummer 1 (Inhaltsübersicht)
Die Änderung folgt aus Artikel 4 Nr. 6.
Zu den Nummern 2 bis 6 (§ 246a Satz 1, § 260 Abs. 4 Satz

4, § 267 Abs. 6 Satz 1, § 268d,
§ 275a – Siebenter Abschnitt im
Zweiten Buch –)

Es handelt sich um Folgeänderungen aufgrund der Neufas-
sung des § 66a StGB (Artikel 1 Nr. 2) und der Verfahrensre-
gelung des § 456b (Nummer 8).
ZuNummer 7 (§ 454 Abs. 2)
Die Regelung stellt den Rechtszustand vor dem Inkrafttreten
des Gesetzes zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungs-

verwahrung wieder her. Die bisherige, ohne Notwendigkeit
geänderte Rechtslage hatte sich bewährt.
ZuNummer 8 (§ 456b)
§ 456b Abs. 1 StPO-E sieht, in Verbindung mit § 462a
StPO-E, für die Entscheidung über die nachträgliche Anord-
nung der Sicherungsverwahrung einen Beschluss der Straf-
vollstreckungskammer vor. Maßgebend hierfür ist die Über-
legung, dass diewährend derVerbüßung der verhängten Frei-
heitsstrafe gewonnenen Erfahrungen herangezogen werden
sollen. Diese Überlegung liegt auch dem geltenden Recht zu
Grunde, das die Entscheidungen nach den §§ 67c, 67d und
67e StGB der Strafvollstreckungskammer zuweist (§ 463
Abs. 3, §§ 454 und 462a Abs. 1 StPO). Häufig wird dieses
Gericht bereits während des Vollzugs der Freiheitsstrafe mit
dem Verurteilten befasst gewesen sein und daher in besonde-
rem Maße über die notwendige Sachkunde für die Beurtei-
lung der Frage verfügen, ob die Gefährlichkeit des Verurteil-
ten seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zwin-
gend erfordert oder ob etwamildereMaßnahmen ausreichen,
um die Gefahr weiterer erheblicher Straftaten auszuschalten.
Die Entscheidung soll von dermit drei Berufsrichtern besetz-
ten Strafvollstreckungskammer getroffen werden. Insoweit
wird auf die Begründung zu Artikel 3 verwiesen.
Das Gericht muss im Verfahren über die nachträgliche An-
ordnung der Sicherungsverwahrung alle ihm möglichen Er-
kenntnisquellen für die Beurteilung der Gefährlichkeit des
Verurteilten ausschöpfen. Die in § 456b Abs. 2 StPO-E vor-
gesehene Verpflichtung zur mündlichen Anhörung des Ver-
urteilten, der Staatsanwaltschaft und der Justizvollzugsan-
stalt unter Mitwirkung des Verteidigers verschafft dem Ge-
richt eine – der Schwere des Eingriffs angemessene – mög-
lichst breite und sichere Tatsachengrundlage für seine
Entscheidung. Gericht und Staatsanwaltschaft sollen sich
einen persönlichen Eindruck von dem Verurteilten verschaf-
fen, um die von ihm ausgehende Gefahr möglichst zuverläs-
sig einschätzen zu können. Nach § 456b Abs. 3 StPO-E holt
das Gericht Gutachten zweier Sachverständigen über den
Verurteilten ein, wenn es die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung erwägt. Beide Gutachter sollen im
Rahmen des Strafvollzuges nicht mit der Behandlung des
Verurteilten befasst gewesen sein. Darüber hinaus kann nur
einer derGutachter in der Strafvollzugsanstalt, in der derVer-
urteilte inhaftiert ist, regelmäßig tätig gewesen sein. Diese
Erfordernisse dienen dazu, nachteilige Auswirkungen eines
„Näheverhältnisses“ zu vermeiden, die auftreten können,
wenn der Therapeut des Verurteilten im Strafvollzug zum
Gutachter bestellt wird. Zwei fundiert begründete (psychia-
trische und/oder psychologische) Gutachten zur Gefährlich-
keitsprognose ermöglichen es demGericht, die von demVer-
urteilten ausgehende Gefahr auf sicherer Grundlage beurtei-
len zu können. Mit der vorgesehenen mündlichen Erörterung
des Gutachtens in Anwesenheit der sonstigen Verfahrensbe-
teiligten (Staatsanwalt, Verurteilter, dessen Verteidiger) und
einem gesetzlich verankerten Frage- und Erklärungsrecht der
an der Anhörung beteiligten Personen schafft der Entwurf
vergleichbare Verfahrensgarantien wie bei der Anordnung
der Sicherungsverwahrung im Erkenntnisverfahren (§ 246a
StPO). § 456b Abs. 4 StPO-E sieht gegen den Beschluss der
Strafvollstreckungskammer, durch den die Unterbringung in
der Sicherungsverwahrung nachträglich angeordnet oder
eine solche Maßnahme abgelehnt wird, das Rechtsmittel der

Drucksache 15/2576 – 10 – Deutscher Bundestag – 15. Wahlperiode

sofortigen Beschwerde vor. Beschwerdeberechtigt sind die
Staatsanwaltschaft und der Verurteilte. Hat die Strafvollstre-
ckungskammer bei Strafende zwar mit der Prüfung der nach-
träglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung begonnen,
liegt aber noch keine rechtskräftige Entscheidung vor, so sind
nach § 456b Abs. 5 StPO-E Sicherungsmaßnahmen entspre-
chend § 453c Abs. 1 StPO zulässig, sofern hinreichende
Gründe für die Annahme vorhanden sind, dass das Gericht
die Sicherungsverwahrung anordnen wird. Zweck der Siche-
rungshaft – ein der Untersuchungshaft ähnliches Rechtsinsti-
tut – ist die Sicherung der späteren Unterbringung des Verur-
teilten in der Sicherungsverwahrung und die Verhinderung
einer etwaigen Flucht vor Rechtskraft der Entscheidung über
die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung.
Die Vorschriften des § 453c Abs. 2 Satz 2 StPO sind sinnge-
mäß anzuwenden.

ZuNummer 9 (§ 462a Abs. 1)
Diese Vorschrift legt die Zuständigkeit der Strafvollstre-
ckungskammer fest (vgl. Begründung zu Nummer 8).

ZuArtikel 5 (§ 78b Abs. 1 Nr. 1 GVG)
Die Entscheidung über die nachträgliche Anordnung der
Sicherungsverwahrung soll durch die mit drei Richtern be-
setzte Strafvollstreckungskammer getroffen werden. Es er-
scheint angesichts der Bedeutung der zu treffenden Progno-
seentscheidung sachgerecht, dass die Erfahrung von drei
Richtern in diese Entscheidung eingebracht wird.

ZuArtikel 6 (Artikel 1a EGStGB)
Im Interesse eines wirksamen Schutzes der Bevölkerung vor
gefährlichen Straftätern ist es geboten, die vom Entwurf vor-
geschlagenen Verbesserungen bei der Sicherungsverwah-
rung ohne Einschränkungen im gesamten Bundesgebiet in

Kraft treten zu lassen. Artikel 1a EGStGB ist deshalb aufzu-
heben.

ZuArtikel 7 (BZRG)
Es handelt sich um Folgeänderungen aufgrund der Neufas-
sung des § 66a StGB durch Artikel 1 Nr. 2.

Zu den Artikeln 8 und 9 (GKG; BRAGO)
Die Regelung trägt der veränderten Konzeption des Verfah-
rens zur Anordnung der nachträglichen statt der vorbehalte-
nen Sicherungsverwahrung durch eine veränderte systemati-
sche Einordnung der Gebührentatbestände Rechnung. Ange-
sichts der unveränderten Bedeutung des Verfahrens bleiben
die Gebührentatbestände in ihrem materiellen Gehalt unver-
ändert.

ZuArtikel 10 (Übergangsregelung)
Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung
vom 10. Februar 2004 (a. a. O.) angeordnet, dass die Landes-
gesetze zur nachträglichen Sicherungsverwahrung nur bis
zum 30. September 2004 anwendbar bleiben. Die Über-
gangsregelung stellt sicher, dass die auf landesgesetzlicher
Grundlage erfolgten Unterbringungen gefährlicher Straftäter
ohne Bruch fortgesetzt werden können, wenn die Vorausset-
zungen der vorgeschlagenen bundesgesetzlichen Regelung
erfüllt sind. Mit Inkrafttreten der bundesgesetzlichen Rege-
lungwird ein erneutes Anordnungsverfahren notwendig. Das
Verfahren nach § 456b Abs. 1 bis 3 StPO muss bis zum
30. September 2004 abgeschlossen sein.

ZuArtikel 11 (Inkrafttreten)
Die Vorschrift regelt das Inkrafttreten des Gesetzes.

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